»Wen wird deine Familie wählen?«, fragte Elona in der Schule. Wenige Tage vor Jahresende waren freie Wahlen angekündigt worden.
»Die Freiheit«, sagte ich. »Freiheit und Demokratie.«
»Ja, mein Vater auch«, sagte sie. »Er sagt, die Partei hatte unrecht.«
»Worin?«
»In allem. Meinst du, die Partei hatte auch mit Gott unrecht?«
Ich zögerte. Ich wusste, warum sie das fragte. Ich wollte nicht, dass sie sich aufregte, aber letztendlich schaffte ich es nicht, sie anzulügen. Nach kurzem Schweigen erklärte ich, dass ich nicht an die Existenz Gottes glaubte. Ich bedauerte meine Worte sofort. »Aber wer weiß«, ergänzte ich schnell, »die Partei hatte in vielen Fragen unrecht. Deswegen gibt es jetzt den Pluralismus. Das bedeutet, wir haben jetzt viele verschiedene Parteien und freie Wahlen, bei denen die Leute für eine Partei stimmen können, und am Ende kommt heraus, wer recht hat. Mein Vater hat mir das erklärt.«
»Wahrscheinlich hat Lehrerin Nora deswegen gesagt, Religion wäre das Podium des Volkes«, überlegte Elona. »In dem Fall hatte die Partei also recht.«
»Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Nur noch an die Stelle, wo sie gesagt hat, Religion ist das Herz einer herzlosen 156Welt. Ich habe Nini noch mal nach Gott gefragt, aber sie meinte, damit kennt sie sich nicht aus. Sie vertraut allein auf ihr Gewissen. Was immer das heißen soll.«
»Vielleicht heißt es, dass es im Pluralismus Parteien gibt, die finden, es gibt einen Gott, und andere finden, es gibt ihn nicht, und wer die Wahl gewinnt, entscheidet, was richtig ist«, überlegte Elona.
»Na ja, aber so was kann man doch nicht einfach entscheiden. Dann könnte eine Partei ja versuchen, die Wahlen zu gewinnen, indem sie den Leuten einredet, dass es Zeus oder Athene oder was auch immer wirklich gibt und wir den Göttern Menschenopfer bringen müssen wie die alten Griechen.«
»Nichts hält sie davon ab«, sagte Elona. »Genau darum geht es doch. Wir sind jetzt frei. Jeder kann behaupten, was er will.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber dann müssten sie ständig Weihnachten und Silvester abschaffen und wiedereinführen, je nachdem, wer die Wahl gewonnen hat. Es muss doch Fakten geben. Im Sozialismus haben wir nicht einfach irgendwas geglaubt, sondern uns auf die Wissenschaft verlassen. Die Wissenschaft ist real, weil man Experimente machen und Theorien beweisen kann. Ich wüsste nicht, wie man Gott beweisen soll.«
»Ich glaube immer noch ein bisschen an Gott«, sagte Elona. »Also, an die Wissenschaft glaube ich natürlich auch, aber auch an Gott. Du nicht?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Früher habe ich an den Sozialismus geglaubt und mich auf den Kommunismus gefreut. Ich fand es richtig, dass gegen die Ausbeutung gekämpft wird und die Arbeiterklasse die Macht hat. Aber jetzt behaupten meine Eltern, unsere Familie hätte beim Klassenkampf auf der falschen Seite gestanden.«
157»Niemand glaubt mehr an den Sozialismus. Nicht mal die Arbeiterklasse«, sagte Elona.
