Meine Familie akzeptierte, dass einige Regeln weniger wichtig waren als andere und dass manche Versprechen sich im Laufe der Zeit von selbst erledigen konnten. In dieser Hinsicht waren meine Eltern nicht anders als andere Leute, der Rest der Gesellschaft oder gar der Staat. Eine der Herausforderungen des Erwachsenwerdens bestand darin, zu unterscheiden, welche Regeln mit der Zeit an Kraft verloren, welche durch andere, wichtigere übertrumpft wurden und welche unverhandelbar blieben.

Einkaufen beispielsweise. Es gab immer eine Schlange. Die Schlange bildete sich, bevor der Lastwagen mit den Waren eintraf. Jeder musste sich anstellen, es sei denn, er war mit dem, der den Laden führte, befreundet. So lautete die allgemeine Regel. Doch es gab Schlupflöcher. Man durfte die Schlange zeitweise verlassen, solange man ein geeignetes Objekt fand, das einen während der Abwesenheit vertrat. Das konnte eine alte Einkaufstasche sein, eine Konservendose, ein Ziegel oder ein Stein. Hinzu kam eine weitere Regel, die eifrig befürwortet und unverzüglich umgesetzt wurde, nämlich dass besagtes Objekt seinen Stellvertreterstatus sofort verlor, wenn der Nachschub anrollte. In dem Fall war es egal, ob man eine alte Einkaufstasche, eine Konservendose, einen Ziegel oder einen Stein zurückgelassen hatte. Die Tasche war dann nur noch eine Tasche und stand für niemanden mehr.

67Es gab zwei Sorten von Warteschlangen, die, in denen nichts passierte, und die, in denen immer etwas los war. In den Schlangen der ersten Sorte konnte man es getrost den Objekten überlassen, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Die der zweiten Sorte waren lebhaft, lärmend und wild; alle mussten persönlich anwesend sein und waren ständig in Bewegung, um einen Blick auf den Tresen zu erhaschen und herauszufinden, wie viel von dem, was gerade angeboten wurde, noch übrig war, während der Ladeninhaber nach Bekannten in der Warteschlange Ausschau hielt.

Während meiner Ausbildung im Warteschlangensystem fragte ich einmal, warum wir einen Stein in der Käseschlange hinterlassen hatten, um uns dann in die Petroleumschlange einzureihen und dort eine Dose zu hinterlassen, wenn es weder hier noch dort voranging. Bei der Gelegenheit erfuhr ich, dass manche Schlangen einen ganzen Tag währten und manchmal sogar bis in die Nacht, oder gleich mehrere Nächte hintereinander, und dass es notwendig war, Einkaufstaschen, Kisten oder sachgerecht großen Steinen einen Teil der repräsentativen Pflichten zu übertragen, weil diese uns andernfalls erdrückt hätten. Die Objekte in der Warteschlange wurden regelmäßig kontrolliert, und die Teilnehmer achteten abwechselnd darauf, dass die stellvertretenden Taschen, Dosen oder Steine nicht versehentlich entfernt oder unerlaubterweise ersetzt wurden. In den seltenen Fällen, in denen das System zusammenbrach, kam es zum Streit, und dann wurden die Schlangen hässlich, unzivilisiert und lang. Die Leute stritten erbittert über ähnlich aussehende Steine, über Einkaufsnetze, die irgendwer frech durch einen Sack ersetzt hatte, und über Petroleumkanister, die plötzlich doppelt so groß waren wie zuvor.

Sich in der Warteschlange respektvoll zu benehmen und zur 68Wahrung des Wartestandards beizutragen, begründete manchmal den Beginn einer langen Freundschaft. Der Nachbar, mit dem man angestanden, oder die Freundin, die man beim gemeinsamen Überwachen kennengelernt hatte, wurden bald zu Menschen, an die man sich in allen möglichen Notlagen wandte: wenn ein älteres Haushaltsmitglied plötzlich erkrankt war und man deshalb einen anderen Babysitter brauchte; wenn man mitten in der Zubereitung des Geburtstagskuchens merkte, dass man keinen Zucker mehr hatte; wenn man Lebensmittelmarken tauschen wollte, weil man von dem einen Produkt einen riesigen Vorrat und von einem anderen zu wenig hatte. Wir kamen ständig auf unsere Freunde und Nachbarn zurück. Wann immer es nötig war, klopften wir bei ihnen an, egal zu welcher Uhrzeit, und falls sie nicht hatten, was wir brauchten, boten sie einen Ersatz an oder nannten uns eine Familie, die uns vielleicht weiterhelfen konnte.

