15. Entschuldigung bei einer Toten
Unterkirnach hatte den Vorteil, dass es nicht besonders groß war und man sich gut orientieren konnte. Und Riesle wiederum den Vorteil, dass er beim Redaktionsleiter nach seiner Exklusivgeschichte einen Stein im Brett hatte – zumindest so lange, bis durchdringen würde, dass der Opfername falsch war …
Auch wenn sich der Journalist bis auf Weiteres nicht mit den Nacktbadern herumschlagen musste, war seine Laune doch getrübt. Bald würden in der Redaktion wohl die ersten Anrufe wegen des falschen Namens eingehen. Denn Winterhalter hatte tatsächlich nicht geblufft.
Riesle hatte gleich nach dem Skypen mit Hubertus die Nummer der scheinbar Verstorbenen angerufen, dort tatsächlich die durchaus lebendige Frau Kollmann erreicht und sich in aller Form entschuldigt.
Gut war, dass diese offenbar noch gar nichts davon gewusst hatte und somit überrumpelt werden konnte.
Der Journalist kündigte also einen sofortigen Wiedergutmachungsbesuch bei Frau Kollmann an – in der Hoffnung, dort mehr zu erfahren. Denn irgendwie musste sie ja mit der Verstorbenen in Verbindung stehen.
Einen ernsthaften Versuch, zu verifizieren, ob es sich bei dem Geschehen am Campingplatzstrand tatsächlich um einen Mord handelte, unternahm er nicht. Für ihn war das ein Mord. Punkt. Oder besser: Ausrufezeichen!
Und sei es nur, weil er einen solchen Mord in dieser nachrichtenarmen Zeit dringend brauchte.
Außerdem, so versuchte Riesle sich nun vom Gedanken an den »worst case« abzulenken, war ja spätestens durch die Tatsache, dass irgendetwas mit dem Ausweis des Opfers nicht gestimmt hatte, ein Mysterium gegeben. Da steckte mehr dahinter.
Ein schnöder Hitzschlag? Nein!
Auf dem Rücksitz des Kadetts drohte die eine oder andere Blüte des eben besorgten Supermarkt-Blumenstraußes abzuknicken. Wieder hatte Riesle beide Fenster bis zum Anschlag heruntergelassen. Im Schwarzwald achtundzwanzig Grad, da mussten sie in Italien doch mindestens vierzig haben.
»Dieses Missverständnis tut uns schrecklich leid. Wir werden das in der morgigen Ausgabe richtigstellen«, flötete Riesle, als er vor Frau Kollmanns Tür stand. »Vor drei Monaten ist Ihnen also der Ausweis gestohlen worden?«
Frau Kollmann schien bestrebt, ihn möglichst schnell wieder loszuwerden. Immerhin zeigte sie ihren Zorn nicht allzu offen.
Eine Verwechslung mit dem Passbild war tatsächlich nur schwer möglich. Beate Kollmann mochte zwar ein ähnliches Alter wie die Tote haben, sie war jedoch nicht schlank, dunkelhaarig und feingliedrig, sondern hatte rote Haare und neigte zu Übergewicht. Eine im weitesten Sinne gepflegte Erscheinung stellte sie dennoch dar, auch wenn ihr Haus nicht unbedingt zu den Schmuckstücken Unterkirnachs zählte. Das malerische Dorf mit seiner charakteristischen Mühle im Ortskern war inmitten Schwarzwald-typischer Landschaft gelegen, aber nur zehn Autominuten von Villingen entfernt.
»Kannten Sie denn die abgebildete Frau? Das müsste ja dann die Diebin Ihres Ausweises sein oder zumindest eine Komplizin.«
»Ich habe das Bild noch nicht gesehen.«
»Haben Sie denn nicht den Kurier abonniert? Schwerer Fehler«, gab sich Riesle plump, schwenkte aber gerade noch um.
»Besitzen Sie denn einen Internetzugang?«
»Natürlich, aber mein Laptop ist kaputt«, brummte Frau Kollmann. Riesle dachte kurz darüber nach, dass WLAN heutzutage quasi eine Selbstverständlichkeit war, das Abonnement einer Tageszeitung aber keineswegs mehr.
Drei Minuten später saß er neben der widerstrebenden Frau Kollmann in deren Wohnzimmer und hatte sein iPad auf den klobigen Tisch gelegt.