»Auch nicht dein Vater?«, fragte ich. »Auf welcher Seite des Klassenkampfes steht deine Familie?«
»Mein Vater?« Elona dachte kurz nach. »Der auch nicht. Ja, als Busfahrer gehört er zur Arbeiterklasse. Am Ersten Mai ist er immer zusammen mit seiner Brigade bei der Parade mitgelaufen. Aber jetzt beschimpft er den Fernseher, sobald ein Parteisekretär ins Bild kommt. Überhaupt ist er zurzeit ziemlich gereizt. Er trinkt viel mehr als früher und lässt sich kaum beruhigen. Meine Schwester Mimi ist immer noch im Kinderheim. Er hatte mir versprochen, sie nach sechs Monaten nach Hause zu holen, aber jetzt sagt er, wir können uns das nicht leisten. Früher war er lustig, wenn er was getrunken hatte, aber jetzt ist er die ganze Zeit wütend. Ich glaube nicht, dass er jemals an den Sozialismus geglaubt hat.«
»Meine Eltern haben sich auch verändert. Früher haben sie sich über die Stromausfälle nie aufgeregt, aber jetzt verlieren sie beim kleinsten Anlass die Geduld. Sie schreien rum: ›Arschlöcher, diese Arschlöcher!‹ Wenn ich nach der Schule nicht pünktlich zu Hause bin, kriegt nur meine Großmutter was davon mit. Nur sie ist die Alte geblieben. Sie hat sich überhaupt nicht verändert.«
»Mein Großvater sagt, er hätte immer ein bisschen an Gott geglaubt«, fuhr Elona fort. »Er hat heimlich Weihnachten gefeiert, selbst als die Religion abgeschafft war. Er war Partisan. Er findet, die Partei hat ein paar gute Sachen gemacht, zum Beispiel dass alle lesen und schreiben lernen, und sie hat Krankenhäuser gebaut und Stromkabel verlegt und so weiter. Aber sie hat auch schlimme Sachen gemacht, wie Kirchen zerstören und Leute umbringen. Er sagt, er ist ein Sozialist und ein Christ und dass es für einen Christen sehr einfach ist, Sozialist 158zu sein. Er ist immer noch in der Partei. Er ist nicht ausgetreten.«
»Mein Großvater war auch Sozialist«, sagte ich. »Er hat fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen. Meine Eltern hatten in der Partei keine Chance.«
»Das ist so verrückt«, sagte Elona. »Mein Großvater sagt, vielleicht werden die Kirchen wiederaufgebaut, jetzt wo es politischen Pluralismus gibt. Er sagt, Mama ist im Paradies und er betet für sie. Ich habe ihn gefragt, ob er mir zeigt, wie man das macht.«
»Wir sind Muslime«, erklärte ich. »Wir gehen in die Moschee. Gut, derzeit gibt es keine Moscheen, deswegen weiß ich nicht, ob wir hingehen, falls sie wiederaufgebaut werden. Meine Mutter sagt, in ihrer Familie haben immer alle an Gott geglaubt.«
»Weihnachten und Silvester sind mir egal«, sagte Elona. »Sollen sie doch feiern, was sie wollen. Was immer die Leute wählen. Gewählt wird an einem Sonntag, daran hat sich nichts geändert. Wusstest du, dass Christen früher sonntags in die Kirche gegangen sind?«
Ich zuckte die Achseln. »Wir sind Muslime«, wiederholte ich. »Keine Ahnung, was wir sonntags machen müssen. Wir werden ja sehen, was passiert.«
Was passierte, war, dass wir ausschliefen. Den Morgen am Tag der ersten freien und fairen Wahlen verbrachten wir im Bett. Mein Vater stand gelegentlich auf und ging in die Küche, um die Nachrichten zu hören. »Wir haben noch Zeit«, flüsterte er, als fürchtete er, seine Stimme könnte das helle Tageslicht, das durch die dunklen Vorhänge ins Zimmer drang, noch verstärken und unseren Versuch vereiteln, uns nicht vom Fleck zu rühren. Er stand im Türrahmen und nahm die feierliche Haltung ein, in der er normalerweise wichtige Neuigkeiten verkündete. In dem Fall war es nur ein Wort: dreißig.
159Dann verschwand er im Schlafzimmer. Eine Stunde später wiederholte er den Vorgang; er hörte die Nachrichten und erschien im Türrahmen, um uns Kindern die neuesten Zahlen mitzuteilen. Vierzig, sagte er, und noch später: fünfzig. Jedes Mal war ein Geräusch von unter der Bettdecke zu hören, als unterdrücke jemand einen Jubel. »Es geht noch weiter rauf«, flüsterte meine Großmutter und zog sich die Decke, die wir uns teilten, bis ans Kinn, geradeso, als wäre tiefste Nacht. »Ich glaube, hundert werden es nicht«, sagte mein Vater. In dem Moment wurde der Jubel lauter und unmöglich zu ignorieren. »Wir müssen weiterschlafen«, sagte meine Großmutter.
