Kapitel 2: Einführung – Was ist Technische Analyse?
Zu Beginn des Buches sind Ihnen einige massenpsychologische Phänomene vorgestellt worden, die wiederum auf einfachen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens beruhen. Die Angst des Anlegers, nicht dabei zu sein, die Gier nach Geld und Ruhm, die Euphorie nach langfristigen Aufwärtstrends und Ansteckungseffekte der Massen als auch die Panik, Geld zu verlieren, sind die stärksten Triebfedern, die zu Blasen und tiefen Kursstürzen an den Börsen führen. Die Technische Analyse leitet aus diesem zutiefst menschlichen Verhalten zwei wesentliche Grundannahmen ab.
  1. Kurse bewegen sich in Trends! Zuallererst geht die Technische Analyse davon aus, dass sich Aktienkurse grundsätzlich in Trends bewegen (basierend auf massenpsychologischen Ansteckungseffekten).
  2. Chartmuster und deren Folgen wiederholen sich! Die zweite Grundannahme der Technischen Analyse geht von der Annahme aus, dass sich menschliche Entscheidungsprozesse bei einzelnen Kauf- und Verkaufsentscheidungen nicht verändern und sich als Verhaltensmuster in Kursmustern mit stets gleichen Folgen widerspiegeln. Bestimmte Kursbewegungen wiederholen sich so auf fast gleiche Weise wie in der Vergangenheit.
Bullen und Bären bestimmen den Kurs
Weitere Annahmen der Technischen Analyse sind:
  1. Kurse werden grundsätzlich von Angebot und Nachfrage bestimmt, je nachdem, ob mehr Optimisten (Bullen) oder Pessimisten (Bären) am Markt aufeinander treffen.
  2. Im Kurs sind sämtliche Informationen enthalten (nur der Markt hat Recht).
Im Gegensatz zur Fundamentalanalyse spielt somit der innere Wert oder die vermeintliche wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens für den Technischen Analysten keine Rolle. Denn all diese Informationen sind im Kurs bereits enthalten. Mit der Technischen Analyse wird daher in der Regel nur der Kurs untersucht. Die festgestellten Kurse sowie die dazugehörigen gehandelten Stückzahlen, bezeichnet als »Umsatz«, werden hierzu in unterschiedlichster Darstellungsform aufgezeichnet und aufbereitet.
Der Fundamentalanalyst kümmert sich wenig darum, wo eine Aktie aktuell steht, sondern er versucht zu ergründen, wo die Aktie stehen sollte. Ist der innere Wert im Verhältnis zum Kurs der Aktie sehr hoch, so wird der »Fundi« die Aktie kaufen – ist der Kurs hingegen deutlich höher als der ermittelte Wert, wird zum Verkauf geraten. Im Gegensatz hierzu interessiert den Technischen Analysten nur der Blick auf den gegenwärtigen Kursverlauf. Sein Ziel ist es herauszufinden, wie sich die zukünftige Entwicklung von Kauf- und Verkaufsentscheidungen und somit Angebot und Nachfrage entwickeln werden. Denn nur Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis einer Ware, einer Aktie und somit auch deren Kursverlauf. Hierzu wird sowohl die Vergangenheit von Kursverläufen, aber auch das aktuelle Kräfteverhältnis zwischen Bullen (Nachfrage) und Bären (Angebot) untersucht.
Was ist eigentlich ein Kurs?
