»Etwas Furchtbares ist passiert«, sagte Flora, unsere Kindergärtnerin, und nötigte alle Fünf- und Sechsjährigen, sich auf die bunt lackierten, in einem Halbkreis aufgestellten Stühle zu setzen. Es war der 11. April 1985. »Onkel Enver hat … er hat uns … für immer verlassen.« Sie stieß die Worte aus, als stünde ihr eigener Tod unmittelbar bevor, als könnte sie danach nie wieder einen Satz sagen. Dann ließ sie sich selbst auf einen der kleinen Stühle sinken, legte sich eine Hand aufs Herz, als spürte sie dort große Schmerzen, schüttelte den Kopf und atmete tief: ein und aus, ein und aus. Es folgte ein langes Schweigen.
Dann stand Flora entschlossen auf und rieb sich die Augen. In den Minuten der Stille hatte sie sich anscheinend in eine andere Person verwandelt. »Kinder«, sagte sie feierlich, »hört gut zu. Es ist sehr wichtig, dass ihr das versteht. Onkel Enver ist gestorben, aber sein Werk lebt weiter. Die Partei lebt weiter. Wir werden seine Arbeit fortsetzen und seinem Beispiel folgen.«
An diesem Tag redeten wir ausführlich über den Tod. Meine Freundin Marsida, deren Vater Schuhe reparierte und deren Großvater vor der Abschaffung der Religion die örtliche Moschee geleitet hatte, erklärte, in grauer Vorzeit hätten die Menschen geglaubt, dass wir gar nicht wirklich sterben, wenn wir sterben. Natürlich nicht, riefen wir, natürlich sterben wir nicht. Denn unser Werk lebt weiter, wie das von Onkel Enver.
54Marsida widersprach. So sei das nicht gemeint gewesen. Sie hatte nicht sagen wollen, dass die Arbeit weiterlebt und wir nicht. Nein, sie wollte sagen, dass es, wenn ein Mensch stirbt, einen Teil von ihm gibt, der weiterlebt, an einem anderen Ort, je nachdem, wie der Mensch sich benommen hat. Leider konnte sie sich nicht erinnern, wie der Teil hieß. Ihr Großvater hatte ihr davon erzählt.
Wir sahen sie ungläubig an. An einem anderen Ort? »Wie soll man irgendwo hingehen, wenn man tot ist?«, fragte ich. »Wenn man tot ist, kann man sich nicht mehr bewegen. Man wird direkt in einen Sarg gelegt.«
»Hast du schon mal einen Toten in echt gesehen?«, fragte Marsida.
Nein, hatte ich nicht. Aber ich hatte Särge gesehen, und ich wusste, wo sie hingebracht wurden, tief unter die Erde, mit Hilfe von Seilen. Ich konnte es sehen, wenn wir sonntags auf den Friedhof gingen und das Grab meines Großvaters besuchten. Ich hatte sogar Kindergräber gesehen. Einmal hatte ich eine Glasscherbe gefunden und damit an einem Marmorstein herumgekratzt, was mir Schelte von meiner Großmutter einbrachte. Das Schwarzweißfoto auf dem Grabstein zeigte ein lächelndes kleines Mädchen mit einem breiten Haarband, das ein bisschen an meins erinnerte. Sie war von einem Baum gefallen und gestorben. Nini erklärte mir, warum es Friedhöfe gab: damit wir wissen, wo die Verstorbenen sind, damit wir sie besuchen und ihnen davon erzählen können, wie wir ihre Arbeit fortführen.
Marsida entgegnete, auch sie habe schon Särge gesehen, sehr viele sogar. Nicht nur die für Erwachsene, die schwarzen, sondern einmal auch einen kleinen, der rot war und weniger schwer als üblich. Ein Mann konnte ihn allein tragen.
