Kapitel 9: Einführung Candlesticks
Im Kapitel »Candlesticks« erhalten Sie eine Kurzeinführung in die japanische Kerzencharttechnik mit ihren wesentlichen Grundkerzen sowie den vier wichtigsten Einzelkerzen: Hammer
, Hanging Man
, Shooting Star
und Inverted Hammer
sowie ausgewählten Formationen.
Einleitung und Grundkerzen der Candlesticks
Stellen Sie sich einmal vor, die Börse ist ein ausländischer Patient und Sie sind Psychologe, der eine Diagnose über die aktuell vorherrschende Stimmung des Patienten stellen soll. Um den Patienten zu verstehen, müssen Sie natürlich auch dessen Sprache sprechen. Eine Sprache lernt man unter anderem durch das Pauken von Vokabeln. Betrachten Sie daher die Candlestick-Formationen ebenso wie die zuvor besprochenen Verhaltensmuster, die Dreiecke, Wimpel, Flaggen oder Formationen wie die Schulter-Kopf-Schulter-Formation als Vokabeln, mit denen Sie die Börse, Ihren Patienten verstehen können. Sie werden dann höchstwahrscheinlich feststellen, dass Ihr Patient, das Börsenpublikum, einen recht flatterhaften Charakter besitzt und rationalen Argumenten kaum zugänglich ist. Mit den entsprechenden Vokabeln wissen Sie, was Ihr Patient wohl als Nächstes tun wird. Heilungschancen sind dabei jedoch ausgeschlossen.
Candlestick-Muster sind ein hervorragendes Repertoire an Börsenvokabeln. Hören Sie der Marktsprache, den Kursverläufen einfach zu und Sie sind der Masse der Marktteilnehmer einen Schritt voraus. So erlangen Sie ein tieferes Verständnis für die Börse und deren Stimmungen.
Was ist eine Candle?
Um eine Kerze zu zeichnen, werden die folgenden Grund-Informationen benötigt:
Zwischen Eröffnungs- und Schlusskurs wird ein Rechteck gezeichnet. Liegt der Eröffnungskurs unter dem Schlusskurs, ist der Kurs also gestiegen, zeichnet man die Kerze als weiße Kerze beziehungsweise das Rechteck bleibt unausgefüllt. Liegt der Eröffnungskurs dagegen über dem Schlusskurs, ist der Kurs also gefallen, zeichnet man die Kerze als schwarze Kerze (traditionell werden in Japan fallende Kerzen allerdings Rot dargestellt) beziehungsweise füllt das Rechteck aus.
An das Rechteck werden nun senkrechte Striche gezeichnet, die jeweils bis zum Höchst- beziehungsweise Tiefstkurs reichen.
Beispiel Tageskerze:
Abbildung 191: Angenommen, ein Kursverlauf innerhalb des Tages hätte den obigen Verlauf genommen. Die Tageskerze würde entsprechend den Grundinformationen als eine weiße längere Kerze gezeichnet werden.
Die Bezeichnungen der Kerze
Abbildung 192: Bezeichnungen einer Kerze, einer Candle
Das Rechteck zwischen Eröffnungskurs und Schlusskurs wird auch als Kerzenkörper oder im Englischen als body
bezeichnet. Docht und Lunte sind in Deutschland die am häufigsten benutzten Begriffe für die »Striche« zur Markierung der Höchst- und Schlusskurse. Im englischen Sprachgebrauch dagegen heißen Docht und Lunte jeweils obere oder untere Schatten (shadows
).
Bedeutung einzelner Kerzen und deren Anwendung
Dochte und Lunten
Dochte und Lunten sind zwar keine eigenständigen Kerzenformen, doch im Zusammenhang mit dem Marktgeschehen können sie sehr aussagekräftige Kennzeichen einer Trendwende im Markt sein. So sind längere Dochte auf hohem Kursniveau starke Baisseanzeichen. Die Dochte signalisieren, dass die hohen Kurse zu vermehrten Gewinnmitnahmen eingeladen haben. Die Endpunkte der Dochte
generieren zudem neue oder bestätigen bestehende Widerstandszonen.
