KAPITEL EINUNDZWANZIG
Das Gulfstream Flugzeug raste auf die Hauptstadt von Israel zu. Bei der Höchstgeschwindigkeit des Jets war sie kaum eine Stunde von Bagdad entfernt. Reid konnte es nicht unterdrücken, den Gang auf und abzulaufen. Es gab nichts, was er sonst tun könnte, bevor sie landeten.
Maria beendete ihren Anruf und verkündete: „Die Botschaft wurde evakuiert. Es dauerte nicht lang, denn um diese späte Stunde sind da nicht viele. Zusätzliche Truppen wurden eingesetzt, um den Umkreis zu sichern und das Bombenentschärfungsteam ist auf dem Weg.”
„Die israelischen Behörden suchen nach verdächtigen Personen im Fern-Detonationsbereich der Botschaft,” fügte Strickland hinzu. „Falls sie da sind, wird man sie finden.”
„Gut”, murmelte Reid, während er weiter auf und ablief.
„Maria runzelte die Stirn. „Das sagst du zwar, doch es scheint gar nicht, als ob du erfreut darüber bist.”
„Ich frage mich nur warum”, gab er zurück. „Warum die Botschaften?”
Sie zuckte mit den Schultern. „Warum führte Al-Qaeda damals, in achtundneunzig, Bombenattentate auf die Botschaften in Kenia und Nairobi durch? Das sind einfach keine Leute, die so wie wir denken, Kent. Das sind Terroristen, deren Ziel es ist, zu verletzen und zu töten. Fanatiker, die glauben, dass sie ihrer Pflicht Gott gegenüber nachkommen.”
„Ja”, seufzte er, „das weiß ich. Es ist nur... dieser Mann, Tarek, er sagte noch etwas anderes, dass mir nicht aus dem Kopf geht. Er sagte, dass ein Waffenhändler das Lager besuchte und der Brüderschaft etwas Neues versprach. Etwas, das nicht einmal Hamas hat. Plastiksprengstoff ist nicht gerade die Avant Garde. Es scheint, als ob da noch mehr dahintersteckt.”
„Was es auch sein mag”, bot Strickland an, „es müsste klein genug sein, um über die Grenze geschmuggelt zu werden. Da geht es nicht um Panzer oder Flugabwehrraketen. Aber von etwas so kleinem wie zum Beispiel Minenwerfer oder vielleicht sogar eine neue Art von Panzerabwehrgranatwerfer bräuchte es fünfzig Stück oder mehr, um auch nur annähernd den gleichen Schaden auszulösen, den sie in Irak erreichten.”
„Das ist wahr”, stimmte Reid zu. „Und bin Mohammed war wohlhabend, aber nicht annähernd reich genug, um selbst einen kleinen Sprengkopf zu erwerben. Außer der Libyer hat ihnen vielleicht einen Deal angeboten?”
„Wir haben nicht ausreichend Information, um das abzuschätzen”, gab Strickland zurück.
„Weiß die CIA vielleicht irgendwas über große, libysche Waffenhändler?” hoffte Reid.
„Sie überprüfen das gerade”, erklärte der jüngere Agent ihm, „aber bisher ist es ein Schuss ins Dunkle. Wir bräuchten mehr Informationen...”
„Warte mal einen Moment.” Maria schnappte sich das Tablet mit den Fallakten ihres Einsatzes und wischte mit ihrem Finger schnell über den Bildschirm. „Als ich die israelischen Journalisten verfolgte, las ich was... Aha! Hier ist es. Yosef Bachar, der Israeli, der in der Explosion in der Botschaft starb, schrieb vor siebzehn Monaten ein Exposee über Hamas. Sie hatten mehrere unbemannte Drohnen gekauft, um mit ihnen Bomben auf ihre Ziele zu werfen. Doch sie konnten die Drohnen nicht einfach nach Gaza schmuggeln, sie wären entdeckt worden. Stattdessen nahmen sie die Drohnen auseinander und ein Ingenieur auf der anderen Seite baute sie wieder zusammen.”
„Aber hat das funktioniert?” fragte Strickland.
„Fast”, antwortete Maria. „Doch an einem der Checkpoints bemerkte ein Soldat, der Ingenieurswesen studierte, wofür diese Teile waren. Bachar begleitete die Razzia, die ihr Komplott aufdeckte.”