Das subtile Gleichgewicht aus Regeln befolgen und sie brechen musste auch auf anderen Gebieten bewahrt werden. Beispielsweise, wenn man in einer zerknitterten oder gar fleckigen Uniform im Kindergarten oder in der Schule erschien; wenn der Friseur oder die eigenen Eltern einem einen Haarschnitt verpasst hatten, der vielleicht imperialistisch wirkte; wenn man die Nägel länger wachsen ließ als allgemein akzeptiert oder sie in einer ungewöhnlichen, möglicherweise revisionistischen Farbe wie Dunkellila lackierte. Dasselbe Prinzip ließ sich, wie ich später merkte, auch auf allgemeinere Fragen übertragen: ob Männer und Frauen tatsächlich gleichgestellt waren, ob die Ansichten ranghoher und rangniedriger Parteimitglieder dasselbe Gewicht hatten; wann Witze über die Partei oder den Staat ernste Konsequenzen nach sich ziehen konnten oder, wie in meinem Fall, mit wem man offen über Fotos im heimischen Wohnzimmer sprechen durfte.

69Der Trick bestand stets darin, zu wissen, welche Regel wann wichtig war, und idealerweise auch, ob sie mit verstreichender Zeit gelockert würde; ob sie jemals wirklich ernst gemeint gewesen war oder vielleicht in einigen Bereichen nach strenger Beachtung verlangte, in anderen dagegen nicht – und wie sich das eine vom anderen unterscheiden ließ, bevor es zu spät war. Erfolgreich auf dem schmalen Grat zwischen Gehorsam und Regelbruch zu balancieren, war für uns Kinder das wahre Zeichen von Wachstum, Reife und gesellschaftlicher Teilhabe.

Ich für mein Teil lernte eines späten Abends im August 1985, dass mein Versprechen, die Gleichgültigkeit meiner Eltern gegenüber fotografischen Erinnerungen an unseren Staatsführer niemals zu thematisieren, absolut bindend war, so absolut, dass jedes andere Versprechen dahinter zurücktrat. Den Tag vor diesem Abend hatte ich fast komplett hoch oben in einem Feigenbaum im Garten der Papas verbracht.

Die Papas waren unsere direkten Nachbarn, ein Ehepaar Mitte sechzig, dessen Kinder zum Zeitpunkt meiner Geburt schon aus dem Haus waren. Meine Mutter hatte sich mit der Nachbarin Donika angefreundet, als die beiden sich gegen eine Frau zusammengetan hatten, die sich offenbar in der Petroleumschlange vordrängeln wollte. Wie meine Mutter neigte Donika dazu, anderen zu misstrauen, und der erste Eindruck, den man von ihr bekam, war ein eher feindseliger. Sie war klein und rundlich, zankte sich oft mit den anderen Nachbarn und hatte bei uns Kindern einen schlechten Ruf, obwohl sie zu mir immer sehr nett war. Vor ihrer Pensionierung hatte Donika im Postamt gearbeitet. Sie hatte einen großen Teil ihrer Zeit damit verbracht, »Alo, alo?« in kaputte Telefone zu brüllen, und deswegen neigte sie dazu, jeden Vokal wie ein A auszusprechen und die letzte Silbe eines jeden Wortes in die Länge zu ziehen, als läute sie eine Alarmglocke: ALAA, ALAA, ALAA. 70Oder, wenn sie meine Mutter Doli rief: DALAA, DALAA, DALAA!

