Mein Vater verlor seine Arbeit kurz nach der ersten Mehrparteienwahl. Eines Nachmittags kam er nach Hause und verkündete, sein Büro würde in wenigen Wochen endgültig schließen. Als ausgebildeter Forstwirt hatte er die erste Hälfte seines Lebens damit verbracht, neue Bäume zu züchten, zu pflanzen und zu pflegen, vor allem Lorbeergewächse. Nun setzte der Staat andere Prioritäten. Nicht bloß, dass keine neuen Bäume mehr gepflanzt wurden; der alte Bestand wurde abgeholzt. Stromausfälle und Heizbedarf auf der einen Seite und die nagelneue Kultivierung von Eigeninitiative auf der anderen hatten zur Folge, dass jede Nacht mehr Bäume aus den Wäldern verschwanden. Man hätte von Diebstahl sprechen können, würde nicht die Aneignung kollektiver Ressourcen durch Einzelpersonen das Fundament von Privateigentum bilden. Privatisierung von unten nach oben wäre wohl der passendere Begriff.

Mein Vater verkündete die Schließung seines Büros im selben Tonfall, in dem er uns in der Vergangenheit andere berufliche Veränderungen mitgeteilt hatte, beispielsweise seine Versetzung von einem Dorf in ein anderes oder wenn sein alter Vorgesetzter durch einen neuen ausgetauscht wurde. Er sagte, von nun an würde er nie wieder seine Biografie vorlegen müssen, die, in der er seine Familiengeschichte erklärte. Diese Geschichte interessierte niemanden mehr. Jetzt brauchte man nur noch einen lateinischen Text namens Curriculum Vitae, kurz CV.

202»Wer schreibt denn auf Latein?«, fragte ich.

»Er muss nicht auf Latein geschrieben sein, Brigatista«, antwortete er. »Nur die erste Zeile. Aber eine englische Fassung könnte von Vorteil sein, für Bewerbungen in der Privatwirtschaft.«

Auf die Nachricht von seiner Entlassung reagierten alle eher entspannt, geradeso, als gäbe es da draußen Dutzende begehrenswertere Jobs, wie selbstgebackene Kekse im Ofen, die nur darauf warteten, gegessen zu werden. Er musste nur seinen CV einreichen.

»Fängst du nächste Woche an?«, fragte ich und dachte dabei an seine früheren, reibungslosen Stellenwechsel.

»Nein!«, rief meine Mutter, als sei allein der Gedanke ein Angriff auf die Würde meines Vaters. »So schnell findet man heutzutage keinen Job!«

»Wir werden sehen«, sagte er. »Wir leben jetzt im Kapitalismus. Die Konkurrenz ist groß. Aber vorläufig bin ich frei!«

Weil seit der Bekanntgabe seiner Entlassung bei uns eine große Zuversicht in der Luft lag, war ich verwirrt, wenn nicht gar erschrocken, als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam und ihn auf dem Sofa liegen sah. Nach dem Aufstehen war er vom Schlafanzug direkt in einen gelb-grünen Trainingsanzug gewechselt, den meine Mutter ihm kürzlich im Gebrauchtkleidermarkt gekauft hatte. Er hielt die Fernbedienung unseres kleinen Philips-Farbfernsehers in beiden Händen und schwenkte sie hochkonzentriert hin und her, als dirigiere er die Planeten auf ihrer Bahn.

»Es ist ja so deprimierend«, sagte er, als er mich sah. Er schaltete den Fernseher aus, und in seinen konzentrierten Ausdruck mischte sich Kummer. »Es ist zu traurig. Ich halte das nicht aus. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Es wird besser«, antwortete ich unsicher, ohne mich selbst zu verstehen. »Sicher wird alles besser.«

203Er schüttelte den Kopf. »Ich versuche, die Europameisterschaft zu schauen, aber es geht nicht«, sagte er. »Es bricht mir das Herz. Jugoslawien ist kurz davor, den fünften Titel zu gewinnen. Letztes Jahr haben sie die Weltmeisterschaft gewonnen.«