Frau Kollmann lebte allein, vermutete er.
Das Zimmer war aufgeräumt, hatte aber etwas Seelenloses.
»Bei welcher Gelegenheit ist Ihnen der Ausweis denn gestohlen worden?«, fragte Riesle.
»Es könnte auf der Südwest-Messe gewesen sein«, antwortete die Frau.
»Haben Sie denn Anzeige erstattet?«
Frau Kollmann schaute ihn zerstreut an. »Nein, ich habe noch einen Reisepass, sodass der Verlust zunächst nicht so schlimm war.«
Sie rückte ihre Brille zurecht. »Und es könnte auch sein, dass ich ihn einfach verloren habe.«
»Hm«, machte Riesle und klickte blitzschnell die Kurier-Homepage an. »Schauen Sie hier!«
Er vergrößerte das Bild so, dass man die Bildunterschrift, in der auf den »grauenvollen Tod der Beate Kollmann« hingewiesen wurde, nicht sehen konnte. »Kommt Ihnen diese Frau bekannt vor?«
Der Blumenstrauß lag nach wie vor auf dem Tisch – Frau Kollmann machte fast den Eindruck, als hätte sie gar keine Vase, weil sie sowieso nie Blumen bekam …
Sie schaute das Bild an.
»Eine attraktive Frau«, meinte Riesle.
Er wurde von einem Klingeln unterbrochen. Ein durchdringendes Geräusch, fast wie ein Alarmsignal.
»Entschuldigung«, meinte Frau Kollmann und ging zur Tür, wo ein Mann vom Versanddienst die Lieferung einer Waschmaschine ankündigte.
Riesle nutzte die Gelegenheit, sich im Zimmer umzuschauen. Im Schnüffeln verfügte er über eine gewisse Erfahrung – es ging ganz schnell, gerade in dieser eher spartanisch eingerichteten Wohnung.
»Sind Sie denn nicht zu zweit?«, fragte Frau Kollmann den Mann vom Lieferdienst an der Haustür.
Binnen weniger Sekunden hatte Riesle zwei Fotoalben in einem Regal erspäht und sie binnen weiterer Sekunden durchgeblättert. Als Journalist hatte er die Fähigkeit, Dinge innerhalb kürzester Zeit zu erfassen.
Frau Kollmann diskutierte derweil, dass sie ja wohl kaum helfen könne, das Ungetüm in die Waschküche zu tragen.
Es waren nicht viele Bilder, aber doch etliche unterschiedliche Menschen darauf zu sehen. Auch ein paar Partyschnappschüsse, was darauf hindeutete, dass Frau Kollmann vielleicht doch nicht so ungesellig war, wie Riesle vermutet hatte. Auf einigen Bildern wirkte sie deutlich schlanker – man hätte ihr so durchaus zutrauen können, eine gelegentlich tragende Rolle im Nachtleben gespielt zu haben.
Da stutzte Riesle. Auf drei Bildern war dieselbe Person zu sehen. Zweimal mit Brille, einmal ohne.
Die Person, deren Passbild er als Schwarz-Weiß-Foto von dem italienischen Campingplatz gemailt bekommen hatte.
Die Frau wirkte lebenslustig, und das auf dem aktuellen Passbild dunkle Haar war hier blond und wesentlich kürzer. Nur auf einem der Schnappschüsse, dem letzten, hatte sie eine ähnliche Haarfarbe wie auf dem Passfoto.
Schritte näherten sich. Riesle gelang es gerade noch, die Alben wieder in das Regal zu bugsieren.
Frau Kollmann musterte ihn und fragte dann: »Entschuldigung, wären Sie bitte so freundlich und könnten beim Transport meiner neuen Waschmaschine in den Keller helfen? Ich bezahle Sie natürlich auch dafür.«
Riesle ging auf sie zu. »Aber nicht doch. Es ist mir eine Ehre.«
Das war es ihm nicht mehr, als er einige Minuten später nass geschwitzt wieder im Erdgeschoss stand.
»Und?«, keuchte er, während er auf das iPad zeigte: »Kennen Sie die Frau?«
Frau Kollmann schaute ihn ausdruckslos an, rückte noch einmal ihre Brille zurecht und sagte dann: »Es tut mir leid. Ich habe sie noch nie gesehen.«