Ein herrlicher Tag kündet sich an. Ende August 1831 ist es, als der Dichter und Arzt Justinus Kerner die frühen Morgenstunden nutzt und sich wieder einmal aufmacht hinauf zur Burgruine Weibertreu. Obwohl noch keine Hitze herrscht und bereits die ersten Vorboten des Nachsommers in der Luft liegen, gerät der Mittvierziger, der dem Essen und Trinken so gerne zuspricht, dass seine Körperfülle von Jahr zu Jahr zunimmt, ins Schwitzen. Dennoch lässt er sich diesen Fußmarsch und den damit verbundenen Blick auf die anmutigen Weinsberger Weinberge nicht nehmen.
So gestärkt, denkt er sich, werde ich dem Tag gewachsen sein, denn an Anforderungen mangelt es nicht im Leben des umtriebigen Mannes. Er ist ein gefragter Arzt, der über das wichtige Thema Neue Beobachtungen über die in Württemberg so häufig vorgefallenen tödlichen Vergiftungen durch den Genuss geräucherter Würste, wo von schrecklichen Beispielen männlicher Wurstgier die Rede ist, promoviert hat und über den medizinischen Tellerrand hinauszublicken weiß. Parapsychologie, Mesmerismus, Wunderglaube – all diesen zum Geist der Zeit passenden Phänomenen steht er interessiert gegenüber, wissend, dass ihm das manchen Spottgesang einbringt.
1819 kam er als Oberamtsarzt mit seiner Frau Friederike nach Weinsberg und bezog ein schönes, von Obstbäumen umgebenes Haus, das bald zu einem Treffpunkt nicht nur für schwäbische Romantiker wurde. Die Kerners schufen ein »Asyl der Gastfreundschaft« (Friedrich Theodor Vischer), in dem die illustren Besucher ein und aus gingen, im Garten Platz nahmen und allem, was die Hausfrau kredenzte, begeistert zusprachen. Kaum ein Tag verging, an dem sich nicht Besucher in Weinsberg einfanden.
An diesem Augustmorgen nun spricht man, nachdem Kerner seinen kleinen Marsch unbeschadet hinter sich gebracht hat, beim Morgenmahl über dies und jenes, bis eines der Kinder die Rede auf den Tod bringt. Wie das denn so sei, wenn man nicht mehr lebe, fragt das Nesthäkchen verängstigt. Vater Justinus will seinem Töchterchen die Antwort nicht schuldig bleiben und fordert die Familie umgehend zu einer praktischen Übung auf. Zu deren Zeuge wird ein junger Mann, der, vermittelt durch den Sagensammler Gustav Schwab, erstmals nach Weinsberg kommt, der genialische Lyriker Nikolaus Franz Niembsch alias Nikolaus Lenau.
Mühelos hat er das zentral gelegene Haus gefunden. Die Tür steht offen, vom Hausherrn keine Spur. Lenau wagt sich vor und stößt auf ein wunderliches Bild: »Auf dem Boden ausgestreckt lag lang und breit ein Mann, ihm zur Seite eine Frau, zur Linken und Rechten von ihnen Kinder. Sie lagen unbeweglich, doch konnte ich merken, dass sie lebten. Ich blieb betroffen stehen, die liegende Gruppe tat ebenfalls nichts dergleichen, als ob ein Fremder eingetreten wäre. Ich nannte endlich meinen Namen. ›Ah, willkommen, lieber Niembsch! Wir probieren da eben, wie es sein wird, wenn wir so nebeneinander im Grabe liegen werden.‹«
Lenau, ein psychisch höchst labiler Mann, ließ sich durch die unkonventionelle Begrüßung nicht abschrecken, wurde Stammgast im Kernerhaus, schrieb dort Gedichte sowie an seinem Faust und verehrte dem Hausherrn ein Kristallglas, aus dem dieser, wie er penibel errechnete, über ein gutes Vierteljahrhundert hinweg die stattliche Menge von 21000 Litern Weißwein trank. Kein Wunder, dass nach Justinus Kerner eine Rebsorte benannt wurde. Das aber ist eine andere Geschichte.