Da mischte sich eine andere Freundin ein, Besa, die ein biss55chen älter war als wir. Sie hatte schon einmal einen Toten gesehen, in echt. Ihren Onkel. Sie hatte durchs Schlüsselloch in das Zimmer geschaut, wo er lag und darauf wartete, gewaschen, in seine besten Kleider gesteckt und in den Sarg gelegt zu werden. Der Sarg stand direkt daneben, offen und bereit. Der Onkel lag reglos auf dem Sofa. Er war weiß wie Kreide und hatte Blut am Kopf, weil er bei der Arbeit von einem Strommast gefallen war. »Meine Tante hat sich beschwert, weil niemand ihm die Augen zugedrückt hat, nachdem es passiert war«, sagte sie. »Auf gar keinen Fall waren irgendwelche Teile von ihm woanders.«
»Genau«, sagte ich nickend. »Meine Großmutter sagt, dass die Toten, wenn wir sie vergraben haben, von Insekten angefressen werden. Dann schmelzen sie in die Erde und werden zu Kompost, der gebraucht wird, damit andere Dinge wachsen können, Blumen und Pflanzen und so weiter. Sie können gar nicht woanders hin«, beharrte ich.
»Außerdem stinken tote Leute«, fügte Besa hinzu. »Als mein Onkel gestorben war, hat meine Tante gesagt, die Beerdigung müsste schnell organisiert werden, denn wenn er nicht sofort begraben würde, würde er anfangen zu stinken.«
»Igitt«, sagte ich. »Einmal hatten wir Salami im Kühlschrank, und nach einem Stromausfall hat sie furchtbar gestunken. Sie hat so gestunken, dass mein Vater mit einer Wäscheklammer auf der Nase durchs Haus gelaufen ist und ›Hilfe! Hilfe!‹ gerufen hat.«
Alle kicherten. Kindergärtnerin Flora hörte es und stellte uns in die Ecke, wo wir darüber nachdenken sollten, wie wir an einem für unsere Nation so traurigen Tag uns unterstehen konnten zu lachen. Als ich später wieder zu Hause war und meiner Großmutter davon erzählte, dass Onkel Enver gestorben war und ich wegen der gammeligen Salami im Kühlschrank 56in der Ecke hatte stehen müssen, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich weiß nicht, ob aus Scham darüber, ausgerechnet an diesem Tag ausgeschimpft worden zu sein, oder aus Trauer um Onkel Enver oder einer Mischung aus beidem. Oder vielleicht aus einem vollkommen anderen Grund, der nichts damit zu tun hatte.
Einige Jahre später wiederholte sich dieses Gespräch über den Tod und das, was danach passiert, in der Schule. Lehrerin Nora hatte uns erzählt, dass die Leute sich früher in großen Häusern versammelt hatten, die »Kirche« oder »Moschee« genannt wurden. Sie sangen dort Lieder und sagten Sprüche auf, die sich an etwas oder jemanden namens Gott richteten. Dieser Gott sei nicht mit den Göttern der griechischen Mythologie zu verwechseln, mit Zeus, Hera oder Poseidon. Niemand wusste, wie dieser eine Gott aussah, aber verschiedene Leute hatten verschiedene Vorstellungen. Einige, die Katholiken und die orthodoxen Christen beispielsweise, glaubten, dass Gott ein Kind hatte, das halb menschlich war. Andere, wie die Muslime, glaubten, dass Gott überall war, in den winzigsten Elementarteilchen ebenso wie im ganzen Universum. Wiederum andere, die Juden, glaubten, Gott würde einen König entsenden, der sie am Ende der Welt erretten würde. Und sie alle erkannten Propheten an, aber nicht dieselben. In der Vergangenheit hatten religiöse Gruppen sich erbittert bekämpft und im Streit darüber, wessen Prophet recht hatte, unschuldige Menschen getötet oder verstümmelt. Doch nicht in unserem Land. In unserem Land hatten die Katholiken, die orthodoxen Christen, die Muslime und die Juden einander stets respektiert, denn die Nation war ihnen wichtiger als der Streit darüber, wie Gott nun aussah. Dann war die Partei gekommen und immer mehr Menschen hatten lesen und schreiben gelernt, und je mehr sie über die Welt lernten, desto klarer wurde ihnen, dass die Reli57gion eine Illusion war, etwas, womit die Reichen und Mächtigen den Armen falsche Hoffnungen machten; den Armen wurde Glück und Gerechtigkeit versprochen – im nächsten Leben.
Wir wollten wissen, ob es nach dem Tod ein weiteres Leben gab.
»Nein«, sagte Lehrerin Nora im Brustton der Überzeugung. Sie erklärte, das sei nur ein Mittel, um die Leute in dem einen Leben, das sie hatten, vom Kampf für ihre Rechte abzuhalten, wovon wiederum die Reichen profitierten.
