Der Zug hat Verspätung, natürlich. Unruhig sieht Hellmuth Karasek aus dem Abteilfenster. Die oberschwäbische Landschaft wärmt sein Herz … Hat er sich nicht einst bei der Stuttgarter Zeitung seine ersten Sporen als Theaterkritiker verdient? Doch heute steht ihm nicht der Sinn nach sanften Hügeln und saftigen Wiesen. Er sieht auf die Uhr, ahnend, dass die Deutsche Bahn seine Planung durcheinanderbringen wird. Dabei hat er sich alles so fein zurechtgelegt, um seinen beiden Vorlieben – Literatur und Kulinarik – gerecht zu werden.
Lesereisen sind für ihn ein Elixier. Während sich viele seiner gleichaltrigen Kollegen längst aufs Altenteil zurückgezogen haben, liebt er es noch immer, unterwegs zu sein. Er ist ein Zirkuspferd, das es in die Manege treibt. Die Menschen, die ihn vor allem aus dem Literarischen Quartett kennen, mögen ihn. Sie spüren, dass er mit Lust und Laune bei der Sache ist. Witze kann er stundenlang erzählen; da entkommt ihm keiner …
Bei einer guten Lesung muss freilich auch das Drumherum passen. Sorgfältig stimmt er sich auf die Veranstaltungsorte ein, er kennt viele der Buchhändler, die ihn einladen, persönlich, und er weiß, welche empfehlenswerten Restaurants die Kleinstädte seiner Auftritte zu bieten haben. Akribisch hat er den heutigen Abend vorbereitet. Er weiß natürlich, dass es oft schwierig ist, in der Provinz gegen 22 Uhr noch ein geöffnetes Lokal zu finden, und mit den Käseschnittchen, die man mitunter in den Buchhandlungen für ihn bereithält, gibt er sich nicht zufrieden. Deshalb hat er sich angewöhnt, vor der Lesung in aller Ruhe einzukehren. Sicher ist sicher. Wenngleich das den Magen belastet; doch mit einem Gläschen Champagner wird er schon wieder in Fahrt kommen …
Ravensburg, sein Ziel an diesem Tag, verspricht viel Gutes: eine vorzüglich geführte Buchhandlung und vor allem ein Sternerestaurant, das ihm bestens vertraut ist. Wenn da nicht diese blöde Zugverspätung wäre … Endlich fährt die Regionalbahn in den Bahnhof ein, er wirft sich in ein Taxi, checkt aufs Schnellste im Hotel ein und macht sich sofort ins Waldhorn auf. Halb sieben bereits zeigt die Armbanduhr, aber sich dieses Abendessen nehmen zu lassen kommt nicht in Betracht. Um acht soll die Lesung beginnen …
Albert Bouley heißt der begnadete Mann, der das Waldhorn betreibt. Einer der Ersten, der die euroasiatische Küche nach Deutschland brachte. Hellmuth Karasek nimmt in einer Nische Platz, winkt die Bedienung herbei – eine Blondine ganz nach seinem Geschmack – und studiert die Karte mit Vorfreude. Drei Gänge, das sollte zu schaffen sein, begleitet von den herrlichen Weinen aus dem Bouley’schen Keller. Er ordert als Entree ein Tomaten-Carpaccio mit Krebsen und gebeizter Lachsforelle und danach … er zögert, eine Miéral-Ente in zwei Gängen, das wäre es, doch leider recht zeitraubend … und entschließt sich, stattdessen seiner Liebe zu Innereien nachzugeben und jene unübertrefflichen urschwäbischen Kutteln zu bestellen, die Albert Bouley als raffinierten Pot au feu mit Tomaten-Nage serviert.
Man muss sich Hellmuth Karasek in diesem Moment als glücklichen Menschen vorstellen. Er genießt das Dargebrachte, folgt den Weinempfehlungen der adretten Kellnerin und ist dabei, jedes Zeitgefühl zu verlieren – ein herrlicher Zustand. Käse schließt den Magen, denkt er sich, als er den letzten Tropfen der dunklen Kuttelsoße aufgetunkt hat, und bestellt als Dessert Ziegen- und Schafsrohmilchkäse mit schwarzem und gelbem Forellenkaviar in Walnussschnittlauch-Vinaigrette. Ein Gläschen Gewürztraminer dazu kann nicht schaden, sinniert er, als plötzlich sein Handy – hat er darüber nicht auch ein Buch geschrieben? – zu brummen beginnt.
Unauffällig nimmt er das Gespräch an – zum Glück sind nur wenige Tische besetzt – und erkennt die sonore Stimme der Buchhändlerin, die ihn nach Ravensburg gelockt hat. Besorgt ist sie, ein klein wenig ärgerlich sogar. Wo er denn sei? Fünf nach acht sei es und der Laden rappelvoll … Hellmuth Karasek sieht ungläubig auf seine Uhr, murmelt, um Zeit zu gewinnen, etwas von einer sehr schlechten Verbindung und trifft Sekunden später die einzig mögliche Entscheidung. Im Zug sitze er noch, Verehrteste, eine skandalöse Verspätung, wie er sie selten erlebt habe, Weichenstörung, ja, unglaublich, aber in einer Viertelstunde, habe man durchgegeben, komme er an, und dann werde er sofort in die Buchhandlung eilen. Sie könne das Publikum doch sicher bei Laune halten … Er freue sich … wenngleich er nun gar nichts mehr verstehe, die Verbindung …
Hellmuth Karasek schaltet sein Handy aus und atmet durch. So weit kommt’s noch, dass er wegen einer Lesung dieses göttliche Lokal ohne Dessert verlässt, ohne Ziegen- und Schafsrohmilchkäse mit schwarzem und gelbem Forellenkaviar in Walnussschnittlauch-Vinaigrette … Er sieht die lächelnde Kellnerin nahen, mit einem Teller, auf dem all diese Köstlichkeiten arrangiert sind, ästhetisch hoch gelungen, das kann er als Kritiker beurteilen. Walnussschnittlauch-Vinaigrette, wie das schon klingt.
Er verzehrt sein Dessert ohne Eile und macht sich dann zur nahegelegenen Buchhandlung auf. Die Kirchturmuhr schlägt halb neun. Die Lesung verspricht ein voller Erfolg zu werden.