Wir schliefen nicht besonders tief. Es war eher ein selbstverordnetes Dösen, mal in der Hoffnung, einen angenehmen Traum weiterträumen zu können, mal um die wartende Wirklichkeit auszublenden. Diesmal vermischte der Traum sich mit den Nachrichten. Der Traum von der Wahlbeteiligung.
Wir wünschten uns, dass sie weiter stieg. Aber langsam, nicht schlagartig und vor allem nicht höher als neunundneunzig Prozent. Eine Wahlbeteiligung von nahezu hundert Prozent, noch dazu so früh am Tag verkündet, hätte bedeutet, dass die Wahl weder frei noch fair war und dasselbe passierte wie immer. In der Vergangenheit waren wir am Wahltag um fünf Uhr morgens aufgestanden. Um sechs hatten die Erwachsenen bereits vor den Kabinen gewartet, und um sieben hatten sie gewählt. Um neun wurde das Endergebnis verkündet. »Jede Stimme aus dem Volk ist eine Gewehrkugel in Richtung Feind«, lautete die offizielle Parole. Meine Eltern waren zu der Auffassung gelangt, sich mit einem besonders frühen Urnengang von dem Verdacht befreien zu können, sie wollten ihre Kugeln nicht abfeuern.
Normalerweise gehörten wir immer zu den Ersten. Die Warteschlange war ähnlich lang wie die für Milch; sie formierte 160sich bereits in der Nacht, mit dem einzigen Unterschied, dass die potenziellen Wähler sich nicht durch Taschen, Dosen oder Steine vertreten ließen. Jeder war persönlich anwesend. Es gab kein Geschrei und keine Kontaktaufnahme mit Bekannten und schon gar nicht das Gefühl, alles könnte von einem Moment zum anderen in Chaos versinken. Die Ordnung und die erwartungsvolle Ruhe in der Warteschlange erweckten bei mir den Eindruck, zu wählen sei schon an sich viel lohnender, als beispielsweise Milch zu kaufen. So oder so war die Stimmung besser. Im Fall meiner Eltern war sie so gut, dass ich ihrer Begeisterung gerecht werden wollte, indem ich mir einen eigenen Beitrag überlegte. Manchmal sagte ich vor dem Wahlkomitee ein die Partei preisendes Gedicht auf, manchmal platzierte ich einen mitgebrachten Blumenstrauß vor der Urne, direkt neben Onkel Envers Porträt.
Die letzte Wahl im Sozialismus, an die ich mich erinnern kann, fand 1987 statt. Ich hatte ein Gedicht geschrieben, das ich vortragen wollte; da ich zum Wählen offenbar zu jung war, sollte das Gedicht meine Kugel sein. Aber dann quälte mich die Frage, was für eine Art Geschoss ich da vorbereitet hatte und ob es stark genug wäre, unsere Feinde zu zerstören. Meine Großmutter versicherte mir, das Gedicht sei ganz hervorragend, aber meine Eltern versuchten, meine Erwartungen zu dämpfen; sie erklärten mir, möglicherweise würde für einen Gedichtvortrag keine Zeit bleiben. Alles hinge von der Warteschlange ab, sagten sie.
Als wir das Haus verließen, war es draußen noch dunkel. Ich war aufgeregt und hielt die rechte Hand meines Vaters fest umklammert. Sie war so verschwitzt wie meine. Wir warteten in der Schlange vor dem Wahlbüro, und als wir an der Reihe waren, gab ein Mitglied des Komitees meinem Vater ein Blatt mit den Namen der Vertreter der Demokratischen Front, der 161einzigen Organisation, die Kandidaten aufstellen durfte. Mein Vater füllte den Stimmzettel aus, ohne hinzusehen, faltete ihn zweimal und steckte ihn in die rote Kiste. Sein Blick ruhte auf dem Helfer, der gerade den Stimmzettel für meine Mutter vorbereitete, die Nächste in der Schlange. Mein Vater grüßte ihn mit einem Nicken, und der Helfer hob die Faust. Auch ich hob die Faust, wie immer, wenn ich die Geste irgendwo sah.
