KAPITEL DREIUNDZWANZIG
Die darauffolgenden Sekunden waren verschwommen in Reids Gehirn. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, dass die Ereignisse sich so entfalteten, wie er es von ihnen dachte, da sein Körper und seine Instinkte die Kontrolle übernahmen.
Seine Füße berührten das Deck des Schleppers, als eine von der Schulter abgefeuerte Panzerfaust in Richtung des Hubschraubers schoss. Reids Pistole war sofort gezückt und er feuerte zwei Schuss in den Iraker, doch ihr Knall wurde komplett von der Explosion über ihnen übertönt.
Während der Rebell zu Boden ging, blickte Reid über seine Schulter und sah, wie ein orangefarbener Feuerball aus der Seite des Sea Stallions austrat. Jemand fiel neben ihm auf das Deck und rollte sich ab. Es war die Mossad Agentin Talia Mendel.
Der Helikopter raste seitwärts, als er auf das Meer zufiel. Strickland und Maria hingen noch am Seil, als es schlaff wurde. Maria fiel zuerst und landete auf Deck allerdings war es das Deck des danebenliegenden Schnellbootes. Strickland fiel um sich schlagend in das Mittelmeer, nur kurz bevor der Sea Stallion auf das Wasser schlug. Reid konnte nur hoffen, dass der Pilot nicht getroffen war und es schaffte, herauszukommen.
„Strickland!” hörte er sich selbst heiser schreien.
„Ich hol ihn!” rief Maria. Sie krümmte sich ein wenig. Sie musste sich beim Fall wehgetan haben, bemerkte Reid. „Wir sichern dieses Boot. Geh!”
Mendel nickte ihm zu, als sie ihre Service-Pistole zückte, eine Jericho 941 aus israelischer Herstellung, eine entfernte, kleinere Cousine der amerikanischen Desert Eagle.
„Ich sah, wie einer Richtung Bug rannte”, sagte er leise. Er ging voran, dich gefolgt von Mendel und kniete sich neben den Terroristen, den er von oben angeschossen hatte. Der wand sich auf dem Boden und hielt sein verwundetes Bein fest. Reid durchsuchte ihn schnell nach Waffen, während Mendel ihn mit einem Kabelbinder fesselte. Dann gingen die beiden um die dunkle Kabine, auf der das Steuerhaus stand, herum und auf den Bug zu.
Reid hörte den Mann, bevor er ihn sah. Er stöhnte bei der Anstrengung einer Aufgabe. Als die beiden Agent um die Ecke der Kabine kamen, erhob Reid seine Glock gerade rechtzeitig, um den Iraker, der ihnen den Rücken zugedreht hatte, dabei zu beobachten, etwas Großes vom Bug zu werfen. Es spritzte ins Wasser bevor einer von ihnen sehen konnte, was es war.
„Stillhalten!” befahl Reid auf arabisch.
Der Mann befolgte den Befehl nicht. Er griff nach einer Maschinenpistole, die auf dem Seitendeck ruhte.
Noch bevor Reid einen einzigen Schuss abfeuern konnte, hatte Agentin Mendel schon zwei abgegeben. Beide Schüsse trafen den Rebellen in schneller Reihenfolge, einer in der Stirn und der zweite in seiner Brust. Der Mann zuckte nach hinten, seine Hüften trafen auf die Reling und er fiel hinter dem ihm von Bord geworfenen Gegenstand hinterher.
Reid drehte sich ungläubig nach ihr um.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin eine sehr gute Schützin.”
Reid rannte auf das Bug zu, blickte über den Rand in das dunkle Wasser, doch sah nichts außer Blasen, die an die Oberfläche sprudelten. „Was, glauben Sie, hat er da ins Wasser geworfen?” fragte er. „Die Waffe?”
„Vielleicht”, antwortete Mendel. „Falls sie damit nicht erwischt werden wollten.”
Er schüttelte seinen Kopf. „Die wüssten, dass wir sie wieder hochziehen könnten...” Er hielt inne, als ein starker Motor aufheulte. Das war nicht der Schlepper. Das weiße Schnellboot hatte sich von ihm getrennt und zog schnell weg.
Reid rannte auf die Backbordseite und suchte das Deck nach Maria ab, doch er sah sie nicht. Er hoffte, sie hatte Strickland rechtzeitig aus dem kalten Mittelmeer gezogen.
Ein zweites Heulen stimmte mit dem ersten ein, als ein helles Scheinwerferlicht in ihr Blickfeld trat. Nur Momente später raste ein zweite Schnellboot vorbei, das mit Truppen der israelischen Verteidigungskräfte beladen war, welche die Verfolgung aufnahmen.