Die Kapitalisten glaubten zwar selbst nicht zwingend an Gott, mochten ihn aber dennoch behalten, weil sie die Arbeiter so leichter ausbeuten und für das vom Kapitalismus verursachte Elend ein magisches Wesen verantwortlich machen konnten. Aber sobald die Menschen lesen und schreiben gelernt hatten und es die Partei gab, um ihnen den Weg zu weisen, verließen sie sich nicht mehr auf Gott. Auch von anderen abergläubischen Vorstellungen sagten sie sich los, wie beispielsweise vom bösen Blick oder dass man sich mit Knoblauch das Unglück vom Leib halten kann; es gab ja so viele Möglichkeiten, sich einzureden, die Menschen wären nicht frei, das Richtige zu tun, sondern von übernatürlichen Mächten kontrolliert. Glücklicherweise hatten wir mit der Hilfe der Partei endlich begriffen, dass Gott nur eine Erfindung war, die uns Angst einjagen und von jenen abhängig machen sollte, die vorgaben, in seinem Namen sprechen und seine Gesetze erklären zu können.
»Aber Gott ganz loszuwerden, war nicht einfach«, sagte Lehrerin Nora. »Einige Leute, einige Reaktionäre, glaubten weiterhin an ihn. Sobald die Partei stark genug war, sich gegen sie durchzusetzen, wurden Freiwilligeninitiativen gestartet und alle Gotteshäuser in Trainings- und Förderstätten für die Ju58gend umgestaltet. Aus Kirchen wurden Sportzentren, aus Moscheen Konferenzsäle. Aus diesem Grund gibt es nicht nur keinen Gott mehr«, schloss sie, »sondern wir haben auch keine Kirchen und Moscheen mehr. Wir haben sie alle zerstört.« Sie hob die Stimme ein wenig: »Und zu diesen rückständigen Gebräuchen dürfen wir niemals zurückkehren. Es gibt keinen Gott, nirgends. Keinen Gott, kein Jenseits, keine unsterbliche Seele. Wenn wir sterben, sterben wir. Ewig überdauern werden nur die Arbeit, die wir geleistet haben, die Projekte, die wir auf den Weg gebracht haben, und die Ideale, die wir anderen hinterlassen, auf dass sie sie an unserer Stelle anstreben.«
Manchmal kam ich auf dem Nachhauseweg von der Schule an der Parteizentrale vorbei, sah zu einem der Fenster hinauf und dachte über Lehrerin Noras Worte nach. Ich hob den Kopf instinktiv, denn so machte meine Mutter es jedes Mal, wenn wir hier vorbeigingen. Ich ahmte ihre Haltung nach. Aus irgendeinem Grund brachte ich die Parteizentrale mit Gott in Verbindung und mit der Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Angefangen hatte das an einem Sonntag, als wir vom üblichen Spaziergang zurückkehrten. Ich radelte hinter meinen Eltern her, als ich hörte, wie meine Mutter plötzlich meinem Vater zuflüsterte: »Nein, nicht das Fenster mit dem Blumentopf. Das andere! Er hat ›Allahu akbar‹ gerufen.«
»Allahu akbar«, wiederholte sie.
»Wer?«, fragte ich, immer noch auf dem Fahrrad. »Was heißt allahu aka?«
Mein Vater drehte sich abrupt um. »Nichts«, sagte er. »Das heißt gar nichts.«
»Aber eben habt ihr allahu aka gesagt«, beharrte ich, rollte noch ein Stück weiter und blieb direkt vor ihm stehen.
»Erwachsenengespräche zu belauschen, ist eine sehr schlechte Angewohnheit«, sagte mein Vater sichtlich irritiert. »Früher 59haben Leute, die an Gott glaubten, ›Allahu akbar‹ gesagt, um seine Allmacht anzuerkennen und zu preisen.«
»So wie in ›Lang lebe die Partei‹?«, fragte ich.