Donikas Ehemann Mihal war ein hoch angesehener örtlicher Parteifunktionär, dessen buschiger Schnurrbart ein wenig an den von Stalin erinnerte. Mihal hatte im Krieg gekämpft, viele Feinde besiegt und dafür ein Dutzend Orden bekommen, obwohl sein Stolz, sie zu besitzen, anscheinend kleiner war als meine Freude, wenn ich damit spielen durfte. Besonders faszinierte mich die Geschichte von dem Nazi-Soldaten, den er getötet hatte, ein blonder Mann namens Hans, dem Mihal, als er seine letzten Atemzüge tat, Wasser angeboten hatte, um sich das Blut aus dem Mund zu spülen. Hans hatte abgelehnt und stattdessen »Heil Hitler« gemurmelt. Ich fragte, wie Mihal Hans getötet hatte, aber er sprach lieber über seine letzte Erinnerung an den Mann und dessen dünnen, noch nicht mal ganz ausgewachsenen Schnurrbart. »Ich hatte eigentlich selbst noch keinen«, fügte er hinzu, und ich wunderte mich darüber, dass er Hans so liebevoll beschrieb, fast so, als ginge es um einen lange verschollenen Freund und nicht um einen Todfeind, dessen Leben er ausgelöscht hatte.

Die Papas liehen uns regelmäßig Geld, betreuten mich, wenn meine Eltern und meine Großmutter nicht da waren, und hatten einen Schlüssel zu unserem Haus. Ich verbrachte lange Sommerabende in ihrem Garten, pflückte Weintrauben von ihrem Spalier und aß danach mit ihnen zu Abend, wo ich am Raki nippen und mit Mihals alter Partisanenmütze auf dem Kopf vom Tisch springen durfte. Von ihrem Garten aus hatte man einen spektakulären Ausblick auf das Meer, außerdem gab es dort einen gigantischen Feigenbaum mit köstlichen Früchten. Mihal hatte mir erzählt, dass man, wenn man nur hoch genug hinaufkletterte, den Sonnenuntergang sehen und alle Boote zählen konnte, die hereinkamen oder ausliefen. Ganz 71wohl war mir nie dabei, denn ich musste immer an das kleine Mädchen denken, das vom Baum gefallen war und nun neben meinem Großvater begraben lag.

An jenem Augustabend im Jahr 1985 nahm ich all meinen Mut zusammen und kletterte hinauf. Aber nicht, um den Sonnenuntergang zu sehen oder die Boote im Hafen zu zählen, sondern aus Protest. Den ganzen Sommer lang hatten meine Eltern und die Papas kein Wort miteinander gewechselt. Ende Juni hatten meine Mutter und Donika einen Streit, der sich zu einem Krieg ausweitete, in den alle anderen mit hineingezogen wurden und an dessen Ende ich die Einzige in der Familie war, mit der die Papas noch sprachen.

Bei dem Streit war es um eine Coca-Cola-Dose gegangen. Mitte Juni hatte meine Mutter einer Kollegin aus der Schule eine leere Dose abgekauft; der Preis hatte ungefähr dem entsprochen, was man im Touristenshop für ein Bild unseres Nationalhelden Skanderbeg berappen musste. Den ganzen Nachmittag hatten sie und meine Großmutter überlegt, wo die Dose stehen und ob man sie – sie war ja leer – mit einer Rose aus dem Garten schmücken sollte. Am Ende kamen sie überein, dass die Idee mit der Rose zwar originell war, jedoch vom ästhetischen Wert der Dose ablenkte, und so platzierten sie sie ohne weitere Dekoration auf unserem besten Stickdeckchen.

Ein paar Tage später war die Dose verschwunden. Und als sie wiederauftauchte, stand sie auf dem Fernsehgerät der Familie Papas.

Die Papas hatten jederzeit Zugang zu unserem Haus, sie wussten von dem alten Mantel meines Großvaters, in dessen Taschen wir unsere gesamten Ersparnisse aufbewahrten, und sie hatten uns geholfen, von der Partei eine Bauerlaubnis zu erhalten. Ich hatte den Eindruck, dass sie außerdem alles Mögliche über unsere Biografie wussten, aber ich fragte nie nach, weil 72ich das Wort nicht ganz verstand und mich nicht lächerlich machen wollte. Mihal war in den örtlichen Parteikreisen immer noch aktiv, er half meinen Eltern oft, Verwaltungsangelegenheiten zu klären, und verteidigte sie bei Parteitreffen ebenso wie bei den Sitzungen des Nachbarschaftskomitees.