„Ich glaube, die kümmern sich darum”, sagte Reid. „Lassen Sie uns den Rest dieses Bootes sichern und abwarten, bis sie zurückkommen, um uns abzuholen. Ich habe den Verdacht, dass sich unser vermisster israelischer Journalist hier irgendwo befindet."
Mendel nickte. Sie trat vorsichtig die Stufen zu dem erhobenen Steuerhaus hinauf, sicherte es ab und schüttelte ihren Kopf in Richtung Reid. Niemand war da oben.
Reid ging voran, als sie die dunkle, quadratische Kabine unter dem Steuerhaus betraten. Sie war ebenfalls leer, doch eine schmale Treppe führt unter Deck und von ihrem Standpunkt aus konnten sie sehen, dass dort ein Licht brannte. Die Treppen waren zu eng, um sie gleichzeitig zu betreten, also hielt Reid seine Waffe fest und ging zuerst hinunter. Mendel folgte ihm direkt.
„Stopp”, sagte ihm eine Stimme auf arabisch, bevor er überhaupt die letzte Stufe erreicht hatte. Seine Glock war sofort erhoben und zeigte auf den Ursprung des Geräusches doch Reid schoss nicht.
Der Mann stand in der Mitte eines einzelnen, breiten Raumes, das anscheinend zum Teil Lager und zum Teil zur Erholung gedacht war. Er war groß und schlank, mit hervorstehenden Wangenknochen und einem dünnen Bart. Sein zorniger Blick war auf Reid gerichtet und in einer Hand hielt er eine kleine Kiste, sein Daumen war gegen ihr Ende gelegt.
Ein Fern-Detonator.
Hinter dem Rebellen befand sich ein weiterer Mann. Er war auf den Knien, seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt. Der Kopf des Gefangenen war mit einem Sack verdeckt und seine Brust bebte in schnellen, verängstigten Atemzügen. Reid konnte genau sehen, warum. Um Idan Mizrahis Oberkörper hing eine Weste, die mit nicht weniger als einem Dutzend Block C-4 beladen war.
„Legt eure Waffen nieder”, sagte der Iraker ruhig, „oder ich jage das gesamte Boot in die Luft.”
„Ich bin eine sehr gute Schützin”, sagte Mendel leise auf englisch.
„Nein”, warnte Reid. Egal, wie hervorragend sie war, sie konnten es nicht riskieren, dass sein Daumen auf den Knopf drückte und sie alle in die Luft jagte. Reid bückte sich langsam und legte seine Waffe auf den Boden. Dann stand er wieder auf und hielt seine Hände hoch.
Agent Mendel schnaubte, doch tat es ihm gleich.
„Da rüber”, kommandierte der Mann und machte eine Geste, dass sie auf die andere Seite des Raumes gehen sollten. „Auf die Knie.”
Reid bewegte sich stetig, nahm nicht die Augen vom Rebellen, doch seine Gedanken rasten. Als er die Kabine durchquerte, sagte er auf arabisch: „Ich weiß, wer du bist.”
Der Iraker bewegte ein wenig den Kopf, doch antwortete nichts.
„Du bist Awad bin Saddam, oder nicht?” Es war eine Mutmaßung, doch eine sehr gezielte. Der Mann, der diesen Angriff geplant hatte würde ihren potentiellen Erfolg kaum jemand anderem überlassen.
Der Mann grinste. „Das stimmt. Ich bin Awad bin Saddam, und Allah, sei er gepriesen, hat mich mit einem höchst ruhmvollen Schicksal beschenkt.”
„Ich möchte dir ja nicht den Spaß verderben”, erwiderte Reid, während er auf die Knie ging. „Aber dein ‘ruhmvolles Schicksal’ ging gerade über Bord.”
Bin Saddams Lippe wellte sich zu einem Knurren. „Das ist alles Teil des Masterplans.”
Reid runzelte die Stirn. Teil des Planes? Was sollte das denn bedeuten?
„Ist es weise von Ihnen, den Selbstmordbombenattentäter herauszufordern, während er seinen Finger auf dem Abzug hat?” murmelte Mendel auf englisch.
„Falls es sein Ziel wäre, uns in die Luft zu jagen, dann hätte er es schon getan”, argumentierte Reid.
Mendel war einen langen Moment lang still. „Stimmt”, willigte sie leise ein. „Er blufft. Schauen Sie sich seine Augen an. Er hat Angst.”
„Ruhe!” schrie bin Saddam sie auf arabisch an, und fuchtelte mit dem Detonator.
Reid überprüfte den Mann vor sich etwas genauer. Bin Saddams Blick war hart und entschlossen. Ihm schien der Ausdruck nicht ängstlich, sonder nervös. Eine Schweißperle lief dem Iraker über die Stirn und seine Augen flitzen alle paar Sekunden auf eine schmale Tür an der anderen Seite der Kabine, neben dem Eingang mit der Treppe.
