26. St. Gotthard
Didi Bäuerle schaute nervös zu Klaus Riesle hinüber. »Soll ich vielleicht doch mal ans Steuer?«
Es war schon beeindruckend, wie der Journalist gleichzeitig den Wagen steuerte, mit der einen Hand an seinem Handy herumhantierte und mit der anderen Schweizer »Nugatstängli« aus dem Silberpapier pulte und sich in den Mund schob. Die Stängli liebte er seit seiner Kindheit, als er mit seinen Eltern in den Sommerferien immer wieder die Schweiz in Richtung Mittelmeer durchquert hatte. Früher waren sie allerdings streng rationiert gewesen. Diesmal hatte sich Riesle am ersten Rasthof nach der Grenze gleich mit zwei großen Packungen eingedeckt.
Es war eine lange Fahrt, und die Schokolade beruhigte seine Nerven etwas.
Zumal mehrere neuerliche Versuche, Beate Kollmann telefonisch zu erreichen, erfolglos geblieben waren. Was wusste die Zeugin aus Unterkirnach? Sie kannte Elena – aber war sie mit ihr anschaffen gegangen? Und wo war sie jetzt?
Auch der Versuch, die Schwarzwaldmarie telefonisch zur Zwangsprostitution im Schwarzwald-Baar-Kreis und einer möglichen Verwicklung der Damen Kollmann und Ridescu zu befragen, war zum Scheitern verurteilt gewesen.
»Herr Riesle, vor Ihnen bin ich von allen Seiten gewarnt worden: Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber dazu krieget Sie von mir keinen Kommentar«, hatte die Kripobeamtin gesagt und aufgelegt.
Nun hatte er seinen neuesten Artikel eben ohne diese Informationen abgesetzt – dafür aber durch ein paar Spekulationen zur Zwangsprostitution, in die das vermeintliche Mordopfer verwickelt gewesen sein könnte, ergänzt. Schließlich war in Italien Prostitution strengstens verboten. Riesle hatte diese Tatsache dankbar mit dem Fall Elena verknüpft, obwohl er zugeben musste, dass eine Zwangsprostituierte auf einem Familiencampingplatz doch etwas dick aufgetragen war. Aber im Dickauftragen war Riesle eben gut.
Die Vor-Ort-Recherche in Italien duldete auf jeden Fall keinen Aufschub mehr. War die Leiche verbrannt, war es der Fall auch. Und das würde bedeuten: keine Geschichte.
Riesle überlegte weiter. Vielleicht war Beate Kollmann, die er nun schon fünf- oder sechsmal vergeblich versucht hatte zu erreichen, etwas zugestoßen. Nicht mal die Nachbarn wussten etwas. Das würde dann mindestens noch für eine weitere Geschichte reichen. Pech für Beate Kollmann, gut für Riesle.
In solchen Kategorien dachte er mittlerweile.
Dann wandte er sich an Didi, dem er noch immer eine Antwort schuldete: »Geht schon«, mampfte er und verteidigte so das Steuer. Er schaute auf die Uhr und war nun wenigstens im Hinblick auf das Vorankommen in Richtung Italien gut gelaunt. »Wenn das so weiterläuft, sind wir vor zweiundzwanzig Uhr auf dem Campingplatz. Das wird eine schöne Überraschung für die ganze Bande.«
»Wenn du so weiterrast, gibt’s für dich obendrauf noch eine böse Überraschung bei deiner Rückkehr nach Hause. Dann kriegst du noch mehr Post von der Schweizer Polizei«, ermahnte ihn Bäuerle. Riesle war bereits kurz nach der Grenze in eine der berüchtigten Schweizer Radarfallen getappt. »Bei der letzten warst du sicher dreißig Stundenkilometer zu schnell. Das wird teuer, Klaus. Mehrere Hundert Franken. Die Schweizer greifen sehr gerne tief in deine Geldbörse.«
»Auch in deine. Klar ist ja wohl, dass wir halbe-halbe machen«, grinste Riesle und beschleunigte den Wagen weiter unbeeindruckt in Richtung St. Gotthard.