»Aber das ist doch schön, oder?«

»Vielleicht spielen sie zum letzten Mal zusammen«, erklärte er grimmig. »Slowenien hat sich bereits unabhängig erklärt. Bald ist Kroatien auch weg. Es ist, als würde jemand mit Kehlkopfkrebs den Eurovision Song Contest gewinnen. Zu traurig. Wenn du mich fragst – Basketball ist tot.«

Strenggenommen hatte meine Mutter ihre Stelle nicht verloren. Man hatte ihr im Alter von sechsundvierzig Jahren die Frühpensionierung angeboten und sie hatte eingewilligt. Um das Ereignis zu feiern, hatte mein Vater, der gerade sein letztes Gehalt bezogen hatte, im neueröffneten Minimarkt Bier von Amstel gekauft. Wir erlebten einen absolut angenehmen Familienabend, bis meine Mutter uns eröffnete, was sie nach ihrer Pensionierung plane. Sie sei in die Oppositionspartei eingetreten. Am Tag ihrer Gründung.

Nini und ich erstarrten. Mein Vater sah konsterniert von seinem Teller auf, und seine Fassungslosigkeit würde sich, ich wusste es, jeden Moment in einem Wutausbruch entladen. So sah er meine Mutter nur an, wenn sie eine wichtige Entscheidung getroffen hatte, ohne ihn einzubeziehen. Was mit fragenden Blicken begann, wurde schnell zu einem Verhör und dann zu Vorwürfen, Wut, Aggression auf beiden Seiten und zuletzt zu einem Schweigen, das manchmal wochenlang andauerte. Dann blieb nur noch eine Eskalationsstufe, die Androhung der Scheidung.

Es war schon zwei Mal so weit gekommen. Beim ersten Mal, als meine Mutter jemandem, der in einer landwirtschaftlichen Kooperative arbeitete, illegalerweise fünfzig Küken ab204gekauft hatte. Sie wollte sie im Garten halten, damit wir nie wieder für Eier anstehen mussten. Als sie meinem Vater davon erzählte, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Wir würden alle verhaftet, sagte er. Unser Garten war klein, unmöglich konnte man fünfzig Hühner darin verstecken. Meine Mutter sagte, zunächst wolle sie sie im Badezimmer halten, außerdem rechne sie mit einer eher niedrigen Überlebensrate. Höchstens zehn würden es schaffen, das hatte der Mann von der Kooperative selbst gesagt. Wie sich herausstellte, sollten er und meine Mutter recht behalten, aber das steigerte die Anspannung noch. Wenn mein Vater irgendetwas noch weniger ertrug als den Gedanken an eine Verhaftung, war es der Kummer, den das Massensterben kleiner Babyküken ihm bereitete. Wann immer er ins Bad ging und schon wieder eins gestorben war, kam er mit gebrochenem Herzen heraus und war meiner Mutter gegenüber noch verbitterter. Erst Monate später kam es zu einem Waffenstillstand, als die Sterberate gesunken war und Nini angedroht hatte, in ein Altenheim zu ziehen, sollten meine Eltern sich nicht wieder vertragen.

Beim zweiten Mal hatte meine Mutter mir erlaubt, mich auf dem Bürgersteig der Hauptstraße neben die Roma-Mädchen zu setzen, die Lippenstifte und Haarspangen im Angebot hatten, und Schwämme zu verkaufen. In Athen hatte Giorgos uns eine ganze Tüte davon mitgegeben. Wir sollten sie an meine Eltern und andere Verwandte verteilen – ob als Mitbringsel oder als Werbegeschenk seiner Firma, war unklar. Meine Mutter erinnerte sich daran, wie ihr Großvater einst den Grundstein für das Familienvermögen gelegt hatte, indem er noch bescheidener anfing: Er hackte Holz in seinem Dorf und brachte es in die Stadt, um es dort zu verkaufen. Auch wir könnten ein Unternehmen gründen, sagte sie, aber wir müssten uns beeilen. Bald würden alle versuchen, reich zu werden, indem sie auf 205dem freien Markt alles Mögliche kauften und verkauften. Selbst neben den Roma-Kindern zu sitzen, kam für sie nicht in Frage; was, wenn einer ihrer Schüler vorbeikam und sie erkannte? Das würde ihre Autorität im Klassenzimmer untergraben. Stattdessen schrieb sie eine Preisliste und sagte mir, ich solle mich auf den Bürgersteig setzen und rufen: »Wunderschöne Badeschwämme aus Griechenland! Viele Farben, viele Formen!«, was ich dann auch tat. Nach einem Nachmittag hatte ich alles verkauft.

