KAPITEL EINUNDVIERZIG
„Was?!” rief der Ingenieur.
„Da ist eine zweite!” Maria drückte den Steuerknüppel nach vorne und schickte die Unterwasserdrohne auf die neue Bedrohung zu. „Eine weitere Unterwasserdrohne, die sich der Queens-Seite des Tunnels annähert.” Das eiskalte Prickeln machte sich wieder auf ihrem Rückgrat breit. Das war ihr Plan nicht eine, sondern zwei Drohnen. Zersprenge jede Seite des Tunnels und lasse die Leute darin sterben. Sie hatte keine Waffen mehr. Der Parasit konnte nicht von der ersten Unterwasserdrohne abgedockt werden, sonst fiele die Kontrolle wieder in die Hände der Brüderschaft, wo auch immer die sich befänden.
Das stimmt aber nicht ganz. Ich habe eine Waffe. Sie hatte eine Unterwasserdrohne unter Kontrolle.
„Bixby”, erklärte sie ruhig, „ich werde versuchen, mit dieser Drohne die andere zu rammen.”
Der Ingenieur war einen Moment still. „Das könnte funktionieren”, murmelte er schließlich. „In welcher Entfernung befindet sie sich?
„Ähm...” das konnte man nur schwer feststellen. Sie zielte auf die zweite Drohne und las die Entfernung als achthundertfünfzig Meter ab, sie wurde schnell kleiner. Doch die Entfernung zwischen Drohne und Tunnel schien kürzer zu sein. „Sie ist zu weit weg. Ich glaube nicht, dass ich es schaffe. Was mache ich? Bixby, was soll ich tun?”
„Es könnte da einen Weg geben”, sagte er. „Geh so nah ran wie möglich und dann...” Der Ingenieur hielt inne. „Und detoniere dann.”
„Was?” Maria hielt die Drohne auf dem Kurs in Richtung neuer Bedrohung, wagte es nicht, ihre Augen vom Bildschirm abzuwenden. „Du willst, dass ich sie in die Luft jage?”
„Ziele nach unten, auf den Boden des Flusses. Mit ein wenig Glück wird die Schockwelle, die du verursachst, die Explosion der zweiten Drohne auslösen...”
„Wird das funktionieren?”
„Ich... ich weiß es nicht”, gab er zu. „Wenn du nah genug dran bist, so nah wie möglich bevor sie in den Tunnel kracht, dann vielleicht schon.”
„Was, wenn sie zu nah ist? Wird sie den Tunnel beschädigen?”
„Ich weiß es nicht, Maria”, erwiderte er aufrichtig, „aber mir fällt nichts anderes ein.”
Als die Entfernung zwischen den zwei Drohnen sich verringerte, wurde ihre Vermutung schmerzhaft offensichtlich. Sie würde es definitiv nicht schaffen. Die zweite Drohne würde in den Tunnel einschlagen, bevor sie sie erreichen könnte.
Sie streckte resolut ihr Kinn hervor. Als Kent in Israel die erste Unterwasserdrohne von der USS New York weggelenkt hatte und sie detonierte, war die Explosion stark genug, um das Kampfschiff zu erschüttern, sogar aus mehreren hundert Metern Entfernung.
Das wird funktionieren, sagte sie zu sich. Die eigentliche Frage war, ob die Drohne zu nah am Tunnel wäre... doch es blieb keine Zeit mehr, um zu spekulieren. Sie näherte sich an die zweite Drohne an, weniger als zweihundertfünfzig Meter Entfernung, während sie auf das Queens-Ende des Midtown Tunnels zuraste.
Zu nah. Sie kommt zu nah heran. Jetzt oder nie.
„Wenn irgendwer da oben zuhört”, flüsterte sie laut, „dann lass das bitte funktionieren.”
Maria drückte den Steuerknüppel nach vorn und ließ die angedockte Unterwasserdrohne auf den Grund des East Rivers zurasen.
Sie hörte keine Explosion, fühlte keine Schockwelle. Die Drohne stieß gegen den Grund des Flusses und war vermutlich detoniert. Der einzige Hinweis darauf war der Bildschirm, der aufflackerte und dann ausfiel.
„Das war’s”, berichtete sie leise. „Es ist getan. Sie ist detoniert. Woher wissen wir, ob es funktioniert hat?”
„Das können wir nicht wissen”, erklärte Bixby ihr. „Noch nicht.”