„Drohnen”, sinnierte Strickland. „Diese Brüderschaft wurden vom Gazastreifen durch Hamas verbannt. Vielleicht meinen sie, dass sie etwas beweisen müssten das, woran Hamas scheiterte, erreichen müssten.”
„Hmm.” Reid strich sich über sein Kinn. Das war einleuchtend und würde auch die Entführung von Bachar erklären, der die Sache an die Öffentlichkeit brachte. „Lasst uns kein Risiko eingehen. Gebe den Behörden in Jerusalem Bescheid, dass sie auch ein Auge auf den Himmel richten sollen.” Reid zweifelte sehr stark daran, dass die Brüderschaft eine Explosion mitten in der Nacht durchführte, doch wenn sie bemerkten, dass ihr Komplott aufgeflogen war, dann verzweifelten sie vielleicht. „Und sag ihnen, dass wir bald da sind.”
*
Es war schon nach Mitternacht, als die drei CIA-Agenten an der Absicherung um die US Botschaft in Jerusalem ankamen, doch die Blaulichter der Notfallfahrzeuge verwandelten die Nacht in helllichten Tag. Militär, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, Krankenwagen es war reichlich Personal vorhanden, um jegliche Bedrohung, die vor ihren Augen stattfände, zu bekämpfen.
Doch zu Reids gleichzeitiger Erleichterung und Verdruss, schien es keine unmittelbare Bedrohung zu geben.
Die drei CIA Agenten wurden von einem uniformierten IDF Kommando zu der Sicherheitsabsperrung gebracht. Es war ein stoisches Mitglied der israelischen Sondereinsatzkräfte, der nichts außer einem rauhen „hier entlang” sagte, während er sie auf einen wartenden, schwarzen Transporter zuführte. Die Schiebetür auf einer Seite stand offen und in ihm befand sich ein mobiles Kommandozentrum, das mehrere Computer und zwei am Boden vernietete Drehstühle hatte.
Eine Frau trat heraus, um sie zu begrüßen obwohl ,begrüßen’ kaum das richtige Wort war, um die Begegnung zu beschreiben. Sie blickte jeden von ihnen an, ihr Blick ruhte zuletzt auf Reid, als sie sagte: „Agent Talia Mendel, das Institut.” Ihr Englisch war perfekt und hatte nur einen leichten Akzent. „Sie sind die Agenten, die das hier veranlasst haben?”
„Das sind wir”, bestätigte Reid und streckte ihr die Hand hin. Agent Mendel schüttelte sie nicht. „Unsere Information weist darauf hin, dass diese Botschaft das nächste Ziel der Brüderschaft sein könnte.”
„Worauf basiert sie genau?” Talia Mendel verschränkte ihre Arme über eine kragenlose Falschlederjacke. Ihr schwarzes Haar war kurzgeschnitten, eine Friseur die man in Amerika als Pixie-Schnitt bezeichnen würde und fiel in ihre Stirn über ein Paar ebenso dunkle Augen. Ihren Mund darunter zog sie in eine gerade, unzufriedene Linie.
„Vernehmungen”, gab Reid kurz zurück. „Ein verhaftetes Mitglied der Organisation gab an, dass einer der entführten israelischen Journalisten dazu verwendet wurde, Mitglieder nach Israel zu schmuggeln. Nach dem Bombenattentat in Irak schien die Botschaft das wahrscheinlichste Ziel.” Während er es laut erklärte, konnte er in den Augen der Frau sehen, wie es sich für sie anhörte als wäre er zu einem Schluss gekommen, der nur für ihn offensichtlich war.
„Das Bombenentschärfungsteam hat gerade eine einleitende Durchsuchung beendet”, informierte Agent Mendel sie. „Natürlich wird es noch Stunden dauern, bis das Gebäude gesichert ist, doch bisher wurde nichts gefunden.”
„Haben sie den Keller durchsucht?” fragte Reid schnell.
„Nach Ihren Informationen haben sie dort zuerst gesucht. Aber keine Bomben. Unsere Streitkräfte durchsuchen die Gegend in einem Radius von sechs Häuserblöcken, doch nichts wurde gefunden.”
Ein Mann rief Agent Mendel auf hebräisch aus dem Inneren des Transporters. „Entschuldigen Sie mich”, sagte sie kurz angebunden, als sie zurück in den Transporter stieg. „Ich halte Sie auf dem Laufenden.”
