KAPITEL VIERZIG
Direkt vor dem Queens-Midtown Tunnel griff Maria in ihre schwarze Tasche und zog zwei silberne Koffer heraus. Sie benutzte den geschlossenen Kofferraumdeckel eines in der Nähe stehenden Polizeiwagens als eine Unterlage und öffnete den ersten Koffer. Das Fernsteuersystem öffnete sich wie ein Laptop-Computer. Es hatte einen kleinen silbernen Steuerknüppel in der Mitte.
Der zweite Koffer enthielt ein sehr kleines, extrem leichtes, dreieckiges Objekt, dessen Erscheinungsbild dem des F-117 Blackbird sehr ähnlich war, der dazu diente, heimlich Sprengköpfe über feindliche Zonen abzuwerfen.
Maria hob sie vorsichtig an die Drohne fühlte sich an, als ob sie aus Plastik wäre und zerbrechen könnte, falls sie herunterfiel und stellte sie auf das Dach des Autos. Sie nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie das Kontrollfeld untersuchte und versuchte, sich an die kurze Bedienungsanleitung zu erinnern, die Bixby ihr gegeben hatte.
„OK”, sagte sie zu sich selbst. „Ich kann das.” Sie gab die Initiationssequenz auf der Tastatur ein und die kleine Drohne begann zu schwirren, hob ein paar Zentimeter vom Dach des Autos ab. Maria nahm den Steuerknüppel in die Hand und zog ihn sanft zurück.
Die Parasitendrohne schoss plötzlich etwa acht Meter in die Höhe, die Kontrollen waren sehr empfindlich. Sie fuhr leicht nach links und dann nach rechts, probierte die Sensibilität und Reaktion der Drohne aus. Sie flitzte hin und her wie ein Kolibri.
„Na gut. Jetzt die Kamera...” Sie legte einen Schalter auf dem Kontrollfeld um und der Bildschirm vor ihr kam zu Leben. Er zeigte die Straße und den Verkehrsstau vom Blickwinkel der Drohne aus. Mit einer Hand hielt sie den Steuerknüppel, mit der anderen stellte sie die Kamera so ein, dass sie einen Blickwinkel von etwa fünfundvierzig Grad von der Position der Drohne aus hatte. Ich glaube, ich hab’s geschafft. Sie drückte den Steuerknüppel nach vorne und schickte die Parasitendrohne über den East River.
Durch die Kameralinse der Drohne konnte sie eine Handvoll Boote auf dem Fluss sehen Segelschiffe, eine Passagierfähre, die parallel zu Manhattan fuhr, ein paar Motorboote. Die sind da draußen, in diesem Augenblick. Doch der Zweck des Parasiten war es nicht, diejenigen zu finden, die diese Drohne kontrollierten.
Maria setzte sich auf den Beifahrersitz des unverschlossenen Polizeiwagens und stellte das geöffnete Fernsteuersystem auf ihren Schoß, während sie einen Anruf über das Satellitentelefon tätigte und seinen Lautsprecher anstellte.
„Hier spricht Bixby.”
„Funktioniert der Parasit auch unter Wasser?” brach sie nervös heraus, während sie die Drohne senkrecht vom Midtown Tunnel wegsteuerte.
„Was?”
Maria brummte verärgert. „Johansson hier. Ist die Parasitendrohne tauchfähig?”
Er atmete laut aus. „Theoretisch? Schon. In der Praxis? Ich könnte es nicht sagen...”
Sie unterdrückte den Drang, durch das Telefon zu fluchen und fragte stattdessen durch zusammengebissene Zähne: „Was bedeutet das?”
„Der Parasit wurde entworfen, um Land- und Luftdrohnen zu kontrollieren”, erklärte Bixby schnell. „Er mag zerbrechlich erscheinen, doch er hält schweren Regen und Windwiderstand aus. Er ist, an und für sich, wasserdicht. Doch ich habe ihn niemals unter Wasser ausprobiert. Ich befand es nicht für notwendig.”
„Es ist jetzt notwendig. Ich will nur wissen, ob er funktionieren wird.”