Wenn bei der Technischen Analyse lediglich die Kurse untersucht werden, so muss noch geklärt werden, was ein Kurs eigentlich ist. Ein Kurs kommt zustande, wenn sich Käufer und Verkäufer handelseinig über den Preis einer Ware, einer Aktie, eines Rohstoffs et cetera sind und ein Geschäft abgeschlossen wird. Dieses Handelsgeschäft wurde früher in den Börsensälen oftmals direkt zwischen den Kontrahenten oder mithilfe eines Börsenmaklers abgewickelt. Heutzutage ist es allerdings in den seltensten Fällen noch ein Mensch, der den Kurs bestimmt. Vielmehr stehen in den Börsen lange Reihen von Serverschränken, in denen täglich Hunderte Millionen Transaktionen vollautomatisch ausgeführt werden. Aber ob nun Börsenmakler oder Computer – der Kurs kommt zustande, wenn sich ein Käufer sowie ein Verkäufer handelseinig sind. Aus irgendwelchen Gründen will der eine die Aktie loswerden, die der andere unbedingt haben will. Die Marktteilnehmer werden sich aus höchst unterschiedlichen Gründen zu diesen Schritten entschlossen haben. Sie haben vollkommen gegensätzliche Entscheidungen getroffen.
Ein Kurs stellt also eine Entscheidung zum Kauf und auch zum Verkauf dar. Entscheidungen werden jedoch nie rein rational geprägt sein. Jede Entscheidung, die wir als Mensch treffen, unterliegt unseren bewussten und unbewussten Emotionen. Eine Vielzahl von Kursfeststellungen ist damit eine Vielzahl von Entscheidungen von Käufern und Verkäufern, die rational als auch emotional geprägt sind.
Kurse und die hierbei getätigten Umsätze wiederum lassen sich als Chart darstellen. Ein Chart ist also nichts anderes als die grafische Darstellung einer Vielzahl von Entscheidungen, die Menschen getroffen haben, um eine Aktie (beziehungsweise einen Rohstoff oder zum Beispiel ein Devisenpaar) zu kaufen und auch zu verkaufen. Der Kursverlauf spiegelt damit letztlich das Entscheidungsverhalten und auch die emotionale Fieberkurve der Börsenakteure wider.
Stimmungen, Emotionen und Erwartungen der Marktteilnehmer manifestieren sich in einem Chart als Handlungsablauf von vielfältigen Entscheidungsprozessen. Doch diese Entscheidungsprozesse laufen nach bekannten Verlaufsmustern ab.
Sieht der Technische Analyst in einem Chart ein ihm bekanntes Verlaufsmuster der Kurse, so wird er davon ausgehen, dass auch die bekannten Folgen mit einer vorab festgestellten statistischen Wahrscheinlichkeit eintreten werden. Tritt zum Beispiel ein Chartmuster auf, welches Ernüchterung nach Euphorie anzeigt, so darf der Technische Analyst mit den bekannten Folgen einer Ernüchterung der Börsenakteure rechnen: mit fallenden Kursen.
Die Kenntnis einer Vielzahl von Handlungsabläufen sowie deren Folgen und das korrekte Einordnen in das jeweilige Marktumfeld verhelfen, Prognosen über das zukünftige Marktteilnehmerverhalten zu treffen.
Das Ziel und der Weg des Technischen Analysten
Das Ziel des Technischen Analysten ist es also zu erfassen, wie das Verhältnis von Angebot und Nachfrage zueinander ist und wie sich dieses Verhältnis zukünftig entwickeln wird. Hierfür beachtet er ihm bekannte Chartmuster, die wiederum anzeigen, von welchen vorherrschenden Gefühlen die Marktteilnehmer aktuell in ihren Entscheidungsprozessen gesteuert werden. Da angeborenes menschliches Verhalten und seine Folgen stets gleichbleiben, kann anhand der bisherigen Trefferquote eines Chartmusters abgeleitet werden, ob eben zukünftig die Kaufneigung oder Verkaufsneigung überwiegen wird.
Ein Beispiel: Nach einem bestimmten Chartmuster treten in 30 Fällen 24 Mal die gleichen Folgen auf, ein Kursrückgang ist zu beobachten. Bei einem erneuten Auftreten dieses Musters kann der Technische Analyst nun davon ausgehen, dass auch diesmal die Kurse mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit fallen werden. Tritt der unwahrscheinlichere Fall ein und die Kurse fallen nicht, so muss er ab einem vorab definierten Szenario im Kursverlauf seine Annahme von fallenden Kursen revidieren.