Maria drückte das Fernsteuersystem von ihrem Schoß und stieg taumelnd aus dem Auto. Ihre Beine fühlten sich schwach und zittrig an. Draußen hupten weiterhin Autos und Fahrer schrien sich gegenseitig an. Dutzende von Fußgänger kamen in ihre Richtung gelaufen der Tunnel wurde evakuiert doch ansonsten gab es keine Beweise dafür, dass ihr Plan funktioniert hatte. Es gab kein Anzeichen dafür, dass die Drohne angehalten wurde, kein Anzeichen dafür, dass das andere Ende des Midtown Tunnels, das über zwei Kilometer entfernt war, nicht von einer starken Bombe getroffen wurde.
„Johansson?” Sie hörte die leise Stimme aus der offenen Autotür, als Bixby durch das Telefon nach ihr rief. Sie schnappte es. „Hör mal. Der Parasit kann noch mehr. Als er sich angedockt hat, sollte er den etwaigen Standpunkt der Übertragung festgestellt haben.”
„Du meinst... er kann uns sagen, wo sie die Brüderschaft versteckt?”
„Ja”, bestätigte Bixby. „Ich erkläre es dir Schritt für Schritt und dann musst du sie finden. Sie hatten zwei. Es könnte noch mehr geben.”
*
Reid konzentrierte sich laserscharf auf den engen Zementfußweg vor ihm, bevor er das Motorrad auf fünfzig und dann siebzig Stundenkilometer beschleunigte. Talia hielt sich hinten an ihm fest. In einigen Momenten wären sie auf der Queens-Seite des Tunnels, doch Reid konnte nicht viel weiter denken. Er war viel mehr mit der zehn-Zentimeter-Fehlerspanne beschäftigt, die er auf beiden Seiten der Lenkstange hatte, und die sie vor einem hässlichen Unglück bewahrte.
Doch ihm ging trotzdem nicht das Bild des kleinen Mädchens und ihrer jungen Mutter aus seinen Gedanken. Sie bräuchten mehrere Minuten, um den Manhattan-Ausgang des Tunnels zu erreichen und er war sich nur zu bewusst, dass die Explosion jede Sekunde geschehen könnte, dass der Midtown Tunnel um sie herum zusammenfallen könnte, und dass sie, genau wie alle anderen hier unten, unter Tonnen von Zement, Stahl und Wasser zerdrückt würden
Der Boden unten den Reifen des Motorrads bebte so plötzlich wie ein Herzinfarkt. Jeder Muskel in Reids Körper zog sich zusammen, als ob sie sich schon vor seinem Gehirn bewusst wurden, dass es zu spät war. Der Tunnel stöhnte gewaltig unter dem Einschlag.
Es geschah zwar in einem Augenblick, doch für ihn fühlte es sich an, als ob der Zusammenstoß mehrere Minuten dauerte. Zuerst drehte sich das Vorderrad des Motorrads und riss die Lenkstange mit sich. Er konnte nicht rechtzeitig reagieren. Das vordere Ende schlug gegen das Metallgeländer auf ihrer Linken, während das Hinterrad ausschlug und gegen die gebogene Zementwand auf ihrer Rechten rutschte. Das Motorrad schlitterte so für einige Meter seitwärts, bis das Lenkrad sich im Geländer verfing und das Motorrad urplötzlich von achtzig Stundenkilometern aus in den Stand riss.
Reid wurde vornüber geschleudert. Sein Körper segelte durch die Luft und über das Geländer. Er war sich zumindest teilweise bewusst, dass Talias Arme nicht mehr um seine Taille geschlungen waren.
Er schaffte es, beide seiner Arme vor sein Gesicht zu strecken, bevor er auf ein Autodach aufschlug und abprallte, dessen Fenster nach außen explodierten. Das Letzte, was er sah, bevor alles schwarz um ihn wurde, waren die dunklen Schatten der Fahrbahn, die auf ihn zurasten.
*
Awad bin Saddam starrte die beiden dunklen Bildschirme an. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie zu bersten drohten. Seine Fäuste waren so eng geballt, dass seine Fingernägel sich in das Fleisch seiner Handinnenflächen gruben.
Da war ein Objekt, eine winzige Form im Wasser, die kurz auf Ahmeds Bildschirm erschien. Augenblicke später war sein Fernsteuersystem ausgefallen, lange bevor die Drohne in die Manhattan-Seite des Tunnels schlagen konnte. Weniger als eine Minute später fiel auch Hassans Bildschirm abrupt aus. Die Drohne befand sich weniger als hundert Meter von der Queens-Seite des Tunnels entfernt.
Awad wusste nicht, was geschehen war, doch zwei Dinge waren ihm klar. Keine der Drohnen hatte ihr beabsichtigtes Ziel erreicht. Da war jemand, der sich nicht nur ihrer Anwesenheit sondern auch ihrer Pläne bewusst war.