An den Sitzungen des Komitees teilzunehmen, war für alle in der Gegend Pflicht, doch die Mitgliedschaft in der Partei stand nur Leuten mit guten Biografien offen. Meine Eltern durften nicht eintreten, aber Mihal war ein Veteran und seine Bewertung der jeweiligen Kandidaten und ihrer Verdienste fiel ins Gewicht. Einmal war er drauf und dran, den Eintritt einer anderen Nachbarin, Vera, zu verhindern, weil sie in einer der Sitzungen angedeutet hatte, meine Eltern wären Reaktionäre, die sich vor den sonntäglichen Putzaktionen drückten. Die Sonntagsaktionen waren in der Theorie freiwillig, praktisch stellten sie aber einen jener Fälle dar, in denen das Normale das Gegenteil vom Behaupteten ist. Als meine Eltern neu im Viertel waren, hatten sie große Mühe gehabt, die offizielle Empfehlung richtig zu deuten. Sie lernten schnell.

Meine Familie verbrachte viel Zeit mit den Papas. Sonntags säuberten sie die Straße gemeinsam, und wenn es eine Hochzeit oder eine Beerdigung zu organisieren gab, halfen sie den anderen Nachbarn. Hochzeiten wurden für gewöhnlich im eigenen Garten gefeiert und mit Hunderten von Gästen. Alle halfen beim Kochen mit, schafften Tische und Bänke aus der nächstgelegenen Schule herbei oder bereiteten eine Bühne für das Orchester vor, das bis in die Nacht spielen würde. Unsere beiden Familien schleppten die Bänke stets gemeinsam, und später während des Essens und der Feierlichkeiten saßen sie nebeneinander. Die Kinder durften bis zum Morgengrauen aufbleiben und singen und tanzen, und wenn das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, näherten die Gäste sich der Braut, we73delten mit einer Hundert-Lek-Note, leckten sie an und klatschten sie ihr an die Stirn, wie die Sitte es verlangte. Mihal klatschte immer auch mir einen Schein an die Stirn, weil er fand, dass ich besser tanzte als die Braut und sowieso viel intelligenter war.

Im Spätsommer hatten Mihal und meine Mutter sich oft zusammengetan, um Raki zu brennen. Während jener Tage des langen Wartens, wenn die vergorenen Trauben gebrannt wurden, der Alkohol aus der Tülle tropfte und der Raki auf seine Stärke oder Schwäche getestet wurde, redeten sie über alte Zeiten. Einmal habe ich zufällig mitbekommen, wie meine Mutter den Hafen unserer Stadt beschrieb, wie er in den Dreißigerjahren gewesen war; das größte Boot ihrer Familie, sagte sie zu Mihal, werde bis heute für Exporte verwendet. Ich war verwirrt, und später fragte ich Mihal, was das zu bedeuten hatte. Aber er antwortete, sie hätten über arka gesprochen, nicht varka, über Kisten, nicht Boote, und dann fragte er, ob ich auf dem Tisch tanzen wolle, an dem er gerade saß und sein Meze aß.

Ich erwähne das alles nur, um zu betonen, dass meine Mutter die Papas nicht im Traum des Diebstahls bezichtigt hätte, wäre das fragliche Objekt nicht eine Coca-Cola-Dose gewesen. Damals waren diese Dosen ein seltener Anblick. Noch seltener war das Wissen um ihre Funktion. Sie hoben den Sozialstatus: Wer zufällig eine besaß, stellte sie stolz im Wohnzimmer aus, normalerweise auf einem Häkeldeckchen auf dem Fernseher oder dem Radio, nicht selten direkt neben dem Foto von Enver Hoxha. Ohne die Coca-Cola-Dose sahen unsere Wohnungen alle gleich aus. Sie waren in der gleichen Farbe gestrichen und mit den gleichen Möbeln eingerichtet. Mit der Coca-Cola-Dose änderte sich etwas, und zwar nicht nur in visueller Hinsicht. Neid schlich sich ein. Zweifel kamen auf. Vertrauen wurde gebrochen.