In diesem Beispiel hat nicht der Analyst geirrt. Die Annahme von fallenden Kursen war berechtigt. Eine hohe Wahrscheinlichkeit ließ diese Annahme zu. Der Markt hat nur anders als in den meisten Fällen reagiert. Da die Annahme nicht bestätigt wurde, muss der Technische Analyst neu nachdenken und neu analysieren. Ein wesentlicher Wesenszug jeder Technischen Analyse ist das Prinzip von Annahme und Bestätigung. Der Technische Analyst trifft immer eine Annahme – und wartet auf die Bestätigung, um zu handeln.
Anmerkung: Wesentlich ist für den Technischen Analysten im obigen Beispiel, dass sich bei einem nochmaligen Auftreten des Chartmusters die Trefferquote verändert hat. Denn die Wahrscheinlichkeit von fallenden Kursen betrug bis zum Fehlsignal 80 Prozent. Da nun jedoch 31 Muster vorliegen und nur in 24 Fällen auch fallende Kurse beobachtet wurden, fällt die Wahrscheinlichkeit dementsprechend auf 77 Prozent, dass bei einem wiederholten Auftreten des untersuchten Chartmusters nachfolgend die Kurse tatsächlich fallen werden.
Kunst und Wissenschaft
Die Charttechnik untersucht Kursverläufe und damit das Entscheidungsverhalten der Masse hinsichtlich von Käufen und Verkäufen an der Börse. Hiervon werden Eintrittswahrscheinlichkeiten (Trefferquoten) einer bestimmten Folge von Chartmustern abgeleitet. Damit kann die Charttechnik auch durchaus als statistische Massenpsychologie bezeichnet werden.
Die Technische Analyse ist keine exakte Wissenschaft. Das nimmt auch den Teilbereich Chartanalyse nicht aus. Wissenschaft kennzeichnet die Wiederholbarkeit von Experimenten aus. Der Wissenschaftler führt eine Reihe von Versuchen durch, die protokolliert werden und deren Aussagen von jedem anderen Wissenschaftler durch eigene Experimente wiederholbar sind. Das heißt, die Aussagen beziehungsweise Interpretationen sind nachprüfbar. Das Labor der Technischen Analyse dagegen ist die Börse beziehungsweise sind die Kursverläufe von Aktien, Indizes, Rentenpapieren und so weiter. Ergebnisse sind nicht wiederholbar, im streng wissenschaftlichen Sinne sind sie nicht »nachprüfbar«. Auch wenn zum Beispiel die Folgen von Chartmustern wiederholt beobachtbar und entsprechend einer Definition eines Chartmusters statistisch erfassbar sind.
Verstehen Sie Technische Analyse daher eher als eine Kunst – doch wie jeder Künstler erst sein Handwerk erlernen muss, so sollte auch der Technische Analyst sein Handwerk und deren Werkzeuge studieren, um letztlich ein Meister in seinem Fach zu werden.
Doch keine Angst. Börse ist einfach! Technische Analyse ist einfach! Sie brauchen nur den berühmten gesunden Menschenverstand sowie Chart, Lineal und Bleistift, um einfache, aber erfolgversprechende Analysen zu erstellen.
Grundannahmen der Technischen Analyse
Wie zum Anfang dieses Kapitels erwähnt, basiert die Technische Analyse auf zwei wesentlichen Grundannahmen:
  1. Kurse bewegen sich in Trends.
  2. Chartmuster und deren Folgen wiederholen sich.
Ausgehend von diesen Grundannahmen wird ein Kursverlauf zuerst nach seinem Trendverhalten und sodann den Chartmustern untersucht. Hierfür benötigen Sie tatsächlich nur Bleistift und Lineal. Ein Beispiel soll dies erläutern.