»Gott ist nicht dasselbe wie die Partei«, erklärte mein Vater. »›Allahu akbar‹ war etwas, was Menschen muslimischen Glaubens beim Beten sagten. Mit den verschiedenen Religionen kennst du dich doch aus, deine Lehrerin Nora hat sie euch im Moralkundeunterricht erklärt«, sagte er. »Allah heißt Gott auf Arabisch.«
»Kennen wir Leute, die früher Muslime waren?«
»Wir sind Muslime«, antwortete meine Mutter, nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und fing an, mir den eben entdeckten Dreck von den Schuhen zu wischen. »Wir waren Muslime«, korrigierte sie mein Vater. »So wie die meisten Albaner.«
Ich fragte, ob Muslime ans Jenseits glaubten. Meine Mutter nickte, ohne sich aufzurichten. Sie war immer noch dabei, die Kappen meiner Schuhe zu putzen.
»Dann waren sie genauso dumm wie alle anderen, die an irgendeinen Gott geglaubt haben«, sagte ich, machte mich von meiner Mutter los und trat mit voller Kraft in die Pedale.
Wann immer ich nach der Schule an der Parteizentrale vorbeiging, musste ich an den Mann im fünften Stock denken, der am Fenster gestanden und »Allahu akbar!« gerufen hatte. Wie seltsam, dachte ich, dass die religiösen Fanatiker darüber stritten, wie Gott aussah, und trotzdem alle daran glaubten, dass Teile von uns weiterleben, nachdem wir gestorben sind. Falls es etwas gab, was uns Kinder von der Irrationalität der Religionen und der Lächerlichkeit eines Glaubens an die Existenz Gottes überzeugte, war es die Vorstellung, es könnte nach unserem jetzigen Leben ein weiteres auf uns warten. In der Schule brachte man uns bei, in entwicklungsgeschichtlichen Begriffen zu denken. Wir sahen die Natur durch die Augen 60von Darwin und die Historie durch die von Marx. Wir unterschieden zwischen Wissenschaft und Mythos, Vernunft und Vorurteil, gesundem Zweifel und dogmatischem Aberglauben. Wir lernten zu glauben, dass die richtigen Ideen und Ziele als Ergebnis unserer kollektiven Anstrengungen überleben können, das Leben des Individuums hingegen zu Ende geht wie das der Insekten, Vögel und anderen Tiere. Zu glauben, der Mensch hätte ein anderes Schicksal verdient als der Rest der Natur, hieße, sich auf Kosten von Wissenschaft und Vernunft zum Sklaven von Mythos und Dogma zu machen. Wissenschaft und Vernunft waren alles, worauf es ankam. Nur mit ihrer Hilfe konnten wir die Natur und die Welt erforschen. Und je mehr wir lernten, desto besser konnten wir das, was uns auf den ersten Blick rätselhaft erschien, erklären und lenken.
»Verstehst du?«, sagte ich an Enver Hoxhas Todestag unter Tränen zu Nini. »Onkel Enver lebt nicht mehr. Sein Werk wird ewig leben. Aber nun wird mein Wunsch, ihm zu begegnen, sich niemals erfüllen.«
Meine Großmutter nötigte mich, etwas zu Mittag zu essen. Sie schwärmte von dem Burek, das sie zubereitet hatte. »Ich habe es selbst probiert«, sagte sie, »und es ist köstlich.«
Ich fragte mich, wie man an so einem Tag essen konnte. Wie konnte man überhaupt an Essen denken? Ich hatte keinen Hunger. Ich war zu traurig. Onkel Enver war für immer fort. Seine Bücher, die ich gelesen und geliebt hatte, würden unsigniert bleiben. Wir hatten in unserem Wohnzimmer ja nicht einmal ein Foto von ihm. Ich würde ihn schrecklich vermissen. »Ich werde sein Foto aus dem Buch für die Pionierfreunde ausschneiden und rahmen und mir ans Bett stellen«, verkündete ich.
Nini gab das Thema Mittagessen auf. »Du hast recht«, sagte sie. »Eigentlich habe ich auch gar keinen Hunger, ich habe nur einen Bissen probiert.« Aber sie war fest entschlossen, 61mich vom Ausschneiden des Fotos abzuhalten: »In diesem Haushalt werden keine Bücher zerstört.«
Die Beerdigung fand einige Tage später statt. Nach einer längeren sonnigen Periode fiel träger Regen. Wir saßen vor dem Fernseher und verfolgten, wie Tausende Menschen den größten Boulevard Tiranas säumten und die Prozession vorbeiziehen sahen: in Tränen aufgelöste Soldaten, alte Frauen, die Klagelaute von sich gaben und sich verzweifelt das Gesicht zerkratzten, Studierende mit leerem Blick. Die Bilder wurden mit einem sinfonischen Trauermarsch unterlegt. Der Reporter sprach wenig und sehr langsam, wie ein unglücklicher Sisyphos, der als Kommentator arbeiten muss, während er seinen Felsblock bergauf wälzt. »Selbst die Natur trauert um einen der größten Revolutionäre aller Zeiten«, sagte er und schwieg dann wieder. Nichts war zu hören als einzelne Noten des Trauermarschs. »Wann immer Genosse Enver am Ersten Mai auf der Tribüne erschien, schlug das Wetter um und die Sonne brach durch die Wolken. Heute weint sogar der Himmel. Der Regen vermischt sich mit den Tränen der Menschen.«
Meine Familie sah schweigend zu.