„Ja”, bestätigte Bixby. „Er wird funktionieren... doch er wurde nicht dazu entworfen, unter Wasser gefahren zu werden. Du wirst viel Geschwindigkeit und fast alle Manövrierfähigkeit verlieren. Du kannst eine Unterwasserdrohne nur stoppen, indem du in der Luft vor sie fliegst und den Parasiten dann in ihre Laufbahn tauchst. Denk auch dran, dass der Parasit sich in einem Umkreis von etwa fünfzehn Metern befinden muss, um effektiv eine Wirtdrohne lange genug außer Gefecht zu setzen.”
„OK.” Maria legte einen Schalter um, der das Infrarot des Parasiten aktivierte. Das wäre ihre beste Chance, um die Unterwasserdrohne zu sehen, wenn sie sich annäherte. „Bleib dran. Ich brauche deine Hilfe hierbei.”
„In Ordnung.” Bixby zögerte einen Moment bevor er hinzufügte: „Johansson, du weißt, dass sie dich durch diesen Anruf an deinem Standpunkt orten können, oder?”
„Ja”, antwortete sie, „ich weiß.” Sie lenkte den Parasiten über den East River und betrachtete durch die Infrarotkamera, was unter ihr geschah. Sie ignorierte alle Hitzesignale, die sesshaft waren oder sich langsam bewegten die Boote auf dem Wasser und suchte nach allem, was sich schnell bewegte, insbesondere auf den Queens-Midtown Tunnel zu.
Sie wusste leider nicht, ob die Drohne sich von Norden oder Süden aus annäherte.
„Vorausgesetzt es handelt sich um die Art von Unterwasserdrohne, die ich kenne”, sagte Bixby durch den Lautsprecher des Satellitentelefons, „wird sie ziemlich schnell anfahren, mit einer Geschwindigkeit von etwa fünfundvierzig Knoten das sind etwa achtzig Stundenkilometer. Der Parasit ist in der Luft viel schneller, doch wenn er erst mal im Wasser ist, dann wird er nicht mal mehr halb so schnell vorankommen, weshalb du ihn vor die Unterwasserdrohne setzten musst. Lass mich hier mal kurz ausrechnen, wie weit du ...”
Maria hörte ihn kaum, da sie so konzentriert auf den Fluss starrte. Sie bekam den Parasiten immer mehr in den Griff, verwendete nur die Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger am Steuerknüppel, führte winzige Anpassungen an seiner Höhe aus und verlegte die Flugbahn minutiös.
„Ich sehe nichts aus dem Süden ankommen”, bemerkte sie. „Ich werde ihn umdrehen und den Norden überprüfen ” Sie hielt abrupt inne, als ein kleiner, dünner Streifen Rot plötzlich auf dem überwiegend blauen Bildschirm vor ihr auftauchte. Er bewegte sich recht schnell, selbst verglichen mit der Geschwindigkeit des Parasiten.
„Oh mein Gott”, murmelte sie. „Bixby, ich habe sie auf dem Bildschirm.” Es gab keinen Zweifel daran. Das orange-rote Hitzesignal auf dem Bildschirm war zu klein, um ein Boot zu sein und bewegte sich zu schnell, um etwas anderes als die Unterwasserdrohne zu sein. „Ich sehe sie! Sie ist etwa...” Sie klinkte sich mit dem Tachymeter des Parasiten ein. „Sie ist etwa siebenhundert Meter vom Tunnel entfernt, steuert direkt auf die Manhattan-Seite zu.”
„Wenn sie sich mit Höchstgeschwindigkeit bewegt, dann schlägt sie in etwas weniger als dreißig Sekunden ein”, informierte Bixby, seine Stimme stieg vor lauter Panik eine Oktave an. „Stell den Parasiten vor sie, sofort.”
„Wie weit?”
„Äääh...”
„Bixby!” zischte Maria.
„Mindestens zweihundert Meter”, riet der Ingenieur, „nein, besser zweihundertfünfzig.”
Maria drückte den Steuerknüppel so fest nach vorn, dass sie befürchtete, sie könnte den dünnen Metallstab zerbrechen. Der Parasit schoss nach vorn, auf die Drohne zu. Die Geschwindigkeit verringerte sich schnell auf zweihundertfünfzig Meter.