Beispiel für Trendverhalten: Im Zuge des Börsenbooms in den 1990er-Jahren und der stetig steigenden Kurse kam es zu einer Übertreibung in den Internet-und Hightech-Werten. Sowohl die Übertreibung als auch die anschließende Kehrtwende konnten frühzeitig festgestellt werden. Eine einfache Trendanalyse des US-Index NASDAQ Composite (Index für die Technologiewerte in den USA) signalisierte Ende 1999 durch einen Ausbruch aus einem Trendkanal eine Zunahme der gewohnten Schwankungsbreite, die auf Euphorie im Markt und eine Übertreibung nach oben hinwies. Dies war ein weiteres Kaufsignal. Der Rückfall in den langfristigen Trendkanal bei einem Kursniveau von circa 3.400 Punkten war im weiteren Verlauf ein aussagekräftiges Verkaufssignal, da ein Rückfall in einen zuvor verlassenen Aufwärtstrendkanal eine Ernüchterung im Markt darstellt mit einer grundsätzlichen Kehrtwende der Stimmung. Das Kursziel dieses Verkaufssignals war der langfristige Aufwärtstrend, der zu diesem Zeitpunkt bei rund 2.300 bis 2.400 Punkten verlief.
Mithin musste mit dem Rückfall in den Trendkanal ein Kursziel von circa 2.400 Punkten für den Technologie-Index NASDAQ Composite angenommen werden. Immerhin ein Abwärtspotenzial von über 1.000 Punkten im Index! Weiterhin konnte auf das Risiko hingewiesen werden, dass der NASDAQ Composite aufgrund der Ernüchterung im Markt Gefahr laufen könnte, auch diesen langfristigen Aufwärtstrend zu brechen, um letztlich auf 1.500 Punkte zu fallen. Dieses Niveau ergab sich aus einer Kurszielberechnung, die in Kapitel 6 näher erläutert wird. Hier nur so viel: Bei einem Bruch eines Trendkanals kann dessen Schwankungsbreite an das Ausbruchsniveau zur Ermittlung eines Kursziels abgetragen werden. Mit der Charttechnik war also im 2. Quartal 2000 prognostizierbar, dass der Börsenboom in den Internetwerten vorüber war und es zu kräftig fallenden Kursen kommen könnte. Diese einfache Trendanalyse war mit Hilfe von Bleistift und Lineal zu bewerkstelligen. Vergleichen Sie einmal den vorgestellten Chart des NASDAQ Composite mit dem historischen Chart des DOW JONES auf Seite 23. Sie finden hier ein ähnliches Verlaufsmuster von Euphorie und Ernüchterung.
Abbildung 6: Der Kursverlauf des NASDAQ Composite von 1989 bis 2001 zeigte einen langfristigen Trendkanal mit Ausbruch und Rückkehr. Diese Informationen reichten dem technisch orientierten Anleger, um entsprechende Kauf- und Verkaufssignale zu erhalten – chart provided by Metastock
Die Methode der Trendanalyse ist ein Teilbereich der Technischen Analyse und gehört zum Bereich der Chartanalyse. Grob unterteilt wird die Technische Analyse in zwei große Bereiche: in die Chartanalyse und in die Markttechnik. Daneben existieren weitere Teilbereiche, wie die Zyklenanalyse oder Elliott-Waves et cetera.
Chartanalyse
Die Chartanalyse untersucht Kursverläufe auf Trendverhalten und wiederkehrende grafische Muster, die ein bestimmtes bekanntes Verhalten der Marktteilnehmer und dessen bekannte Folgen widerspiegeln sollen. Chartanalysen sind im Gegensatz zur Fundamentalanalyse recht schnell zu erstellen. Ein klarer Vorteil für den privaten Anleger! Darüber hinaus eignen sich Chartanalysen für alle Zeiträume – Daytrader, kurz- und mittelfristig orientierte Anleger, aber auch der langfristig orientierte Investor kann die Methoden der einfachen Chartanalyse erfolgreich anwenden. Die Chartanalyse, die sich tatsächlich nur mit dem Kursverlauf und den gehandelten Stückzahlen, dem Umsatz, beschäftigt und mit Bleistift und Lineal als Handwerkszeug auskommt, sollte das Fundament jeder Technischen Analyse darstellen und wird in diesem Buch daher als Schwerpunkt behandelt.