»Das Land trauert um seinen bedeutendsten Sohn, den Gründervater des modernen Albanien, den brillanten Strategen, der den Widerstand gegen den italienischen Faschismus organisiert hat; um den ruhmvollen General, der die Nazis besiegte, den revolutionären Denker, dem Opportunismus ebenso fremd war wie Sektierertum, den stolzen Staatsmann, der sich den revisionistischen Bestrebungen Jugoslawiens zur Annexion unserer geliebten Nation widersetzte, den Politiker, der auf kein angloamerikanisches Ränkespiel hereinfiel und sich dem Druck der Revisionisten in der Sowjetunion und in China niemals beugte.« Die Kamera schwenkte auf den Sarg unter 62der riesigen albanischen Flagge, dann auf die vom Kummer gezeichneten Mitglieder des Politbüros und weiter zum neuen Generalsekretär der Partei, der eine Rede halten würde. Die Musik spielte weiter. Nach einer weiteren Pause hatte der Kommentator seine Kräfte wiedererlangt und sprach erneut. »Genosse Enver hat sich für die Nation ebenso eingesetzt wie für die Solidarität mit dem internationalen Proletariat. Er wusste, der einzige Weg nach vorn geht über die nationale Selbstbestimmung, zusammen mit einem unermüdlichen Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde des Sozialismus. Nun hat Genosse Enver es uns überlassen, diesen Kampf ohne ihn fortzuführen. Wir werden seine starke Führung vermissen, seine weisen Worte, seine Leidenschaft für die Revolution und sein herzliches Lächeln. Wir werden ihn vermissen. Der Schmerz ist groß. Wir müssen lernen, unseren Schmerz in Stärke zu verwandeln. Morgen. Heute ist der Schmerz noch zu groß.«
»Jetzt weiß ich es!«, unterbrach meine Mutter die Stille. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was es ist. Beethovens Dritte Sinfonie. Der Trauermarsch. Das ist Beethoven.«
»Nein, ist es nicht«, widersprach mein Vater prompt, als hätte er die ganze Zeit nur auf ihren Einwurf gewartet. »Das ist von diesem albanischen Komponisten. Ich kann mich nicht erinnern, welcher es war. Aber ich habe das schon mal gehört, es ist nicht neu«, fügte er mit einer Begeisterung hinzu, die sich bei ihm nur zeigte, wenn sich die Gelegenheit ergab, meiner Mutter zu widersprechen.
»Zafo, du hast keine Ahnung«, sagte meine Mutter. »Du bist absolut unmusikalisch. Wann bist du zuletzt in einem klassischen Konzert gewesen? Die einzige Musik, die du hörst, läuft vor der Sportsendung im Radio. Das hier ist der zweite Satz aus Beethovens Dritter Sinfonie, der Eroica. Er wird auch ›Trauermarsch‹ genannt.«
63Mein Vater wollte abermals widersprechen, als Nini sich einmischte und meiner Mutter recht gab. »Beethoven hat diese Sinfonie zu Napoleons Ehren komponiert. Ich habe sie auch sofort erkannt, Asllan mochte sie sehr.« Die Erwähnung meines Großvaters beendete jeden Familienstreit zuverlässig.
»Darf ich wirklich mit ans Grab, um ihm die letzte Ehre zu erweisen?«, fragte ich mit Tränen in den Augen und wie gelähmt von den erschütternden Bildern auf dem Fernsehschirm. Ich wunderte mich, warum meine Familie, statt zu weinen, über Musik diskutierte.
»Am Sonntag«, sagte meine Großmutter gedankenverloren.