An meinen Vortrag habe ich keinerlei Erinnerung mehr. Vielleicht beschlichen mich in letzter Minute Zweifel an der Qualität des Gedichts, oder meine Eltern fanden eine Möglichkeit, mich unauffällig aus den Räumlichkeiten zu bugsieren, bevor die Sache für sie noch peinlicher wurde.
Jetzt, bei den freien und fairen Wahlen, war alles anders. Wir mussten nicht früh aufstehen. Es würde keine Warteschlange geben. Ob wir wählen gingen oder nicht, interessierte niemanden. Wir hatten den ganzen Tag Zeit, und falls uns nicht danach war, konnten wir es einfach sein lassen. Alle blieben im Bett liegen, als wägten sie immer noch ab, ob es sich auch wirklich lohnte, aufzustehen und zum Wahlbüro zu gehen, und falls ja, wen sie wählen sollten.
Am Vorabend hatten wir die Kleidung herausgelegt, die wir tragen würden. Meine Großmutter, die ich nur in Schwarz kannte, weil sie um meinen Großvater trauerte, nahm eine weiß gepunktete Bluse aus einer Holzkiste. Zum letzten Mal für eine Wahl schick gemacht hatte sie sich 1946. Damals, erzählte sie, habe sie auch einen Hut getragen und eine Perlenkette. Der Hut hänge wahrscheinlich immer noch im Fundus des nationalen Filmstudios, witzelte sie, wo die meisten der von bourgeoisen Familien beschlagnahmten Kleidungsstücke gelandet waren.
Meine Eltern beratschlagten sich, ob sie früh hingehen oder noch warten sollten. Niemand konnte vorhersagen, wie der 162Wahltag sich entwickeln würde. Die Wahlen von 1946 kamen auf, und die hatten nicht gut geendet; kurz danach waren meine Großeltern verhaftet und war der Rest der Familie deportiert worden. Konnte Geschichte sich wiederholen?
»Damals war die Welt eine andere«, gab mein Vater zu bedenken. »Die Sowjets hatten den Krieg gewonnen. Jetzt haben sie verloren.« »Ja, die Sowjets«, murmelte meine Mutter sichtlich irritiert. »Mit den Sowjets ging es schon vor einem Jahr zu Ende. Wo warst du eigentlich damals?«, fragte sie. Die Frage war rein rhetorisch gemeint; sie justierte ihren Tonfall nach und teilte den finalen Schlag aus: »Du hast die Maiparade vorbereitet.«
Mein Vater schüttelte seltsam entschlossen den Kopf. »Enver ist am Ende. Die Partei ist am Ende. Es gibt kein Zurück.«
Wenige Wochen zuvor war Enver Hoxhas Statue auf dem größten Platz der Hauptstadt gestürzt worden. Studierende waren in den Hungerstreik getreten und forderten eine Umbenennung der Universität, die unverändert »Enver Hoxha« hieß. Während die Parteifunktionäre noch überlegten, wie sie mit der Forderung umgehen und ob sie den jungen Leuten ein Referendum vorschlagen sollten, eskalierten die Konflikte.