Lange Lunten auf niedrigem Niveau sprechen hingegen von stützenden Käufen, von verstärkter Nachfrage. Je länger die Lunten (in Verbindung mit hohen Umsätzen), desto stabiler ist das Fundament, auf dem eine neue Hausse aufgebaut werden kann.
Eine einfache Regel für die Anwendung von Dochten und Lunten lautet:
Lange Lunten auf niedrigem Niveau bereiten die nächste Hausse vor.
Lange Dochte auf hohem Niveau bereiten die nächste Baisse vor.
Die Beurteilung eines Kursverlaufs, ob ein hohes oder niedriges Niveau vorliegt, kann natürlich recht subjektiv getroffen werden. Doch auch Indikatoren, so der prozentuale Abstand zu einem gleitenden Durchschnitt, können hierfür entsprechend angewendet werden. Vergleichen Sie bitte die Ausführungen auf Seite 147 ff. und 291.
Abbildung 193: BASF von November 2003 bis Mai 2004 – Tageskerzen – Beispiel langer Dochte und Lunten – chart provided by Metastock
Short days
Kurze Kerzenkörper (Kerzenstummel) werden als Short days
bezeichnet, auch unabhängig von der Periode (zum Beispiel Tag, Woche, Monat). Sie zeigen an, dass sich der Kauf- oder Verkaufsdruck vermindert. Trotzdem ist der vorherrschende Trend noch intakt und die Short days künden nur von einer Pause im Trend oder einer kurzfristig abwartenden Haltung sowie Unsicherheit im Markt.
Entsprechende Phasen im Trend gehen oftmals einer Trendwende voraus, sind aber für sich genommen noch kein Trendwendesignal. Denn Short days können auch positiv für den Trend interpretiert werden, da sie eine Entspannung im Trendverlauf anzeigen, eine
Überhitzung (nach oben oder unten) des Trends daher vermieden wird.
Eine andere Bedeutung erlangen kleine Kerzenkörper, sofern hohe Umsätze mit ihnen einhergehen. Dies kann auf hohem Niveau ein Anzeichen für eine Umverteilung (Distribution), auf niedrigem Niveau ein Signal der Akkumulation darstellen. Nachfolgende Kauf- oder Verkaufssignale sind dann unbedingt zu beachten.
Abbildung 194: Dow Jones Dezember 2002 bis April 2004 – Wochenkerzen – Mehrere Short days innerhalb eines Aufwärtstrends – chart provided by Metastock
Im Aufwärtstrend des Dow Jones im Dezember 2003 (Abbildung 194) traten sowohl einige längere weiße Kerzen auf, jedoch auch folgend kurze weiße oder auch vereinzelte kurze schwarze Kerzen. Die kurzen Kerzen (in diesem Fall jedoch Wochenkerzen) spiegelten nur kurze Pausen im Trend wider. Aufgrund der Pausen im Trend
konnten sich die Marktteilnehmer langsam an immer höhere Niveaus gewöhnen, eine Überhitzung trat nicht ein. Ein solcher Trend wird von Chartanalysten auch gern als gesunder Aufwärtstrend interpretiert.
Long days
Als lange Kerze beziehungsweise Long days
bezeichnet man Kerzen, deren Kerzenkörper mindestens dreimal so lang sind, wie die im vorherrschenden Trend vorangegangenen Kerzenkörper. Lange Kerzen sind ebenso wie Gaps starke einseitige Marktbewegungen. Die Masse der Börsenteilnehmer kennt nur noch eine Richtung. Long days sind wiederum nicht zwingend Tageskerzen.