»Darf man denn am Sonntag schon hin?«
»Nicht an Onkel Envers Grab«, verbesserte sich Nini. »Ich dachte, du sprichst von deinem Großvater.«
»Alle Arbeiterkollektive werden im Laufe der kommenden Wochen Genosse Envers Grab besuchen«, sagte mein Vater. »Wenn ich an der Reihe bin, darfst du mit.«
Ein paar Wochen lang freute ich mich auf den Besuch. Aber dann eines Nachmittags kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und erzählte, er sei in Tirana und an Onkel Envers Grab gewesen. »Wirklich?«, fragte ich und fühlte eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. »Du hast gesagt, du nimmst mich mit! Du hast dein Versprechen gebrochen.«
»Ich habe es ja versucht«, sagte mein Vater zerknirscht. »Wir sind in aller Frühe losgefahren, mit dem ersten Zug. Ich wollte dich wecken, aber du hast tief und fest geschlafen und mich nicht gehört. Sogar Nini hat dich gerufen, aber du hast dich einfach wieder umgedreht. Ich war spät dran und musste los. Keine Sorge, kleine Paprika. Sicher ergibt sich eine andere Gelegenheit.«
Ich war untröstlich. Ich schluchzte und sagte meinen Eltern, dass sie Onkel Enver ganz offensichtlich nicht so liebten wie 64ich; wahrscheinlich liebten sie ihn kein bisschen. Dass sie am Morgen versucht hätten, mich zu wecken, sei eine Lüge, denn wenn mir jemand gesagt hätte, dass wir zu seinem Grab fahren würden, wäre ich zu aufgeregt zum Schlafen gewesen und am Morgen sofort aus dem Bett gesprungen. In Wahrheit war es ihnen egal; weder wollten sie Onkel Envers Grab besuchen noch sein Bild im Wohnzimmer aufhängen. Millionen Mal hatte ich um ein gerahmtes Foto von Onkel Enver gebettelt, und sie hatten mir nie eins mitgebracht. Alle meine Freundinnen hatten sein Porträt in ihren Bücherregalen stehen, Besa besaß sogar ein ziemlich großes, das sie auf Onkel Envers Schoß zeigte, vom letzten Parteitag, als sie ihm einen Strauß rote Rosen überreicht und ein Gedicht aufgesagt hatte. Ich war nie bei einem Parteitag gewesen und wir hatten nichts.
Meine Eltern versuchten, mich zu beruhigen. Sie liebten die Partei und Onkel Enver wie ich, sagten sie. Sie hatten sein Foto nur deswegen noch nicht im Wohnzimmer aufgehängt, weil sie bis heute auf die Vergrößerung warteten. Außerdem wollten wir einen anständigen und schönen Rahmen, ergänzte meine Mutter, der handgefertigt werden müsse. Die herkömmlichen Holzrahmen, wie man sie im Bastelgeschäft bekam, waren Onkel Envers nicht würdig. »Wir sind an der Sache dran«, sagte mein Vater mit Nachdruck. »Eigentlich wollten wir dich an deinem Geburtstag damit überraschen.«
Ich schüttelte skeptisch den Kopf. »Sicher ist es an meinem Geburtstag noch nicht fertig«, sagte ich und wischte mir die Tränen von den Wangen. »Ich weiß es genau. Ihr werdet es einfach vergessen. Ihr liebt Onkel Enver nicht. Und ihr vermisst ihn auch nicht, denn wenn ihr ihn vermissen würdet, hättet ihr längst schon ein kleines Foto und würdet jetzt ein großes dazukaufen.«
Meine Eltern wirkten alarmiert. Sie starrten einander an. »Ich 65verrate dir ein Geheimnis«, sagte Nini. »Ich habe Onkel Enver getroffen. Vor vielen, vielen Jahren, als dein Großvater und ich noch jung waren. Die beiden waren befreundet. Wie könnte ich ihn nicht lieben, wo sie doch Freunde waren?« Sie versprach, mir eines Tages die Briefe zu zeigen, die die beiden sich geschrieben hatten. »Aber«, sagte sie, »dafür musst du mir etwas versprechen. Du darfst nie wieder sagen, wir würden Onkel Enver nicht lieben oder nicht vermissen, weder zu uns noch zu irgendwem sonst. Tu vas me donner ta parole d'honneur, ja?«*