Aber die Partei war nicht am Ende. Aus der Partei wurde bald eine Partei. Eine von vielen. Sie würde mit anderen Gruppen, die eigene Kandidaten, Zeitungen, Programme und Namenslisten hatten, um die Parlamentssitze wetteifern. Einige dieser Kandidaten waren Leute, die früher in der Partei gewesen waren und nun das Lager gewechselt hatten. Andere blieben loyal. Dass die Partei sich auf diese Weise auflösen und vervielfältigen, dass sie als die Krankheit und das Heilmittel zugleich gelten konnte, als die Wurzel alles Bösen und die Quelle aller Hoffnung, verlieh ihr etwas Mythisches, das noch Jahre später als der Grund unseres Unglücks angesehen wur163de, als ein dunkler Schatten, der Freiheit wie Tyrannei aussehen ließ und Notwendigkeit als Ergebnis einer Wahl. Sich von ihrer allgegenwärtigen Präsenz zu befreien, fühlte sich an, wie auf einem Seil herumzukauen, das man gerade zwischen seinen Zähnen entdeckt hat. Die Partei existierte nicht mehr, aber sie war immer noch da. Die Partei war über uns und tief in uns. Alles und jeder kam von ihr. Ihre Stimme hatte sich verändert, sie hatte eine andere Gestalt angenommen und sprach eine neue Sprache. Aber welche Farbe hatte ihre Seele? War sie je geworden, was sie immer hätte sein sollen? Nur die Geschichte würde es uns verraten, aber zu dem Zeitpunkt war die Geschichte noch nicht gemacht worden. Wir hatten nichts weiter als die neuen Wahlen.
»Zu wählen ist Pflicht«, hatte Nini am Abend vor der Abstimmung gesagt. »Wenn wir nicht wählen, lassen wir andere für uns entscheiden. Dann ist alles wie früher, als man die einzige Kandidatenliste mehr oder weniger ungelesen in die Urne geworfen hat.«
Am Morgen der Wahl dachte ich über ihre Worte nach. Warum waren meine Eltern so zögerlich? Warum gingen sie nicht einfach los und genossen die Freiheit, nach der sie sich gesehnt hatten? Das gekünstelte Gähnen, der geschauspielerte Schlaf, die falsche Unentschlossenheit vermittelten den Eindruck, sie hätten sich all die Jahre nicht nach konkreten Ereignissen gesehnt, sondern nach abstrakten Möglichkeiten. Nun, da tatsächlich etwas zum Greifen nah war, fürchtete meine Familie den Kontrollverlust. Statt von der Freiheit der Wahl Gebrauch zu machen, die so eine Abstimmung nun einmal mit sich brachte, versuchten sie anscheinend, diese ihre Wahl frei von irgendwelchen Einwirkungen zu halten. Vielleicht wollten sie vermeiden, sich einer Einzelperson oder einer bestimmten Richtung zu verschreiben, die sich am Ende als Enttäuschung 164erweisen könnte. Oder sie fürchteten, die Millionen anderen Wähler mit ihren anderen Ansichten und Beweggründen könnten für dasselbe alte Ergebnis sorgen und damit ihre Hoffnungen ein für alle Mal zur Illusion machen.
Mein Bruder und ich warteten noch eine Weile, dann stürmten wir ins Schlafzimmer. Unsere Eltern, eingewickelt in eine Decke der Verweigerung, lagen steif und starr im Bett und wollten der Realität nicht ins Auge blicken. In ihren weißen Laken sahen sie aus wie Krankenhauspatienten, die man kurz vor der OP mit Medikamenten ruhiggestellt hat. Wir gingen näher ans Bett heran und betrachteten sie staunend. Als sie uns bemerkten, rollten sie sich auf die andere Seite. Unter der Decke sagte eine Stimme: »Geht weg. Es ist noch nicht so weit.«
Wir kehrten in unser Zimmer zurück und ich konzentrierte mich auf das Radio. In den Nachrichten hieß es, in abgelegenen Dörfern des Südens hielten die Menschen einzelne Straßen besetzt; sie schwenkten Bilder von Enver Hoxha, riefen prokommunistische Parolen und warnten die Wähler, unser Land werde den Tag bald bereuen. Die Journalisten nannten diese nostalgischen Demonstrationen »Gegenproteste«, um sie von den anderen, echten, gegen die Regierung gerichteten zu unterscheiden. »Bauern«, sagte meine Großmutter nur. »Was wissen die schon?«
Die protestierenden Gruppen bestanden aus Bauern, Arbeitern und Mitgliedern der militanten kommunistischen Jugend und nannten sich »Freiwillige zur Verteidigung des Andenkens an Enver Hoxha«. Sie hatten sich wenige Wochen vor der geplanten Wahl zusammengeschlossen, als Hoxhas Statue zerstört worden war. »Man kann Büsten entfernen, aber die Figur Enver Hoxha kann nicht gestürzt werden«, lautete eine Stellungnahme aus der Parteizentrale. Aber auch die Teilnehmer der Gegenproteste konnten den Lauf der Ereignisse nicht 165stoppen. Wie Menschen, die an einer Klippe hängen, klammerten sie sich an die wenigen übrig gebliebenen Symbole unseres kommunistischen Erbes. Auch sie hatten Angst vor der Zukunft, aber anders als meine Familie identifizierten sich viele von ihnen mit der Vergangenheit. Die Partei hatte stets in ihrem Namen gesprochen und in ihrem Interesse gehandelt. Meine Familie war ein Opfer der Staatsgewalt gewesen, sie waren deren Geburtshelfer.