Markttechnik
Die Markttechnik dagegen leitet von Kursverläufen und deren Daten mittels mathematischer Formeln sogenannte Indikatoren ab, die über den aktuellen Marktzustand eine Aussage ermöglichen sollen. Marktzustände sind definiert zum Beispiel als »überkauft« oder »überverkauft«. So werden anhand von Indikatoren automatisierte Handelsprogramme programmiert oder in Verbindung mit der Chartanalyse oder weiteren Methoden der Technischen Analyse Kauf- sowie Verkaufssignale generiert. Die Verbindung zwischen Chartanalyse und Markttechnik kann, muss aber nicht zwingend die Aussagekraft einer Analyse hinsichtlich ihrer Trefferquote erhöhen.
Anmerkung: Der Begriff Markttechnik erhielt alternativ in den vergangenen Jahren eine weitere Bedeutung. Hierzu gehört die Annahme, dass sich Kursbewegungen in bestimmten Schritten vollziehen. Allerdings bleibe ich bei der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs in diesem Buch.
Kombination erhöht die Aussagekraft: Der Technische Analyst kombiniert meist verschiedene Methoden der Technischen Analyse.
Werkzeuge der Technischen Analyse
Der Begriff »Technische Analyse« ist eher ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Methoden, um herauszufinden, ob die Masse der Marktteilnehmer zukünftig kaufen oder verkaufen wird. In Abbildung 7 ist dargestellt, welche Methoden der Werkzeugkasten der Technischen Analyse für Sie bereithält. Im Werkzeugkasten des Technischen Analysten bestehen also neben der Chartanalyse, die vor allem auf die Methoden der Trend- und Formationsanalyse zurückgreift, und der Markttechnik, die eine Unzahl von mathematischen Ableitungen der Kurse (Indikatoren) bereithält, diverse weitere Methoden.
So nutzen manche Analysten die Zyklentechniken, die eine bestimmte stets wiederkehrende Reihenfolge von Wende- und Extrempunkten in Abhängigkeit des Zeitablaufs im Kursverlauf annehmen – oder Wellentechniken, die davon ausgehen, dass sich Kurse in wellenförmigen Bewegungen ausbilden.
Eine nicht nur in Deutschland ausgesprochen populäre Methodik der Wellentechnik stellen die sogenannten »Elliott-Waves« dar. Diese Methodik versucht, das Verhalten der Masse der Börsianer in ein eher verwirrendes Regelwerk einzupassen. Hierbei sollen anhand der erkannten Wellenbewegungen kurz- und auch langfristige Hochs und Tiefs im Kursverlauf punktgenau prognostiziert werden können. Die Trefferquote der Elliott-Waves ist allerdings je nach Analyst sehr unterschiedlich. Diese Wellentechnik ist ausgesprochen komplex und eignet sich meiner Meinung nach nicht für den Privatanleger.