Nun, dachte Reid, ich glaube, ich kann kein Hebräisch.
„Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, dass wir recht haben”, murmelte Maria.
„Es muss hier sein”, bestand Reid. „Nichts anderes passt.” Er gab es nicht laut zu, doch sie hatten kaum ausreichend Informationen über die Brüderschaft, um zu versuchen, die anderen Stücke zusammenzufügen.
„Sagte sie, sie wäre vom ,Institut’?” fragte Strickland.
Reid nickte. „Sie ist Mossad.” Der komplette Name der israelischen Organisation, die für geheime Einsätze und Terrorismusbekämpfung zuständig war, lautete HaMossad leModiʿin uleTafkidim Meyuḥadim , was so viel wie ,das Institut für Geheimdienst und besondere Einsätze’ bedeutete. Es handelte sich hierbei um eine der geheimsten Agenturen der Welt, angeblich für eine Reihe von geheimen Anti-Terror-Razzien und  Dutzenden von erfolgreichen Mordkampagnen verantwortlich. Der allgemein bekannte Name, Mossad, war einfach nur kurz für ,das Institut’.
Er konnte sich den Grund für Talia Mendels scheinbaren Ärger vorstellen. Auch wenn die Botschaft technisch als amerikanischer Grund galt, gaben US-israelische Beziehungen an, dass die kleinere Nation während einer Krise wie dieser aushelfen musste. Doch Reid stellte sich vor, dass die Mossad-Agentin bessere Dinge zu tun hatte, als mitten in der Nacht eine Durchsuchung nach Bomben, die vielleicht gar nicht existierten, zu beaufsichtigen.
„Was, wenn wir vor ihnen angekommen sind?” schlug Maria vor. „Was, wenn die Brüderschaft noch gar nicht die Möglichkeit hatte, die Botschaft zu infiltrieren? Schließlich haben wir ihren Hacker verhaftet.”
„Dann haben wir dieses Attentat vielleicht aufgehalten, bevor es überhaupt anfing”, fügte Strickland hoffnungsvoll hinzu.
Reid sagte nichts mehr dazu, doch er schüttelte seinen Kopf. Er musste nachdenken. Maria hatte, wie gewöhnlich, recht. Sie hatten die Identität des Cyberkriminellen, welcher der Brüderschaft Zugang zu der US Botschaft in Irak ermöglicht hatte, auffliegen lassen. Welchen Plan hätten sie erstellt, um in diese einzudringen? Wenn die Rebellen eine Razzia auf ihr Lager erwartet hatten, dann mussten sie auch damit gerechnet haben, ihren tunesischen Komplizen zu verlieren.
Tarek sagte, dass der Israeli sie dahin brächte, wo sie hinmüssten. Die Brüderschaft hatte ein Bombenattentat auf einen Ort  in Irak begangen, der unter amerikanischem Besitz stand, um bestimmte Ziele zu eliminieren. Auch wenn die islamische Gruppe sicherlich mehr als nur ein wenig Verachtung für die Israelis hatten, was wäre der Zweck die Botschaft hier zur zerstören? Das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war ihre Erwähnung eines ,göttlichen Zweckes’, den er, zusammen mit dem anderen Hinweis auf Israel, so interpretiert hatte, dass er einen Angriff auf Jerusalem bedeutete. Je mehr er doch darüber nachdachte, desto mehr wurde er sich dessen bewusst, dass er möglicherweise zu einem fälschlichen Schluss über das Vorhaben der Brüderschaft gekommen war.
„Ich glaube, ich weiß, warum ich mich geirrt habe”, erklärte er seinen beiden Kollegen. „Die Botschaft in Bagdad war nicht ihr eigentliches Ziel. Sie hatten es auf die Kongressdelegation abgesehen.”
Maria verstand sofort. „Agent Mendel”, rief sie scharf.
Die Mossad-Agentin erschien in der Tür des Transporters, eine Braue fragend hochgezogen. „Ja, Agent...?”
„Johansson. Gibt es irgendwelche geplanten Besuche von amerikanischen Staatsoberhäuptern zu der Botschaft? Etwa während der nächsten vier oder fünf Tage?”
Mendel zog ihre dunklen Augen zusammen. „Ich kann einen Anruf tätigen.”
„Warten Sie”, unterbrach Strickland. „Das könnte bedeuten, dass die Botschaft hier vielleicht gar nicht das Ziel ist. Der Ort wäre egal, es käme auf das Ziel an.”