Die Gegenproteste hielten nur wenige Monate an. Was als eine Reihe von Reformen begonnen hatte, wurde nun immer öfter eine Revolution genannt. In jeder anderen Revolution kamen Unterdrückte und Unterdrücker vor, Gewinner und Verlierer, Opfer und Täter, aber im vorliegenden Fall war die Kette der Verantwortlichkeit so komplex, dass es nur ein einziges Lager geben konnte. Anführer zu exekutieren, Spitzel zu verhaften oder ehemalige Parteimitglieder zu sanktionieren, hätte die Konflikte nur befeuert, den Wunsch nach Rache verstärkt und am Ende zu noch mehr Blutvergießen geführt. Es schien offenbar vernünftiger, die Frage nach der Verantwortlichkeit komplett zu streichen und so zu tun, als wären alle immer schon unschuldig gewesen. Die einzigen Schuldigen, die man auch so nennen durfte, waren diejenigen, die längst gestorben waren und sich weder erklären noch von irgendetwas lossagen konnten. Alle anderen verwandelten sich in Opfer und alle Überlebenden in Gewinner. Nun, da es keine Täter mehr gab, konnte man nur noch den Ideen die Schuld geben. Der Kommunismus als Vision war für die einen so hoffnungslos und für andere so mörderisch, dass allein das Wort entweder Verachtung oder Hass hervorrief. Diese Revolution, eine samtene, war eine Revolution von Menschen gegen Begriffe.
Als meine Familie meinte, die Zeit zum Wählen sei nun endlich gekommen, waren die Wahlbüros kurz vorm Schließen. 166Wir eilten hinaus. Die Leute grüßten einander, indem sie zwei zu einem V geformte Finger in die Höhe reckten, das neue Symbol für Freiheit und Demokratie. Meinem Bruder und mir fiel es überraschend leicht, die Faust durch die zwei Finger zu ersetzen. Meine Mutter hatte ganz offensichtlich vorher geübt, mein Vater wirkte anfangs eher zögerlich. Meine Großmutter, die ihren Oberschichthabitus nie ganz abgelegt hatte, fand die Geste wahrscheinlich unter ihrer Würde. Oder vielleicht hatte das Victory-Zeichen wie seine Erfinder, die alliierten Truppen, Albanien 1946 einfach nicht erreicht.
Auf der Straße drückten uns Wahlkämpfer einige Aufkleber mit dem Logo der Oppositionspartei in die Hand, ein blaues P für Partei, das von einem D für Demokratie umschlossen war, geradeso, als hätte das P dort eine Zuflucht gefunden. Ich hatte noch nie einen Aufkleber gesehen. Ich klebte mir gleich mehrere auf die Brust und ein paar weitere an die Schaufenster, um die optische Illusion zu erzeugen, es gäbe dort etwas zu kaufen. Und ein paar klatschte ich an die Türen der wenigen Autos, die am Straßenrand geparkt standen. Als wir das Wahllokal betraten, versuchte mein Bruder, einen Aufkleber in der Nähe der Urne anzubringen. Weil das auf Missbilligung stieß, musste er sich damit zufriedengeben, ihn heimlich unter die Tischplatte zu kleben.