»Was hast du jetzt eigentlich dem Dekan gesagt, warum du so schnell Urlaub nehmen musstest?«, wollte er dann wissen.
Bäuerle zögerte und murmelte etwas.
»Wie bitte?«
Er druckste herum, dann meinte er: »Ich habe gesagt, Maxi sei schwer krank, und ich müsse ihn in Italien abholen …«
Riesle lachte gehässig. »Einen Pfarrer anlügen – dafür kommst du in die Hölle!«
Bäuerle grinste schief. »Da bin ich schon – nämlich in diesem Wagen mit dir am Steuer.«
Das herrliche Alpenpanorama, das Richtung Süden immer schroffer wurde, beachteten die beiden kaum.
Zwanzig Kilometer weiter bekam Riesles Laune einen herben Dämpfer, denn sein Zeitplan war durchkreuzt.
»Siebzehn Kilometer Stau vor dem Gotthard-Tunnel. Verdammt! Das kostet uns mindestens zwei Stunden. Wofür zahlen wir die teure Autobahngebühr, frag ich mich da. Und wir Deutschen lassen die alle schön umsonst auf unseren Straßen rumgurken«, kam Klaus zumindest verbal wieder in Fahrt und schob sich zur Beruhigung ein weiteres Stängli in den Mund. »Immerhin: Schokolade machen können sie.«
»Du hättest wohl vorher besser den Verkehrsfunk abgehört, als ständig mit dem Handy und der Schokolade herumzuhantieren«, kritisierte Bäuerle.
Klaus ignorierte den Einwand seines Sozius. »Hallo Chef«, rief er stattdessen ins Handy. Es war höchste Zeit, sich die Auslandsrecherche absegnen zu lassen. »Melde mich ab zum Sondereinsatz Lido. Schon im Abmarsch begriffen in Richtung Italien.« Riesle setzte wieder mal auf die bewährte Überrumpelungstaktik. Mit der militärischen Sprache glaubte er, den richtigen Ton zu treffen und somit nachträglich Zustimmung für seine Aktion zu finden.
Die Antwort des Redaktionsleiters kam ebenso im Kasernenhofton:
»Wollen Sie mich verarschen? Und wer macht jetzt hier die Arbeit?«
Sogar Bäuerle konnte gut mithören.
»Okay, okay«, wurde Riesle nun kleinlauter. »Ich räume gerne ein, dass meine Handlungsweise vielleicht etwas eigenmächtig war. Aber ich sage Ihnen, Chef, das ist eine brandheiße Story. Es eilt wirklich! Gefahr im Verzug! Und es macht sich für unser Blatt doch gut, wenn wir direkt von dort berichten. Von unserem Auslandskorrespondenten Klaus …«
»Wir sind nicht die Zeit«, fiel der Redaktionsleiter ihm blaffend ins Wort und drohte mit einer Abmahnung.
Vielleicht hätte Riesle besser auch etwas von einem kranken Kind faseln sollen. Aber das wäre dem Chef sicher genauso herzlich egal gewesen. Riesle bot schließlich sogar an, einen Teil seines Jahresurlaubs für die Aktion zu opfern, um dann entsetzt ins Telefon zu rufen:
»Was? Unbezahlten Sonderurlaub? Chef, das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein!«
Kurz darauf hatte er sich etwas beruhigt und einen Deal mit seinem Redaktionsleiter gemacht. Sollte Riesle tatsächlich den richtigen Riecher beweisen, ein Mord vorliegen und er entsprechend gute Geschichten vom italienischen Campingplatz liefern, deren Beurteilung natürlich ausschließlich dem Redaktionsleiter oblag, könnte er dafür bezahlten Urlaub nehmen. Sollte er jedoch danebenliegen, würde es auf unbezahlten Sonderurlaub hinauslaufen. Und zusätzlich müsste er ein Jahr lang die Terminvorschau der Vereine machen.
