Noch keine zwanzig ist er und weiß sehr genau, was er will. Kaum hat er seinen Militärdienst abgeleistet, kennt er nur noch ein Ziel: Paris! Ende Dezember 1922 bricht er alle Brücken ab und besteigt in Lüttich, seiner Geburtsstadt, den Nachtzug nach Paris – wild entschlossen, dort als Schriftsteller zu reüssieren. Er kommt in einer Pension im 17. Arrondissement unter, verdingt sich als Faktotum bei dem bestens vernetzten Schriftsteller Binet-Valmer und tut, was er fast sein ganzes Leben tun wird: in rasender Geschwindigkeit schreiben und veröffentlichen.
In rascher Folge entstehen Geschichten, darunter etliche erotische, die »contes galants«, die in nicht unbedingt hoch seriösen Publikationen erscheinen. Doch Georges Simenon will mehr und sich von Stufe zu Stufe auf der literarischen Anerkennungsleiter emporarbeiten. So wendet er sich an die Tageszeitung Le Matin, deren Chefredakteur Henri de Juvenel mit der Schriftstellerin Colette verheiratet ist. Die Fünfzigjährige ist dank Romanen wie La vagabonde, Mitsou oder Chéri längst zur großen, noch nicht so alten Dame des Pariser Literaturlebens avanciert und verantwortet das literarische Feuilleton des Matin.
Die Position bringt es mit sich, dass Colette mit Manuskripten überschüttet wird. Auch Simenon gehört zu denjenigen, die gerne im Matin publizieren würden, und reicht – mit »Georges Sim« gezeichnete – Texte ein. Anfangs ohne Erfolg, Simenon erhält seine Arbeiten postwendend zurück. Bis zu einem Mittwoch im Sommer 1923, als man ihn auffordert, in Colettes Büro vorzusprechen. Er lässt sich nicht zweimal bitten und ist von der Erscheinung der berühmten Kollegin tief beeindruckt. Erfreuliches hat sie ihm freilich nicht mitzuteilen, stattdessen einen Ratschlag, den der Belgier nie vergessen wird: »Mein kleiner Sim, ich habe Ihre letzte Erzählung gelesen. Irgendetwas stimmt nicht damit. Sie sind zu literarisch. Sie dürfen keine Literatur schreiben. Keine Literatur! Streichen Sie alles Literarische, und Sie werden vorankommen.«
Simenon hat diese Begegnung häufig erzählt. Bis an sein Lebensende hält er das Gespräch mit Colette für die entscheidende Initiation seines Schreibens. Er nimmt sich den Rat zu Herzen und beginnt, seine Prosa kompromisslos zu überarbeiten. Was vor allem bedeutet, dass er versucht, alles Überflüssige auszumerzen: Adjektive, Adverbien und jedes Wort, das auf dem Papier steht, um Effekt zu machen. »Schöne Sätze« werden ausgemerzt, und so entsteht – Colette sei Dank! – jene unnachahmliche Prosa, für die Simenon so wenige Vokabeln braucht wie kein anderer Autor seines Ranges.
Es dauert trotzdem eine Weile, bis sich die gestrenge Colette zufrieden zeigt. »Immer noch zu literarisch«, lautet ihr Urteil, als er mit zwei weiteren Erzählungen vorstellig wird. Doch zuletzt findet Simenon Gnade vor den Augen der Herrin: Im September 1923 erscheint im Matin Simenons erste Arbeit: »La petite idole« – der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit.
Eine »riesige Kerze« schulde er Colette für diese Hilfestellung, hat Simenon später gesagt, einen Rat, der den jungen, ehrgeizigen Autor, wie sein Biograph Stanley G. Eskin schrieb, vor »literarischer Aufgeblasenheit« bewahrte und ihn auf den »Pfad der Schlichtheit und Direktheit« lenkte.
Man sieht: Große Literatur entsteht manchmal, wenn man darauf verzichtet, Literatur zu schreiben.