Eiskalte Finger einer wahrhaften Angst umschlangen ihren Hals, die es ihr erschwerten, zu atmen. Wir verabschieden uns nicht, hatte sie Kent gesagt. Nicht jetzt, niemals. Bei jedem Einsatz ihre ganze Karriere hinweg war sie sich vollkommen bewusst, dass es ihr letzter sein könnte, und sie bereitete sich immer mental und emotional auf diese Möglichkeit vor.
Doch dieses Mal war es anders. Ihr Leben stand nicht auf dem Spiel. Sie saß sicher auf dem Rücksitz eines silbernen Luxusautos, etwa einen halben Kilometer vom beabsichtigten Aufschlagpunkt entfernt und beobachtete einen roten Punkt auf einem Bildschirm, der eine Bombe darstellte, die fähig war, mehrere tausend Menschen zu töten Watson eingeschlossen. Agentin Mendel eingeschlossen.
Kent eingeschlossen.
Marias Lunge brannte, als sie bemerkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie atmete durch ihre Nase ein, als der Abstand sich auf zweihundertfünfzig Meter verringerte. Dann schaltete sie die Sicht zur Digitalkamera des Parasiten um und zielte die Drohne nach unten, auf die Wasseroberfläche des East Rivers zu.
„Wir tauchen jetzt unter”, sagte sie und ihre Stimme klang dabei schaurig ruhig, als wäre es nicht die ihre.
Das Bild auf dem Schirm wackelte heftig, als die Drohne auf das Wasser traf. Für einen Augenblick sah sie nichts außer Blasen, dann wurde der Bildschirm schwarz. „Scheiße”, murmelte sie, „habe die Kamera verloren.” Sie schaltete zurück auf Infrarot und suchte nach der Unterwasserdrohne.
Der Bildschirm war fast ganz blau, es wurde dunkler, als der Parasit tiefer in den East River tauchte. Bixby hatte recht. Sie verlor fast alle Geschwindigkeit. Sie drückte den Steuerknüppel so weit nach vorn wie möglich und es schien immer noch, als kämpfte der Parasit darum, voranzukommen. Sie zog ihn leicht nach links und er machte einen weiten Bogen.
Falls die Unterwasserdrohne den Kurs ändert, hole ich sie nie ein...
„Johansson?” Die dringliche Stimme des Ingenieurs schnitt durch ihre Gedanken. Sie hatte Bixby fast vergessen. „Denk dran, dass fünfzehn Meter der benötigte Mindestabstand ist, um die Drohne zu deaktivieren, und du hast nur ein paar Sekunden, um das zu schaffen.”
„OK.” Maria hielt den Steuerknüppel nach vorn, als der Parasit weiter nach unten schwamm, versuchte, auf die gleiche Tiefe wie die Unterwasserdrohne zu gelangen. Sie konnte das Hitzezeichen nicht sehen, doch das Tachymeter zeigte an, dass die Entfernung sich schnell verringerte. Sie war jetzt schon weniger als zweihundert Meter entfernt. „Sie kommt...” warnte sie.
„Hör gut zu”, sagte Bixby schnell. „Wenn sie sich innerhalb von fünfzehn Metern vom Parasiten befindet, dann drücke und halte den grünen Knopf links vom Steuerknüppel. Drücke dann “control-enter” auf der Tastatur. Das deaktiviert die Frequenz der Unterwasserdrohne hoffentlich lang genug, um die Kontrolle zu übernehmen.”
Sie war jetzt weniger als hundert Meter entfernt. „Und was dann?” fragte Maria.
„Lass uns hier einfach Schritt für Schritt vorgehen”, riet Bixby ihr.
Sie brummte frustriert und drehte langsam den Parasiten um. Jetzt erschien die Drohne auf ihrem Bildschirm, der orange-rote Fleck kam schnell von Süden aus heran. Bei der momentanen Tiefe des Parasiten schien es, als tauche die Unterwasserdrohne direkt über ihm hinweg.
„Fünfzig Meter...” bemerkte sie und war von dem nervösen Ton ihrer eigenen Stimme überrascht. „Vierzig, dreißig, zwanzig...”