Am nächsten Morgen stand das Endergebnis fest. Die Opposition hatte eine vernichtende Niederlage erlitten. Die Sozialisten hatten triumphiert und über sechzig Prozent der Stimmen eingefahren. Meine Mutter erklärte, diese Wahl sei weder frei noch fair gewesen. Die Partei habe den kompletten Wahlkampf organisiert. Es sei absurd gewesen zu erwarten, dass sie den Wettbewerb mit den anderen Parteien fair gestaltete, wo sie doch gleichzeitig versuchte, ihn zu gewinnen. Das Ganze sei Betrug.
167Ein hartes Urteil, wenigstens in den Augen der mit Notizblöcken und Fernsehkameras bewaffneten Touristen, die in der Zwischenzeit ins Land gekommen waren. Neuerdings nannten sie sich die »internationale Gemeinschaft«. Ihre offiziellen Erklärungen, die beispielhaft werden sollten für Erklärungen, die nur dann als maßgeblich galten, wenn die internationale Gemeinschaft sie vorbrachte, lauteten anders. Darin hieß es, die Oppositionsparteien hätten zu wenig Vorlauf gehabt und besonders in ländlichen Gebieten keine Kandidaten aufstellen können; da die alten Dissidenten erst vor Kurzem aus den Gefängnissen entlassen worden waren, hatten sie keine Zeit mehr gehabt, sich ins Spiel zu bringen.
In den folgenden Monaten nahmen die Proteste und Unruhen überall im Land zu. Im Norden wurden während einer der vielen Demonstrationen vier Aktivisten der Opposition von Unbekannten erschossen. Nun war der Übergang zum Liberalismus mit Blut besiegelt. Die Demokratie hatte ihre Märtyrer. Wenige Wochen später traten Bergarbeiter, die sich in einer der neuen, unabhängigen Gewerkschaften organisiert hatten, in den Hungerstreik. Ihre Forderungen waren wirtschaftlicher, nicht politischer Natur. Inzwischen waren Partei und Opposition über die Notwendigkeit von Reformen übereingekommen; nur um die Umsetzung gab es noch Streit. Die alten sozialistischen Parolen wurden durch ein neues Motto ersetzt, das erklären und beschwichtigen, warnen und vorschreiben, den Geist beflügeln und die Wunden heilen sollte. Die Parole fasste alles zusammen, von der tragischen Realität aus Lebensmittelknappheit und geschlossenen Fabriken bis hin zur gefühlten Notwendigkeit politischer Reformen und freier Märkte. Sie bestand aus einem Wort: Schocktherapie.
Der Begriff stammt aus der Psychiatrie. Bei einer Schocktherapie werden elektrische Impulse durch das Gehirn des Pa168tienten geschickt, um die Symptome einer schweren psychischen Erkrankung zu lindern. In unserem Fall galt die Planwirtschaft als das Äquivalent zur Geisteskrankheit. Das Heilmittel war eine transformative Geldpolitik: Haushalte ausgleichen, Preise freigeben, staatliche Subventionen streichen, den Staatssektor privatisieren und die Wirtschaft für Außenhandel und Direktinvestitionen öffnen. Der Markt würde sich von selbst regulieren, und die sich herausbildenden kapitalistischen Institutionen würden auch ohne eine zentrale Steuerung effektiv arbeiten. Die Krise zeichnete sich ab, aber die Menschen hatten im Namen einer besseren Zukunft ihr Leben lang Opfer gebracht. Dies sei die letzte Anstrengung, die man ihnen abverlangen würde. Mit drastischen Maßnahmen und gutem Willen würde der Patient sich nämlich schnell von dem Schock erholen und die Vorteile der Therapie genießen können. Vor allem kam es aufs Tempo an. Milton Friedman und Friedrich von Hayek ersetzten Karl Marx und Friedrich Engels praktisch über Nacht.
»Freiheit wirkt«, sagte Außenminister James Baker vor einer Menge aus dreihunderttausend Menschen, die sich spontan in der Hauptstadt versammelt hatten, um den ersten US-amerikanischen Regierungsvertreter auf Staatsbesuch zu begrüßen. Der Geist der neuen Gesetze, betonte Baker, sei ebenso wichtig wie ihre Buchstaben. Er kündigte an, die Vereinigten Staaten würden dem Land auf seinem Weg in die Freiheit beistehen. Sowohl seine Regierung als auch private amerikanische Organisationen würden uns unterstützen. Sie würden uns helfen, »eine Demokratie, einen Markt und eine Verfassungsordnung« herzustellen.