Reid verfluchte seine übereifrige Vermutung fast laut. „Es könnte überall im Land sein.”
Er wäre nützlich, um sie dort hinzubringen, wo sie hinmüssten. Dies waren Tareks genaue Worte. Was wäre, dachte er, wenn ihre israelische Geisel viel mehr Wert wäre, als sie nur über die Grenze nach Israel zu bringen?
„Der Journalist, der letzte, der noch am Leben ist” sagte Reid plötzlich, „was ist sein Hintergrund?”
Maria nahm das Tablet heraus und las durch ihre Fallnotizen. „In den Tonaufnahmen direkt vor dem Attentat sagte Bachar, dass sein Freund Avi Leon ,nicht so viel Glück’ hatte. Ich nehme deshalb an, dass der überlebende Journalist Idan Mizrahi, der jüngste der drei, ist. Also... er begann als Fotograf und wurde politischer Fotojournalist, nachdem er Avi Leon kennengelernt hatte, der so etwas wie ein Mentor für ihn war. Die beiden arbeiteten viel zusammen. Ich sehe nicht viel mehr Bemerkenswertes... äh, vor all dem sieht es so aus, als wäre er ein paar Jahre bei der israelische Marine gewesen
Reid blickte scharf auf. „Die israelische Marine? Wo war er stationiert?”
Maria scrollte weiter runter. „An ein paar Orten. Doch die meiste Zeit reparierte er Schiffe in Haifa.”
Reid legte die Stirn in Falten. Er wusste, dass Haifa eine kulturreiche Hafenstadt etwa hundertzwanzig Kilometer nordwestlich von Jerusalem war, doch nur wenig mehr.
Zum Glück war jemand besser informiert. „Ich war in Haifa”, sagte Strickland. „Dort ist der größte Anlaufhafen für die sechste Flotte.” Angesichts Reid leerem Gesichtsausdruck fügte er hinzu: „Die hauptsächliche Präsenz der US Navy im Mittelmeer und entlang der afrikanischen Küste.”
„Ein Schiff”, erwiderte Reid langsam. Er blickte zu Maria hinauf. Ihrem Ausdruck nach zu urteilen, dachte sie dasselbe wie er. „Geradeso wie...”
„Die USS Cole ”, beendete sie seinen Gedanken.
„Wie bitte?” fragte Strickland.
„Vor deiner Zeit”, antwortete Maria. „Im Jahr 2000 wurde ein amerikanischer Zerstörer in einem Hafen in Jemen zerbombt. Siebzehn Seemänner wurden getötet.”
„Die Terroristen verwendeten ein kleines Glasfaserboot, das mit C-4 beladen war”, fügte Reid hinzu. Dieselbe Vorgehensweise wie bei dem Bombenattentat auf die Botschaft. „Al-Qaeda erklärte sich später dafür verantwortlich...” Er hielt inne, fügte die Stücke in Gedanken zusammen. „Was, wenn Strickland recht hat und die Brüderschaft wirklich etwas zu beweisen hat? Sie kaufen Drohnen, wo Hamas scheiterte...”
„Und sie versenken ein amerikanisches Schiff, wobei Al-Qaeda scheiterte?” fuhr Maria fort.
Agent Talia Mendel räusperte sich laut. Die drei CIA-Agenten hatten fast vergessen, dass sie immer noch da war. „Sagt mal, arbeitet die CIA immer mit so wilden Vermutungen?”
„So sind wir mehr oder weniger hierhergekommen”, gab Strickland zu.
„Bisher hat es so ganz gut funktioniert”, stellte Maria kurz fest.
„Wir brauchen einen Helikopter nach Haifa”, sagte Reid der Mossad Agentin und ignorierte ihr Verhalten.
„Geben Sie eine Warnung bezüglich verdächtiger Aktivitäten an den Hafen und finden Sie heraus, ob dort amerikanische Schiffe anliegen.”
Mendel schnaubte. „Glauben Sie wirklich, dass dies das Ziel ist?”
„Es ist unsere beste ,wilde Vermutung’”, erwiderte Reid herausfordernd. „Besorgen Sie uns jetzt einen Helikopter oder nicht?”
Die Agentin biss sich einen Augenblick auf die Unterlippe. „In Ordnung”, sagte sie schließlich. „Aber ich komme mit. Ich muss mir das selbst anschauen.”