So können lange weiße Kerzen (Long white days
) innerhalb eines Aufwärtstrends trendbestätigend, nach einem Abwärtstrend als stützend oder sogar als trendumkehrend interpretiert werden. Je nach der Länge des weißen Kerzenkörpers lassen sich Rückschlüsse auf die Kraft der Käufer ziehen. Analog gilt Gleiches für lange schwarze Kerzen (Long black days
).
Treten zum Beispiel nach einem Aufwärtstrend lange schwarze Kerzen auf, so zeigt dies, dass das Angebot größer als die Nachfrage ist und die Optimisten in der Minderheit sind. Dies könnte in der Folge zu einer echten Gipfelbildung führen und zu einer Trendwende. Long black days nach einem Aufwärtstrend in Verbindung mit Trendwendeformationen können ein Verkaufssignal darstellen.
Abbildung 195: adidas-salomon von April 1997 bis Januar 1998 – Die Mitte einer langen weißen Kerze Anfang Juli als Unterstützungsniveau – chart provided by Metastock
Lange Kerzen können sowohl Unterstützungs- oder Widerstandszonen bestätigen als auch neu markieren. So ist der Bereich einer langen weißen Kerze von ihrem Tiefstkurs bis zu ihrer Mitte oftmals ein sehr guter Anhaltspunkt für eine Unterstützungszone, insbesondere dann, wenn die lange Kerze allein im Raum steht. Die Japaner betrachten lange weiße Kerzen als Stützen des Marktes. Wird hingegen das Tief einer langen weißen Kerze unterschritten, so fällt diese Stütze um und generiert sodann ein negatives Signal!
Eine lange schwarze Kerze bildet dagegen von ihrer Mitte bis zu ihrem Höchstkurs eine Widerstandszone. Als Erläuterung sei hier auf den Abschnitt Gaps/ Kurslücken verwiesen. Bei Gaps als auch bei langen Kerzen zeigt eine sprunghafte Marktbewegung, die
nachfolgend von denjenigen Börsianern als Unterstützung beziehungsweise Widerstand betrachtet wird, die die erste unter Umständen auch unerwartete Marktbewegung verpasst haben. So werden Rücksetzer in einer Aufwärtsbewegung gern aufgefangen, also gekauft und Erholungen bei Abwärtsbewegungen gern verkauft.
In der Abbildung 195 können Sie ein Beispiel in der Aktie der adidas-salomon AG erkennen. Im Juli 1997 trat eine sprunghafte Marktbewegung auf, eine lange weiße Tageskerze bildete sich. Aussagekräftig war diese Tageskerze als Unterstützung, da sie allein im Raum stand. Deren mittlerer Bereich fungierte nachfolgend als Unterstützungsniveau.
Doji
Ist innerhalb einer Periode der Eröffnungs- und Schlusskurs identisch oder fast identisch so spricht man von einem Doji
. Ein Rechteck ist also nicht erkennbar, statt eines Kerzenkörpers ist nur ein waagerechter Balken vorhanden.
Doji sind wichtige Kerzenformen der japanischen Kerzenchartanalyse. Sie sind auch oftmals wichtige Komponenten von Kerzenmustern. Durch die unterschiedlichen Formen der Doji ergeben sich vielfältige Interpretationsmöglichkeiten – entsprechend der Relation der Eröffnungs-/Schlusskurse zu den Höchst- und Tiefstkursen sowie der Position eines Doji im Kursverlauf. Ein Doji ist für sich allein genommen jedoch kein Kauf- oder Verkaufssignal, nur in Verbindung mit vorangegangenen und folgenden Kerzen ist eine Aussage möglich. Ein Doji ist jedoch immer ein Verstärkungs- und Achtungssignal. Er markiert Widerstands- oder Unterstützungszonen. Grundsätzlich zeigt er die Unentschlossenheit der Marktteilnehmer (Pattsituation) an.