„Maria haute mit ihrem Finger auf den grünen Knopf, ließ den Steuerküppel los und drückte die beiden Tasten mit ihrer anderen Hand. Sie hielt den Atem an, all drei Tasten waren gleichzeitig gedrückt.
Die Torpedo-förmige Figur flog auf ihrem Bildschirm vorbei und und setzte ihren Weg fort.
Es hat nicht funktioniert.
Ihre Kehle verengte sich, ihre Finger zitterten auf den Tasten.
Es hat nicht funktioniert.
„Johansson?” schrie Bixby fast. „Maria?”
„Es hat nicht funktioniert”, murmelte sie laut. „Sie ist vorbeigezogen. Es hat nicht angehalten.”
„Sie wird nicht anhalten”, erklärte der Ingenieur schnell. „Trägheit. Wird sie langsamer?”
Maria ergriff den Steuerknüppel und lenkte den Parasiten herum, um die orange-rote Form zu sehen. „Sie...” Die Entfernung auf dem Tachymeter wurde wieder größer jedoch viel langsamer, als sie es eigentlich sollte. „Ja. Sie wird langsamer!”
Bixby stieß ein tiefes Seufzen aus. „Gut. Du hast die Frequenz deaktiviert. Sie ist tot im Wasser, aber nicht lange. Steuere den Parasiten rüber zu ihr und ich lese dir die Portierungssequenz vor.”
Es hat funktioniert. Lieber Gott, es hat funktioniert. Sie bemerkte plötzlich, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte, als hätte es gerade neu begonnen.
„Gib sie mir”, antwortete sie, während sie den Steuerknüppel drückte und den gleitenden Parasiten auf die langsamer werdende Unterwasserdrohne zusteuerte.
Alpha-Niner-Romeo-Zero-Zero-Charlie ”, las Bixby vor und sprach dabei jede Silbe vorsichtig aus. „Hast du’s? Alpha-Niner-Romeo-Zero-Zero-Charlie .”
„Ich hab’s. Verstanden.” Maria gab die Portierungssequenz auf der Tastatur ein. Ihre Ansicht auf dem Infrarotbildschirm veränderte sich, als der Parasit sich um fünfundvierzig Grad drehte. „Was macht der da? Der bewegt sich von allein...”
„Lass ihn arbeiten”, bat Bixby sie. „Er dockt sich automatisch an und klont die Frequenz. In einem Augenblick wirst du die volle Kontrolle über die Unterwasserdrohne haben.” Er lachte kurz vor Erleichterung auf. „Gratulation, Agent Johansson. Sie haben gerade ein großes Terroristenattentat auf amerikanischem Boden verhindert.”
„Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nicht so viel Angst.” Maria bedeckte sich ihr Gesicht mit beiden Händen und atmete in sie ein. „Ich muss Kent anrufen. Aber zuerst: was mache ich jetzt mit diesem Ding?”
„Jede von uns entworfene Drohne mit einer Traglast hat einen Entwaffnungsbefehl. Lass ihn mich herausfinden”, antwortete Bixby. „Steuere sie in der Zwischenzeit einfach vom Tunnel weg.”
„Ja.” Der Parasit dockte sich an und Maria zog den Steuerknüppel sanft nach hinten und links. Der Parasit, der jetzt an der Unterwasserdrohne befestigt war, glitt vorwärts und hinauf. Sie hatte jetzt die Kontrolle über sie, genau wie Bixby es versprochen hatte. Sie steuerte sie parallel entlang zu der langen, dicken Figur auf dem Infrarotbildschirm, die den Queens-Midtown Tunnel darstellte und drehte dann ab nach Süden, auf die offenen Gewässer des East Rivers zu.
„Was...?” Marias Augenbrauen zogen sich zusammen und ihr Mund fiel auf.
Was sie da sah, war unmöglich. Inmitten des blauen Wassers sah sie eine weitere Figur orange-rot, dünn und schmal und nur zu bekannt.
„Das ist noch eine”, sagte sie fast in einem Flüstern. „Bixby, da ist eine weitere Drohne.”