„Der blufft nicht”, bemerkte Reid, „er verzögert. Er will nicht abdrücken, weil da etwas hinter dieser Tür ist.”
„Vielleicht die wirkliche Waffe”, flüstert Mendel.
Bin Saddam ergriff den Leinensack über Idan Mizrahis Kopf und zog gewaltsam an ihm. Der hilflose Journalist jaulte auf. „Wollt ihr, dass dieser Mann stirbt? Wollt ihr mit ihm sterben?”
„Mendel”, fuhr Reid auf englisch fort und ignorierte bin Saddam. „Haben Sie noch eine Ersatzwaffe?”
„Selbstverständlich”, erwiderte sie. „Und da wir vielleicht in ein paar Augenblicken sterben werden, kannst du mich auch Talia nennen.”
„OK, Talia”, sagte Reid. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals, sein Gehirn schrie ihn bei diesem seltsamen Einfall an. „Ich werde versuchen, ihn abzulenken und wir werden herausfinden, welch gute Schützin du wirklich bist...”
Bin Saddam schrie sie zornig an und griff hinter sich, zog eine schwarze Pistole aus seinem Gürtel. Reid sprang in einer Rolle aus seiner knienden Position vorwärts und war dadurch binnen einer Sekunde an den Terroristen herangekommen.
Bin Saddams Pistole bellte einmal, die Kugel traf Reid aus kürzester Entfernung in die Brust. Dem Schuss folgte sofort ein weiterer, dieser kam von Talia hinter ihm.
Die Kugel riss Saddams Daumen sauber von seiner Hand.
Der Iraker schrie, als der Detonator durch die Luft fiel. Reid ignorierte den brennenden Schmerz in seiner Brust, während er nach vorn auf seine Ellenbogen sprang und seine Hände hervorstreckte.
Der Detonator fiel direkt in seine Hände.
Er atmete tief vor Erleichterung durch, was erneut den intensiven Schmerz durch seinen Körper sandte. Er rollte sich herum und überprüfte seine Einsatzweste. Das Material hatte die neun Millimeter Kugel aufgehalten, obwohl sie aus nur sechzig Zentimetern Entfernung abgefeuert wurde.
Sie muss wohl mit Graphene verstärkt sein, bemerkte er. Komposit-Karbonfasermaschen, einhundert Atome breit. Nicht wahrnehmbar, aber stärker als Stahl. Die Schussstelle hinter der Weste wäre fürchterlich geprellt und schmerzhaft, aber er war nicht tot. Er zog die Kugel aus der Weste und warf sie zur Seite.
Dann kniete er und trennte vorsichtig die beiden dünnen Metalldrähte von einem Block C-4 an der Weste des Journalisten und entschärfte somit den Plastiksprengstoff.
„Idan Mizrahi?” fragte er, als er den Leinensack vom Kopf des Mannes zog. Der Journalist blinzelte ihn an, die Augen des jungen Mannes waren aufgequollen und gerötet. „Geht es Ihnen gut?” Es schien, als verstünde er Reid nicht, so erschüttert war er von der Erfahrung. Reid schnitt durch die Fesseln und half ihm zu einem Stuhl, der in der Nähe stand. „Setzen Sie sich einen Moment”, wies er ihn an. „Das hier ist noch nicht ganz vorbei. Was auch immer geschieht, ich möchte, dass Sie
Reid sprang beim plötzlichen Knall eines Schusses auf. Er wirbelte herum, sein Mund vor Schock geöffnet, als er sah, wie Talia über Awad bin Saddams Körper stand, eine frische Schusswunde in seiner Stirn. In einer seiner leblosen Hände lag die schwarze Pistole.
„Er griff nach seiner Waffe”, erklärte sie kurz.
„Und du hättest ihn nicht einfach entwaffnen können?” fragte Reid ungläubig.
„Ich bin bei Mossad. So entwaffnen wir Leute wie ihn”, gab sie zurück, als ob das alles erklärte. „Der hält nie wieder eine Waffe. Oder einen Detonator.” Sie zeigte auf die kleine, schwarze Kiste, die Reid immer noch in der Hand hielt.
Ich schätze, wir werden bin Saddam jetzt nicht mehr verhören, dachte er bitter, als er den Detonator in seine hintere Hosentasche steckte. Er hob seine Glock auf, übergab die Jericho an Talia und machte eine Geste in Richtung der schmalen, geschlossenen Tür, die bin Saddam im Blick behalten hatte.
„Fertig?” fragte er und stellte sich an eine Seite der Tür.
„Fertig”, bestätigte sie von der anderen Seite, ihre Pistole erhoben.
Reid reichte nach dem Knauf. Als er ihn drehte, zersplitterte die Tür von innen durch eine lange Salve Dauerfeuer.