Der Libyer, dachte er verbittert. Der Libyer wurde gefangen und hat uns verraten.
Der Zorn stieg langsam in ihm auf, brodelte tief aus seinem Inneren, als er da stand und vor sich hinstarrte, bis er vor Wut zitterte.
„Was... was ist passiert?” wagte es Ahmed, zu fragen. „Hat’s funktioniert?”
Awad schnappte sich die silberne Pistole, die vor ihm lag und schoss Ahmed in die Stirn. Blut und Gehirmasse zerspritzten auf den Wänden der Kabine. Ahmeds Körper fiel zu Boden und Awad trat ihn in die Rippen, immer wieder. Er zischte Flüche auf arabisch, während er auf die frische Leiche einschlug.
Dann drehte er sich mit bebender Brust um und zielte mit der Waffe auf Hassan. Der Feigling zuckte zurück, seine Augen fest zugekniffen und die Hände vor sein Gesicht gehalten.
Nein, dachte Awad. Vielleicht brauchst du noch jemanden, um dir bei der Flucht zu helfen. Überraschenderweise hatte Hassan noch nicht seine Nützlichkeit für ihn verloren.
Awad ließ die Pistole auf den Tisch fallen und setzte sich schwer in Ahmeds Stuhl. Er schob das jetzt unnütze Fernsteuersystem aus dem Weg und zog die dritte Einheit heran, jene, welche die letzte Drohne steuerte diejenige, die laut seines Plans einschlagen sollte, nachdem die ersten beiden ihr Ziel gefunden hatten.
„Ich werde das selbst machen”, grummelte er, als er die Startsequenz eingab. Der Bildschirm kam zum Leben, die Drohne befand sich im Wasser, wo die Upper Bay und der East River aufeinandertrafen. Nachdem er sie aktiviert hatte, probierte Awad den Steuerknüppel aus, um sicherzustellen, dass die Drohne richtig funktionierte. Das Signal war zwar schwach, doch es bestand.
„Mein Vater”, sagte Hassan leise.
„Was?” Awad blickte nicht von den Kontrollen auf. „Sprich lauter.”
„Mein Vater” wiederholte Hassan, doch er sprach nicht lauter. „Hast du ihn umgebracht?”
„Was?” Awad schaute schließlich auf und seine Augen verengten sich. Hassan stand nur wenige Meter von ihm entfernt in seiner Hand befand sich die silberne Pistole, die Awad auf den Tisch gelegt hatte. Er hielt sie schlaff an seiner Seite.
„Nein”, antwortete Awad vorsichtig. „Natürlich nicht. Abdallah bin Mohammed ist für das Überleben der Brüderschaft verantwortlich. Ich habe ihm mein Leben zu verdanken, genau wie du auch
„Dennoch kann ich deinem Wort nicht vertrauen.” Hassan erwiderte Awads Blick nicht. Er starrte auf den Boden der Kabine. „Du hast gelogen, als du uns sagtest, dass er dich als Anführer ernannte. Du hast gelogen, als du sagtest, dass du ihm von deinem großen Plan berichtet hattest. Und es war ebenfalls eine Lüge, dass er ihn befürwortete.” Hassan schüttelte seinen Kopf. Die Hand, in der er die Pistole hielt, zitterte. „Jetzt bin ich ruiniert. Die Reichtümer meiner Familie sind verplempert. Unser Lager wurde durchsucht und beschlagnahmt. Die einzigen zwei überlebenden Mitglieder der Brüderschaft stehen hier. Dein Plan hat versagt, Awad.”
Awad sprang plötzlich auf, sein Gesicht vor Zorn verzogen. „Es bleibt noch Zeit!” rief er.
„Nein. Die wissen Bescheid über uns. Die wissen, dass wir hier sind. Die werden kommen.” Hassans Lippe zitterte. „Niemand wird unsere Namen kennen.” Er erhob die Pistole, der Lauf zielte auf Awad doch er bewegte sich weiter nach oben, bis er unter sein eigenes Kinn geklemmt war.
Hassan—”
Er drückte auf den Abzug, verspritzte das Hinterteil seines eigenen Kopfes gegen die Decke der Bootskabine. Hassans Kopf schnappte nach hinten, während sein Körper vornüber fiel und dumpf zu Boden krachte.
Awad zuckte leicht bei dem Knall zusammen. „Feigling”, murmele er in Richtung Boden. Dann ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen und übernahm die Kontrolle des Fernsteuersystems.
Es blieb noch Zeit und er hatte noch eine Drohne, selbst wenn er den Rest des Attentats selbst durchführen musste. Solange er weiter atmete, gab es auch noch die Brüderschaft.
Sie würden den Namen Awad bin Saddam kennen.