Abbildung 196: Verschiedene Formen eines Doji
Abbildung 197: DAX von Februar 1997 bis Januar 1999 – Monatskerzen – Gravestone Doji als Trendumkehrsignal – chart provided by Metastock
Beispiel DAX 1998 (Abbildung 197): Der im Juli 1998 auftretende Doji (Gravestone Doji
) markierte das Ende der Aufwärtsbewegung. Nach einem Doji muss die nachfolgende Kerze zur Bestätigung abgewartet werden. Es gilt jedoch, dass nach einem solchen Kerzenmuster in einer übergeordneten Zeitebene Verkaufssignale der kurzfristigeren Zeitfenster eine hohe Relevanz erlangen. Insofern waren dann die Verkaufssignale im DAX der Wochen- und Tagesbasis im August 1998 signifikant.
Beachten Sie bitte: Laut Lehrbuch sollte an einem Gravestone Doji keine Lunte vorhanden sein – doch auch hier gilt: Der Charakter einer Formation, einer Kerze ist relevant. Da die Lunte sehr kurz war und die Zeitebene recht langfristig, musste diese Kerze als deutliches Warnsignal gelten!
Mischkerzen
Idealtypische Formationen der Candlesticks lassen sich nur selten in »Reinform« im Kurs entdecken. Sehr viele Formationen aus zwei, drei oder mehreren Kerzen lassen sich von ihrer Grundinformation jedoch auf eine zusammengefasste Kerze zurückführen. Diese zusammengefassten Kerzen, auch Mischkerzen (blended candles
) genannt, sind ausgesprochen sinnvoll für das tiefere Verständnis der Candlesticks und eignen sich zudem für die Analyse von Kerzencharts unterschiedlicher Zeitebenen. Aussagekraft, Prägnanz und zum Beispiel die kurzfristige Vorhersage von Trendumkehrungen wird durch kombinierte Kerzen verstärkt oder erst ermöglicht. Somit können auch unvollkommene Kerzenformationen oder unklare Kerzenkombinationen auf ihre Aussagekraft geprüft werden.
Mischkerzen sind auch die aus unteren Zeitebenen zusammengefassten Kerzen. So wird eine Wochenkerze in der Regel aus fünf Tageskerzen gebildet (sofern kein Feiertag vorliegt). Der Eröffnungskurs ist der erste Kurs des Montags, der Schlusskurs der letzte Kurs des Freitags und der jeweilige Höchst- und Tiefstkurs der Woche bilden jeweils Docht und Lunte. Bei Monats- als auch Quartals- oder Jahreskerzen hingegen können sich zu den Wochenkerzen und deren Anfangs- und Endkursen leichte Abweichungen ergeben.
Abbildung 198: Mischkerze: Aus fünf Tageskerzen wird eine Wochenkerze
Es bleibt Ihnen entsprechend Ihren Vorlieben beziehungsweise Ihrer Methodik überlassen, ob Sie die Kurse eines Tages oder einer ganzen Woche, oder auch von nur zwei Tagen zusammenfassen.
Kleinere Perioden können so bezogen auf die jeweils längere Periode zusammengefasst werden. Die sich neu ergebenden, zusammengefassten Kerzen spiegeln die übergeordnete Stimmung der Gesamtheit der kleineren Kerzen wider. Minutencharts werden so zu Stundenkerzen, diese wiederum zu einer Tageskerze. Eine Tageskerze stellt letztendlich die vorherrschende Stimmung des Tages dar, eine Wochenkerze dagegen die vorherrschende Stimmung einer Woche.
Vorteilhaft ist es, entsprechende Mischkerzen auch aus ungebräuchlichen Zeitebenen zu bilden. So sind 3-Tageskerzen eine sehr effektive Darstellungsweise im Vergleich zu Tageskerzen bei engeren Werten, so zum Beispiel bei deutschen Nebenwerten mit geringeren Umsätzen oder Aktien aus dem SDAX.