74»Meine Dose!«, rief meine Mutter, als sie Donika ein geborgtes Nudelholz zurückbrachte und bei der Gelegenheit das rote Objekt auf dem Fernseher stehen sah. »Wie kommt meine Dose hierher?« Donika kniff die Lider zusammen, als könne sie nicht erkennen, worauf meine Mutter zeigte, oder als traue sie ihren Augen nicht. »Die gehört mir«, sagte sie stolz. »Ich habe sie vor kurzem gekauft.« »Ich habe sie vor kurzem gekauft«, wiederholte meine Mutter, »und sieh mal einer an, wo sie jetzt ist.« »Willst du etwa behaupten, meine Dose wäre gestohlen?«, fragte Donika angriffslustig. »Ich behaupte, dass deine Dose in Wahrheit meine Dose ist«, antwortete meine Mutter.

An dem Tag stritten sie und Donika wie nie zuvor. Sie fingen vor dem Fernseher an und machten dann auf der Straße weiter, wo sie Beleidigungen ausstießen und Nudelhölzer schwangen, während alle drum herum standen und zuschauten. Donika schrie, meine Mutter sei ein als Lehrerin verkleideter Bourgeois, und meine Mutter schrie zurück, Donika sei eine als Postbeamtin verkleidete Bäuerin. Nach einer Weile wurde eine Zeugin hinzugezogen; eine Nachbarin, die in der nahe gelegenen Zigarettenfabrik arbeitete, konnte bestätigen, dass sie die leere Dose an Donika verkauft hatte, einen Tag nachdem meine Mutter die ihre erworben hatte.

An diesem Punkt bot meine Mutter eine förmliche Entschuldigung an. Donika und Mihal waren so gekränkt, dass sie ablehnten. Sie machten auf dem Absatz kehrt und gingen ins Haus, und von da an riefen sie meine Eltern nie wieder aus dem Fenster zum Morgenkaffee herüber. Sie ignorierten einander in der Warteschlange, und einmal tat Donika sogar so, als erkenne sie den herrlichen großen Stein nicht wieder, den meine Mutter zu ihrer Vertretung in der Schlange hinterlassen hatte, obwohl er doch aus dem Garten der Papas stammte. 75Wir erfuhren nie, wer unsere Coca-Cola-Dose gestohlen hatte, aber wir fanden es zu riskant, eine neue zu beschaffen, egal wie sehr sie unser Wohnzimmer verschönert hätte. Ich nutzte die Gelegenheit und bat darum, statt einer Dose ein Porträt von Onkel Enver auf den Fernseher zu stellen – eine Bitte, die meine Eltern wieder einmal übergingen.

In dem Sommer durfte ich im Garten der Papas immer noch auf Bäume klettern, aber zum Abendessen wurde ich nicht mehr eingeladen. Wenn ich Mihal fragte, ob ich mit seinen Orden und seiner Partisanenmütze spielen dürfe, sagte er: »Ein andermal.« »Es geht hier um Würde. Sie haben unsere Würde mit Füßen getreten«, hörte ich ihn eines Tages zu Donika sagen. Langsam beschlich mich der Verdacht, die Papas könnten gar nicht wegen der Coladose so wütend auf meine Eltern sein, sondern aus einem anderen, bedeutsameren Grund, vielleicht wegen einer Sache, die meine Eltern nicht einfach so ersetzen oder wiedergutmachen konnten. Mein Herz war gebrochen. Wenn Donika in der Käseschlange wortlos an meiner Mutter vorbeiging, konnte ich es kaum ertragen, und ich vermisste, wie sie am Fenster gestanden und meine Mutter mit ihrem dünnen Stimmchen zum Kaffee gerufen hatte: Dalaaaa, Dalaaaa, Kaffaaaa, Kaffaaaaa! Die Herzen meiner Eltern waren ebenfalls gebrochen, aber sie wussten nicht, was sie noch tun oder sagen könnten, um sich zu entschuldigen.