Abbildung 7: Werkzeugkasten des Technischen Analysten – kein Anspruch auf Vollständigkeit – Als »Chartanalyse« wird oftmals nur die Trend- und Formationsanalyse verstanden
Eine weitere eigenständige Methode innerhalb der Technischen Analyse ist die Anwendung der Fibonacci-Zahlen. Die Verhältnisse dieser Zahlen zueinander und die Anwendung der unterschiedlichen Proportionen im Kursverlauf soll die Prognose von sowohl Widerstands- und Unterstützungszonen als auch Kurszielen ermöglichen. Zudem soll die Prognose von Hoch- und Tiefpunkten in der Zeitachse, also eine Angabe von Stimmungswechseln bezogen auf eine bestimmte Periode (Tag, Woche et cetera) mit dieser Methode möglich sein. Die Anhänger der Fibonacci-Zahlen verweisen gern auf den Umstand, dass die Fibonacci-Zahlen und deren Verhältnisse zueinander sich auch in der Natur wiederfinden, so zum Beispiel in der Struktur von Muschelschalen oder den proportionalen Verhältnissen des menschlichen Körperbaus. Da der Mensch ein Teil der Natur ist, und der Mensch eben Kauf- und Verkaufsentscheidungen tätigt, sollen sich demzufolge auch die Kurse entsprechend den Fibonacci-Zahlen entwickeln. Vielleicht kennen Sie auch den »Goldenen Schnitt« aus der Kunst und Architektur? Der »Goldene Schnitt« beruht ebenfalls auf Fibonacci-Zahlen. So wird der »Goldene Schnitt« genutzt, um ein Bild, eine Skulptur oder ein Bauwerk unter ästhetischen Gesichtspunkten zu konstruieren. Fraglich ist jedoch, ob derartige »Natur-Gesetze« oder ästhetische Belange sich tatsächlich in den Kursverläufen von Aktien, Rohstoffen et cetera widerspiegeln. Letztlich ist auch die Anwendung der Fibonacci-Zahlen eine Methode, die kritisch hinterfragt werden darf. Auch hier gilt meines Erachtens: Aufgrund der Komplexität ist diese Methode für den Privatanleger nicht geeignet.
Rohstoffhändler dagegen untersuchen Kursverläufe gern auf saisonale Einflüsse. Hier werden Statistiken angelegt, in welchen Wochen und Monaten die stärksten Kursschwankungen vorliegen, die stärksten Wetterextreme zu erwarten sind und so weiter. So reisen Getreide- oder Kaffeehändler durchaus in der Welt herum, um sich ein Bild von der Ernte vor Ort zu machen.
Ein weiterer Weg – neben all den von Kursen abgeleiteten Methoden – ist es, durch Umfragen unter den Marktteilnehmern noch diverse Analysen zu erstellen. Dieser Bereich der Technischen Analyse wird als Sentimentanalyse bezeichnet. Sentiment bedeutet Stimmung. Mit den verschiedenen Werkzeugen der Sentimentanalyse wird die Gefühlslage, die Stimmung der Marktteilnehmer untersucht. Hierzu zählen nicht nur Umfragen unter den Marktakteuren, sondern auch die akribische Zählung und das Verhältnis von Kauf- zu Verkaufsempfehlungen in Börsenbriefen und Fachzeitschriften. Die Sentimenttechniker gehen in der Regel davon aus, dass sich die Mehrheit stets irrt, und nutzen oftmals die Ergebnisse ihrer Werkzeuge, um abweichende Empfehlungen von der Mehrheitsmeinung zu geben.
Die Untersuchung menschlichen Entscheidungsverhaltens ist ein zusätzliches Teilgebiet der Technischen Analyse. Als selbstständige Wissenschaft unter dem Namen »Behavioral Finance« hat sie Eingang in den Werkzeugkasten des Technischen Analysten gefunden.
Auch esoterische Methoden finden Sie innerhalb der Gemeinschaft der Technischen Analysten – angefangen von der Analyse der Mondzyklen bis hin zur Numerologie. Allerdings kann man auch mit völlig unsinnig erscheinenden Methoden erfolgreich sein, wie ein eher kurioser Bericht über ein interplanetarisches Zelltelefon als Signalgeber andeutet. Die Autoren Charles LeBeau und David Lucas beschreiben in Ihrem lesenswerten Buch Börsenanalyse mit dem Computer augenzwinkernd einen Trader, der mithilfe einer Coca-Cola-Flasche, in der eine abgebrochene Antenne steckte, Signale aus dem Weltraum von mysteriösen Aliens erhielt und damit sogar erfolgreich handelte – allerdings eher aufgrund der Tatsache, dass dieser Trader seine wohl zufällig erreichten Gewinnpositionen laufen ließ und Verluste recht zügig beschränkte.