Die neue Regierung blieb nicht lange im Amt. Der Druck von Seiten der internationalen Gemeinschaft, die zunehmenden Plünderungen, die Gewalt auf den Straßen und die dahin169siechende Wirtschaft zwangen die Partei, Neuwahlen auszurufen. Kein Jahr nach der ersten Abstimmung war das Land erneut im Wahlkampfmodus. Diesmal bekamen jene, die einen schnellen Wandel forderten, mehr Vorlauf.
Eines Nachmittags klopfte ein sichtlich aufgebrachter Arzt aus der Nachbarschaft an unsere Tür, Bashkim Spahia, ehemaliges Parteimitglied und jetzt ein Kandidat der Opposition. Er trug eine schiefergraue Jacke im bevorzugten Schnitt von Leonid Breschnew, ein lila T-Shirt mit rosa Schriftzug und eine passende lila Hose. Der Schriftzug war auf Englisch: »Sweet dreams, my lovely friends«.
Bashkim fragte, ob mein Vater möglicherweise ein Paar graue Socken besitze und ihm für einige Monate borgen könne. Er habe schon überall angeklopft. Er erklärte, im Zuge des Wahlkampfs habe das US-Außenministerium eine Broschüre mit wichtigen Ratschlägen zum Erscheinungsbild der künftigen Parlamentsmitglieder verteilt. »Anscheinend sind nur dunkle Socken angemessen, grau oder schwarz, aber besser grau«, fügte er sichtlich gestresst hinzu. »Ich habe nur weiße. Außerdem sagen sie, ich brauche für meinen Wahlkampf einen sponsour. Was für einen sponsour meinen sie? Ich habe ja nicht mal die richtigen Socken!«, rief er verzweifelt.
Meine Eltern baten ihn auf einen Kaffee herein. Sie waren der Ansicht, dass diese Information unmöglich vom Außenministerium kommen konnte; vielleicht von der amerikanischen Botschaft? Aber selbst in dem Fall wäre die Regel vielleicht flexibel auszulegen. Bashkim schüttelte den Kopf. Er war untröstlich. Sein Sohn habe ihm die Broschüre übersetzt und ihm versichert, im Impressum werde das Außenministerium genannt. Ohne die richtigen Socken in der richtigen Farbe wäre er niemals in der Lage, seinen Sitz von den dreckigen Kommunisten zurückzugewinnen.
170An dem Abend, als sein Sieg verkündet wurde, sahen wir ihn in einer Fernsehdebatte. Er trug die dicken grauen Wollsocken, die meine Großmutter einmal für meinen Vater gestrickt hatte. Meine Familie war sehr stolz darauf, zu Bashkims Sieg beigetragen zu haben. Sie hegte keinen Groll; sie sah großzügig über die Tatsache hinweg, dass seine Frau Vera sich einmal beim Nachbarschaftskomitee beschwert hatte, weil meine Eltern angeblich nicht fleißig genug bei der sonntäglichen Säuberungsaktion mithalfen. Sie hielten Bashkim auch nicht vor, dass er die Socken nie zurückbrachte. Binnen kurzer Zeit war aus dem Arzt von nebenan nicht nur ein charismatischer Politiker geworden, sondern auch ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann. Er tauschte »Sweet dreams« gegen eine Rolex und die Breschnew-Jacke gegen Hugo Boss. Wahrscheinlich waren seine Socken inzwischen aus Seide. Wir bekamen ihn kaum noch zu sehen, und wenn, dann nur von Weitem, wenn er, umringt von riesigen Leibwächtern, die Tür seines dunklen, glänzenden Mercedes zuschlug. Hinzugehen und ihm vorzuwerfen, er habe sich unrechtmäßig die Socken meines Vaters angeeignet, wäre ebenso unklug wie unglaubwürdig gewesen.