Nachdem das für ein paar Wochen so gegangen war, beschloss ich, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Ich würde mich im Garten der Papas verstecken, damit meine Eltern mich für vermisst hielten und sich auf die Suche machten. Ich stellte mir vor, dass die Papas sich der Suche anschließen würden, sobald sie sahen, wie sehr der drohende Verlust ihrer geliebten Erstgeborenen meine Eltern aufwühlte, und dass 76außerdem die ganze Nachbarschaft auf den Beinen war. Vielleicht würden unsere Familien sich wieder näherkommen und alles wäre wie früher, als sie gemeinsam die Straße gefegt und bei Hochzeiten am selben Tisch gesessen hatten.

Meine Strategie ging auf. Nach stundenlanger, vergeblicher Suche – überall außer im Feigenbaum, wo niemand mich je vermutet hätte – war meine Großmutter verzweifelt. Mein Vater tigerte durch die Straße, zitternd und mit dem Asthmaspray in der Hand, und selbst meine Mutter, die sonst eigentlich nie weinte, war den Tränen nahe. Als die Papas das sahen, waren sämtliche Coca-Cola-Dosen vergessen. Donika umarmte meine Mutter, die sich sonst eigentlich nie umarmen ließ, und sagte ihr, alles würde gut, bald würde man mich wiederfinden. Ich beobachtete alles von meinem Hochsitz im Baum aus und beschloss, dass unsere Familien nun wieder vereint waren. Obwohl ich sehr vorsichtig abwärts kletterte, zog ich mir dennoch ein paar Schnitte und Kratzer an den Knien zu, und als ich mit blutverschmierten Beinen und tränenüberströmten Wangen die Einzelheiten meines Plans offenbarte, waren alle über die Maßen gerührt. Ich gab zu, dass ich absichtlich verschwunden und auf den Baum geklettert war. Ich könne nicht mehr ertragen, wie meine Familie und die Papas einander in der Warteschlange schnitten. Ich sagte, ich wolle bei Hochzeiten wieder neben den Papas sitzen, wieder mit Mihals Mütze spielen und von seinem Tisch aufs Sofa springen. Da sagten die Papas: »Keine Sorge, alles ist vergeben und vergessen«, und sogar meine Großmutter nickte, sie, die nach einem Streit eigentlich immer zu sagen pflegte: »Pardonner oui, oublier jamais« – vergeben ja, vergessen nie.

An dem Abend luden meine Eltern die Papas wieder zum Meze ein. Sie tranken Raki und lachten herzlich darüber, wie dumm sie gewesen waren, eine Coladose zwischen sich kom77men zu lassen. Mihal leckte eine Hundert-Lek-Note an und klatschte sie mir an die Stirn. Auf den Feigenbaum zu klettern, sagte er, sei sehr tapfer und sehr schlau gewesen. Später äußerte er noch den Gedanken, dass Coca-Cola-Dosen in imperialistischen Ländern hergestellt und in Albanien möglicherweise als Instrument der Korruption eingesetzt werden; unsere Feinde schmuggelten sie heimlich ins Land, um das Band des Vertrauens und der Solidarität zu brechen. Als er das spät an dem Abend sagte, war längst nicht mehr klar, ob er es ernst meinte, aber ich weiß, dass alle lachten, mehr Raki tranken, auf das Ende des Imperialismus anstießen und noch mehr lachten.

