Angespannte Stimmung herrscht im Stadion Saint-Eugène in Algier. Das Halbfinale des Schulcups 1929 steht an, und viele Zuschauer hoffen an diesem sommerlichen Nachmittag auf eine Überraschung. Favorisiert ist das Team der Gymnasiasten, doch die ambitionierte Auswahl der École Pratique d’Industrie (E.P.I.) hat im Vorfeld keine Mühen gescheut, um ins Finale zu gelangen. Um gegen die blasierten Oberschüler mithalten zu können, hat man sich Verstärkung geholt: den hochgelobten Torhüter des Clubs Racing universitaire d’Alger (RUA). Der geht zwar auch aufs Gymnasium, doch indem er kurzerhand einen Abendkurs an der E.P.I. belegt, erschleicht er sich die Spielgenehmigung für das wichtige Match.
Der Torwart mit den bestechenden Reflexen heißt Albert Camus. 1913 geboren, wächst er in Algiers Arme-Leute-Viertel Belcourt auf. Sein schulisches Vorankommen hindert ihn nicht daran, auf zementierten Hinterhöfen dem Ball hinterherzujagen. Als Torwart des RUA feiert er Erfolge, doch seinem Jugendfreund Abel Paul Pitous zufolge (nachzulesen in dessen postum erschienenen Brief Mon cher Albert) erlebt er den denkwürdigsten Tag seiner Sportlerkarriere als Aushilfskeeper des E.P.I.-Teams.
Das Spielgeschehen entwickelt sich so, wie Camus und sein Mannschaftskollege Pitous es sich vorgestellt haben. Zur Verblüffung der Gymnasiasten gehen die Underdogs früh in Führung und scheinen diese auszubauen, als sie mit einem prachtvollen Kopfstoß das 2:0 erzielen. Die Freude währt freilich nur kurze Zeit, denn an dieser Stelle greift der Schiedsrichter, ein Medizinstudent namens Dumas, ins Geschehen ein und verweigert dem Treffer die Anerkennung. Warum, weiß nur er allein, und hätte es damals im Stadion Saint-Eugène Kameras gegeben, wäre diese Szene heute in jeder Albert-Camus-Dokumentation zu sehen.
Das Stadion tobt angesichts der schreienden Ungerechtigkeit. Die E.P.I.-Mannschaft gerät aus dem Tritt, und Albert Camus – offenkundig früh an moralischen Grenzsituationen interessiert – beschließt, den Frevel des Schiedsrichters auf seine Art bloßzustellen. Als ein Stürmer auf ihn zuläuft, tut Camus nichts von dem, was seine Torhüterpflicht wäre. Er wirft sich Ball und Gegner nicht entgegen, sondern protestiert still gegen die Ungerechtigkeit in der Welt beziehungsweise im Stadion Saint-Eugène: Camus bleibt am Elfmeterpunkt stehen, zieht seine große Ballonmütze, grüßt den Angreifer mit einer Verbeugung und lädt ihn galant zum Torschuss ein. Was dieser sich nicht zweimal sagen lässt.
Das Spiel endet, wie es enden muss. Pitous, Camus & Co. scheiden mit einer schmerzlichen 1:2-Niederlage aus, doch ihre Ehre ist dank Camus’ großer Geste gerettet. Die vom Schiedsrichter mit Füßen getretene Gerechtigkeit, nach Aristoteles die edelste aller Tugenden, hat nicht verloren.
Camus war Torwart, wie erstaunlicherweise viele Schriftsteller, wie Vladimir Nabokov, Henry de Montherlant und Albert Ostermaier. Weil der Torhüter als letzter Mann der Außenseiter ist, einsam, auf sich allein gestellt, und mit einem einzigen Fehler das Spiel verlieren kann? Camus blieb seiner Liebe zum Fußball treu. Sein berühmter, 1953 geschriebener Satz »Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball, habe ich bei RUA gelernt« muss ergänzt werden: Seine Urerfahrung machte er 1929 im E.P.I.-Trikot, als er im Schulcup die Arbeit verweigerte, in höherer ethischer Absicht.