»Und die Spesen?«, jammerte Riesle noch vergeblich ins Telefon.
Doch diese Frage ignorierte der Chef einfach: »In zwei Tagen wieder hier. Sonst werden Sie ausgemustert!«
Riesle stand gewaltig unter Druck: Er hatte erklärt, nicht nur zwei, drei Titelgeschichten zum rätselhaften Mord zu generieren, sondern auch eine Serie über Zwangsprostitution im Landkreis und deren Auswirkungen sowie eine weitere Serie über die Urlaubsfreuden der Schwarzwälder, die sich alle auf diesem italienischen Zeltplatz trafen. Das, so hatte Klaus seinem Chef erklärt, würde bei den Abonnenten des Kurier besonders gut ankommen, weil es zeige, wie sehr man sich für die Leser interessiere. Und schließlich müsse man um jeden einzelnen kämpfen.
Kämpfen, das war der Terminus, den der Chef verstand. Und so hatte er nach langem Hin und Her verfügt, dass ein Praktikant Riesles Aufgaben in der Redaktion übernehmen würde. Für zwei Tage. Am dritten Tag, so hatte er laut überlegt, würde er den preiswerten, aber engagierten Praktikanten zu einem weitaus niedrigeren Gehalt als dem Riesles fest einstellen – und Klaus nach drei Abmahnungen feuern. Gründe dafür fänden sich genug …
»Was? Wo bist du? Am Gotthard?«, rief kurz danach Hubertus Hummel durchs Handy. »Klaus, du spinnst ja! Und das wird Kommissar Winterhalter natürlich überhaupt nicht gefallen.«
»Tolle Begrüßung, Mann! Von meinem ehemals besten Freund hätte ich da schon was anderes erwartet. Du scheinst ja mittlerweile nur noch gemeinsame Sache mit diesem Winterhalter zu machen. Ein bisschen hättest du dich ja schon über meine Ankunft freuen können«, schimpfte Klaus. »Übrigens habe ich auch eine Überraschung für euch dabei.«
Die Überraschung saß auf dem Beifahrersitz, schnaufte schwer und döste vor sich hin. Didi hatte die Gunst der Staustunden genutzt. Während einer rasanten Autofahrt mit Riesle wäre an ein entspanntes Schläfchen nicht zu denken gewesen.
»Hör mal, Hummel«, setzte Riesle seine Verbalattacke fort. »Ich hab ein paar brandheiße Informationen für euch. Die werde ich aber erst rausrücken, wenn ich mit dir und diesem Hinterwäldlerkommissar ein Abkommen habe. Und das heißt: Informationsaustausch. Hörst du, Hummel. A u s t a u s c h«, sprach er das Wort langsam und gedehnt.
»Klaus«, versuchte Hummel zu beschwichtigen. »Wenn wir den Fall lösen, bekommst du alle Informationen, die du brauchst. Du solltest aber besser umdrehen. Du kannst hier nichts ausrichten. Und Winterhalter ist nach deinem letzten Artikel nicht gerade gut auf dich zu sprechen.«
Hubertus fühlte sich unwohl in seiner Rolle. Einerseits freute er sich über die Zusammenarbeit mit Winterhalter, den er für einen sehr guten Kriminalisten, einen angenehmen Menschen und vor allem für einen bodenständigen Schwarzwälder Landsmann hielt. Andererseits hatte er Klaus gegenüber ein schlechtes Gewissen.
»Umdrehen, ha, ha! Dass ich nicht lache. Ein schlechter Witz. Abgesehen davon, dass ich gerade auf der Autobahn in einem scheiß Stau stehe und nicht umdrehen kann: Es kommt nicht infrage, dass ich dir und diesem Bauernkommissar die Lösung des Falls allein überlasse. Basta!«
Diesmal beendete Riesle die Verbindung.