Nur einmal wurde Donika ernst, nämlich als sie meiner Mutter ihre Coladose anbot. Sie könnten sie, schlug Donika vor, abwechselnd zur Schau stellen, zwei Wochen auf diesem Fernseher und zwei Wochen auf jenem. Meine Mutter lehnte ab, denn sie war überzeugt, dass wir solchen Großmut nicht verdient hatten. Im Gegenteil, sagte sie, wenn wir unsere Coca-Cola-Dose noch hätten, würde sie sie Donika anbieten, damit Donika eine Dose für Salz hätte und eine für Pfeffer, wie bei diesen Sets, die manchmal in Der Denver-Clan zu sehen waren. Donika sagte, das sei doch nicht nötig, überhaupt seien Coca-Cola-Dosen inzwischen fast ein bisschen gewöhnlich; diese anderen Dosen in Weiß und Orange seien mittlerweile ja viel begehrter, leider könne sie sich nicht an den Namen erinnern, irgendetwas mit »Fantasie« oder »fantastisch«. Dann lobte sie das Deckchen, auf dem unsere Dose gestanden hatte und das so ganz für sich doch viel besser zur Geltung komme. Meine Mutter habe das Tulpenmotiv so hübsch eingestickt, dass es zu bedecken eine Schande wäre.

»Eigentlich sollte dort ein Foto von Onkel Enver stehen«, sagte ich fröhlich in den Lärm hinein, »aber sie wollen mit Onkel Enver einfach nichts zu tun haben. Ständig versprechen sie, 78es aufzustellen, aber dann tun sie es doch nicht. Ich glaube, sie können Onkel Enver nicht leiden«, sagte ich und spielte mit der Hundert-Lek-Note, die Mihal mir eben geschenkt hatte. Sein Lob meiner Schlauheit hatte mich mutig gemacht.

Sofort kippte die Stimmung im Wohnzimmer. Alle erstarrten. Meine Mutter, die eben noch mit Donika gelacht und beteuert hatte, wie sehr sie Donikas köstliche Baklava vermisse, verstummte und sah die Nachbarin aufmerksam an, als wollte sie ihre Gedanken erraten. Nini, die nebenan in der kleinen Küche weitere Speisen zubereitete, erschien mit einer Schüssel gewaschener Gurken im Türrahmen. Ihre Hände zitterten. Mein Vater, der sich gerade Oliven und Käse von der großen Platte nahm, ließ die Gabel fallen. Ganz kurz war nichts zu hören als das Sirren der Mücken, die um die Wohnzimmerlampe tanzten.

Mihal runzelte die Stirn und wandte sich mit ernster, geradezu strenger Miene an mich. »Komm mal her«, sagte er in die Stille, und ich setzte mich auf seinen Schoß. »Ich dachte, du bist ein schlaues Mädchen. Eben noch habe ich dich dafür gelobt, wie schlau du heute warst. Aber so etwas wie das eben, das sagen schlaue Mädchen nicht. Es war sogar sehr dumm, das Dümmste, was ich je aus deinem Mund gehört habe.« Ich errötete, meine Wangen brannten. »Deine Eltern lieben Onkel Enver. Sie lieben die Partei. So etwas Dummes darfst du nie wieder sagen, zu niemandem. Andernfalls hast du es nicht verdient, mit meinen Orden zu spielen.«

Ich nickte. Ich hatte zu zittern begonnen und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Als Mihal mein Zittern an den Knien spürte, schien er seinen Tonfall zu bedauern. Er sprach mit weicher Stimme weiter: »Na, na, na, nicht weinen«, sagte er. »Du bist doch kein Baby. Sondern ein tapferes Mädchen. Wenn du groß bist, wirst du für dein Land und für die Partei 79kämpfen. Deine Eltern machen Fehler, wie mit der Coladose, aber sie sind gute, fleißige Menschen, die dich anständig erziehen. Sie sind im Sozialismus aufgewachsen und lieben die Partei, und Onkel Enver auch. Hast du das verstanden? So etwas wie eben darfst du nie wieder sagen.«

Ich nickte abermals. Die anderen schwiegen. »Komm«, sagte Mihal, »trinken wir. Auf deine Zukunft ohne Coca-Cola-Gezänk.« Er griff zu seinem Glas und hielt dann inne, als wäre ihm noch etwas eingefallen, etwas sehr Wichtiges. »Du musst mir versprechen, dass du zu mir kommst und es mir erzählst, falls dir je wieder solche dummen Gedanken über deine Familie in den Sinn kommen. Zu mir – und sonst niemandem, nicht einmal zu Tante Donika. Hast du verstanden?«