Unruhig rutscht Peter Härtling auf seinem Sessel herum. Man hat ihn eingeladen ins Hamburger Literaturhaus, um mit zwei Journalisten über aktuelle Kinder- und Jugendbücher zu sprechen. Er macht das gern; schließlich arbeitete er in seinen jungen Jahren für Zeitungen und Verlage, und mit Ben liebt Anna gelang ihm Ende der 1970er Jahre ein Kinderbuchklassiker.
Härtling ist ein freundlicher Zeitgenosse, doch an diesem Abend, dem 4. April 2013, echauffiert er sich, noch ehe die Diskussion wirklich einsetzt. Er schiebt seinen massigen Oberkörper nach vorne, straft seine Nebensitzer mit strengen Blicken ab und fühlt sich – gleich bei seinem allerersten Statement! – dazu berufen, grundsätzlich zu werden: »Sprechende Tiere in Büchern lehne ich prinzipiell ab!«
Kaum ist dieser fundamentale Satz gefallen, lehnt sich Härtling zurück und genießt das verblüffte Schweigen ringsum. Sprechende Tiere … Man sieht, wie es in den Köpfen zu rattern beginnt, wie viele die Lektüren ihres Lebens blitzschnell durchforsten … und betroffen feststellen, dass Tiere, die sich nicht mit Muhen, Krähen und Bellen verständigen, in der Weltliteratur gar nicht so selten sind. Man denkt an Pu der Bär, Die wundersame Reise des Nils Holgersson, Alice im Wunderland, Das Dschungelbuch, Farm der Tiere oder, von mir aus, an Günter Grass’ Die Rättin … und stellt unweigerlich fest, dass es nicht die allerschlechtesten Texte sind, in denen Tiere als sprechende Akteure auf den Plan treten.
Peter Härtling kennt diese Bücher, diese Gegenbeispiele, wenn man will, natürlich, doch als alter Fahrensmann des Literaturbetriebs weiß er auch, dass man gelegentlich Pflöcke einrammen und starke Meinungen vertreten muss, um sich die Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern. Und ja, es ist beglückend, wenn einer auf die Bühne tritt und nicht herumeiert. Wir wissen es doch alle: Es lässt sich recht zweifelsfrei feststellen, nach wie viel Metern eine Weitspringerin in der Sandgrube gelandet ist und wer die schnellste Runde in der Formel 1 hingelegt hat. Die Literaturkritik indes tut sich schwer, solche klaren, objektiven Kriterien zu benennen. Man versucht, seine subjektiven Eindrücke und Wertungen zumindest mit soliden Argumenten zu unterfüttern, und tut zugleich so, als sei es ein Leichtes, ein gutes von einem schlechten Buch zu unterscheiden. Das führt nicht immer zu schlüssigen Ergebnissen, und man muss wohl über ausreichend Erfahrung verfügen, um sich klar zu positionieren, wissend, dass das im Brustton der Überzeugung geäußerte Urteil keiner soliden Überprüfung standhielte. Bücher, in denen Tiere sprechen, können keine guten Bücher sein. Peter Härtlings Diktum werde ich nie vergessen – und es hat mich dazu gebracht, über Tierromane generell nachzudenken.
Denn ehrlich gesagt: Ich mag generell keine Romane mit Tieren, ganz gleich, ob diese sprechen oder nicht. Mit Zurückhaltung nehme ich Bücher wahr, in deren Mittelpunkt Rehkitze, Pandabären oder Pferde stehen. Längst vorbei die Zeiten, da ich mich für Lassie und Fury interessierte oder Struppi, Idefix und Pluto zu meinen Comic-Helden machte. Besonders skeptisch stehe ich fiktionalen Werken mit Katzen und Hunden gegenüber, die oft ins Possierlich-Rührende abgleiten – von der neuen Mode, diese Katzen und Hunde als Kommissare oder Detektive einzusetzen, ganz zu schweigen.
Gewiss, ich weiß, die Weltliteratur hat bleibende Prosa in dieser Untergattung hervorgebracht, Thomas Manns (etwas langweilige) Geschichte Herr und Hund beispielsweise oder Marie von Ebner-Eschenbachs bewegende Novelle Krambambuli. Und ja, ich weiß auch, dass nicht alle Autoren eine Unabhängigkeit demonstrierende Katze zu Hause haben. Die Schnittmenge »Hundebesitzer/Schriftsteller« ist gar nicht so klein – man denke an Carl Zuckmayer, Robert Gernhardt, Loriot, Karen Duve oder Juli Zeh. Dennoch: Ich mag, wie erwähnt, keine Hunderomane.
In den letzten Jahren freilich scheint sich auf dem bislang katzendominierten Buchmarkt eine radikale Kehrtwende zu vollziehen. Wo bislang Katzen eindeutig die Poleposition innehatten, den einen oder anderen Verleger quasi im Alleingang ernährten und das Anthologiegeschehen beherrschten, holt der Hund mit einem Mal auf, scheint gar das Rennen zu machen. Gewiss, wir hatten schon Carsten Sebastian Henns kriminalistisch geschulte Hunde, die im Piemont Fährten lesen, doch plötzlich sind diese nicht mehr allein im Literaturzwinger. Michael Kleebergs Vaterjahre lässt die New Yorker Zwillingstürme einstürzen, während der Familienhund seines Helden Charly Renn eingeschläfert werden muss. Burkhard Spinnen entführt uns in Zacharias Katz auf ein Schiff, das vor dem Ersten Weltkrieg durch die Karibik kurvt, und nimmt einen dänischen Hundebesitzer an Bord, der mit seiner Tierliebe alle Passagiere in den Wahnsinn treibt und, als das verehrte Tier nicht mehr auffindbar ist, tragisch endet.
Am weitesten und elegantesten freilich bringt die Österreicherin Bettina Balàka den Hund nach vorne, in ihrem Roman Unter Menschen, der mit »Berti war gebürtiger Ungar« einsetzt. Indem Balàka den rabenschwarzen, aus Ungarn stammenden Mischling Berti quer durch unterschiedlichste Haushalte ziehen lässt, ihn ins Tierheim und auf öde Felder schickt oder ihn zum Tröster eines unglücklich verliebten Physikers macht, zeigt sie, wie aus einem Hundebuch ein höchst unterhaltsamer Gesellschaftsroman werden kann, in dem das Bonmot Friedrichs des Großen »Hunde haben alle guten Eigenschaften des Menschen, ohne gleichzeitig ihre Fehler zu besitzen« nicht fehlen darf.
Rätsel gibt bei der literarischen Aufholjagd des Hundes jedoch Howard Jacobsons sehr komischer Roman um den mehrfach blockierten Schriftstellers Guy Ableman auf. Das Cover von Im Zoo zeigt einen Hund mit Krone auf lila Sofakissen, ohne dass ein markanter Bezug zum Inhalt bestünde. Daran sieht man wohl besonders deutlich, wie sehr der Hund inzwischen als Marketinginstrument, als Selbstläufer gewissermaßen einsetzbar ist. Katzen dieser Welt, zieht euch warm an!
Zu all diesen Erkenntnissen hat mir Peter Härtling verholfen, irgendwie, sehen Sie mir diese Abschweifung deshalb bitte nach. Der Abend damals klang übrigens gesellig aus. Die eine oder andere lustige Tieranekdote war sicher dabei.
PS: Nach Fertigstellung dieses Manuskriptes erschien Michael Köhlmeiers Roman Matou, der der Katzenliteratur die Krone aufsetzt: Auf knapp 1000 Seiten streift die titelgebende Katze durch die Weltgeschichte. Natürlich spricht sie.