Neben der Vielfältigkeit von Technischen Analysemethoden existiert, wie oben schon angeführt, eine unüberschaubare Anzahl an mathematischen Ableitungen der Kurse, an Indikatoren und den hieraus abgeleiteten komplexen Handelsregeln und halb- bis vollautomatischen Handelssystemen.
Grundsätzlich gilt jedoch: Vor jeder komplexen Untersuchung des Marktes mittels Candlesticks, Indikatoren, Elliott-Waves oder anderer Methoden sollte erst eine Analyse der zwei wesentlichen Grundannahmen der Technischen Analyse, und somit der Trend- und Formationsanalyse erfolgen. Diese bilden das Fundament jeder weiteren Analyse auch durch andere Methoden der Technischen Analyse.
Selbstverständlich richtet sich die gewählte Methodik des Technischen Analysten auch nach der Art des Handels. Sind Sie eher langfristiger Investor oder der ultra- kurzfristige Daytrader, der innerhalb von Minuten kauft und verkauft?
Sie sollten entsprechend Ihrer Handelsweise die Werkzeuge benutzen oder kombinieren, die zu Ihrer Anlage-Mentalität und zu Ihrer Persönlichkeit passen. So wird der Langfristinvestor die Technische Analyse eher mit der Fundamentalen Analyse verknüpfen. Ganz anders der Daytrader. Dieser fällt oftmals Entscheidungen im Minutentakt, basierend auf einem klaren Konzept, welches auch die Wahrscheinlichkeit seiner Analysemethode berücksichtigt.
Der langfristige Anleger kann dagegen in Ruhe überlegen und abwägen, ob und wie er seine Entscheidung durchführt. Wesentlicher Punkt ist auch die Zeit und das Engagement, das der Anleger oder Trader zur Analyse aufbringen kann.
Beachten Sie bitte stets, dass Sie die Kurse und deren Charts nicht nur um ihrer selbst willen untersuchen. Die Methodik sollte stets auf den Grundannahmen der Technischen Analyse fußen. Letztlich sind daher die beiden relevantesten Methoden die Trend- und Formationsanalyse.
Prognose oder Prophezeiung?
Die Technische Analyse beschäftigt sich vorrangig mit Kursen, und damit mit dem Entscheidungsverhalten einer Masse von Anlegern. Kursmuster, die ein bestimmtes Verhalten einer Masse von Anlegern ausdrücken, sind identifizierbar und mit ihren Folgen bekannt. Demzufolge ist eine Prognose unter Angabe einer Trefferquote möglich.
Einige Methoden der Technischen Analyse gehen hingegen von Naturgesetzen oder gar einem wissenschaftlich nicht nachweisbaren Effekt des Mondes auf den Menschen aus. Hieraus ableitbare Aussagen hinsichtlich des weiteren Kursverlaufs sind in der Regel nicht statistisch untermauert und sind demzufolge auch keine Prognose! Hier ersetzt der Glaube die Statistik. Die Aussagen der entsprechenden Methoden sind daher keine Prognose über die zu erwartende wahrscheinlichste Kursbewegung, sondern eher eine Prophezeiung.
Das Fatale an Prophezeiungen ist jedoch, dass eine zufällige, aber scheinbar korrekte Vorhersage des Kursverlaufs, also einem richtigen Treffer mit einer solchen Methode, dann zu einem »festen Glauben« an die Richtigkeit der Methode führt. An der Börse ist ein solches Verhalten des Analysten und Anlegers jedoch kontraproduktiv. Unter Umständen halten Sie dann zu lange an einer Verlustposition fest, da doch der Glaube an die Methode Sie davon überzeugt, dass der Markt falsch läuft. Der Markt hat einfach Unrecht, die Methode kann nicht falsch sein. Sie sind im Glauben befangen, dass Sie die richtige Analyse schon gestellt haben. Hüten Sie sich deshalb bitte davor, ein Glaubender einer Kursprophezeiung zu werden. Nur der Markt hat Recht. Folgen Sie stets dem Markt.