Als ich mit dem eingenommenen Geld nach Hause kam, hatte ich nicht mit der Wut meines Vaters gerechnet. Zunächst glaubte er, es wäre meine Idee gewesen. Er wollte mich in mein Zimmer schicken, wo ich über mein Verhalten nachdenken sollte, aber da erklärte ich ihm, ich hätte nur die Anweisungen meiner Mutter befolgt. Er drehte sich zu ihr um, seine Augen funkelten vor Wut. Er schrie, dass jeder jetzt losgehen und verkaufen konnte, was er wollte, bedeute noch lange nicht, dass man das eigene Kind ausbeuten durfte. Anfangs ignorierte meine Mutter ihn. Sie sah mich an und fragte: »Du wolltest es doch?« Ich nickte entschlossen. Mein Vater zitterte vor Wut. »Natürlich wollte sie es!«, rief er. »Ohne ihre Einwilligung wäre es keine Ausbeutung! Dann wäre es Gewalt.« Meine Mutter blieb ruhig. Sie sagte, ich sei kein Kind mehr, bald würde ich zwölf, und im Westen sei es für Teenager ganz normal, in einem florierenden Familienbetrieb mitzuhelfen. »Aber wir haben keinen Familienbetrieb!«, brüllte mein Vater. »Weder einen bankrotten noch einen florierenden!« »Und es wird auch nie dazu kommen«, murmelte meine Mutter.

Wahrscheinlich hätte mein Vater sein Veto gegen meine Beteiligung am Schwammhandel selbst dann eingelegt, wenn meine Mutter ihn vorher um seine Zustimmung gebeten hätte. Aber dass sie nicht einmal daran gedacht hatte, mit irgend206wem darüber zu sprechen, verstärkte seinen Groll. Ganz allgemein war die Entschlossenheit meines Vaters, seine Meinungen zu äußern, ebenso groß wie die meiner Mutter, sie zu ignorieren. Meine Eltern stritten sich ständig, aber fast immer stritten sie auf Augenhöhe. Wenn meine Mutter etwas entschied, ohne meinen Vater zu fragen, war die Symmetrie dahin, und das verletzte ihn. Die Beziehung meiner Eltern war auf Zanken aufgebaut, und im Laufe der Jahre verschwamm die Grenze zwischen dem spielerischen und dem bitteren Geplänkel zunehmend. Ihre Ehe war wie ein schwer zu besteigender Gebirgszug; als erfahrene Kletterer wussten sie, wie die gefährlichen Gipfel zu erreichen und welche Gletscherspalten zu meiden waren, in die viele andere hineinfielen. Aber manchmal fürchtete ich, es könnte ihnen selbst passieren. Das dritte Mal war, als meine Mutter ankündigte, sie wolle in die Politik gehen.

Mein Vater wusste, er würde sich niemals wie einige seiner Freunde aufführen, deren Ehefrauen sich keinen Lippenstift auftragen durften, ohne sie vorher um Erlaubnis zu bitten. Meine Mutter trug keinen Lippenstift, und ihr Wille war eisern. Wann immer sein Wunsch, einbezogen zu werden, mit ihrer Sturheit kollidierte, stand er vor einem Dilemma. Er konnte so tun, als hätte er die Kontrolle über ihr Handeln, und reagieren, wie es allgemein erwartet wurde: mit Empörung. Oder er konnte sich die Niederlage eingestehen und so tun, als sei es gar nicht so wichtig. Nur dass er sie dafür zu sehr liebte. Er wollte nicht kampflos aufgeben. Er wurde ihr gegenüber nie gewalttätig; er reagierte sich ab, indem er Geschirr zerschlug. Aber nun, als sein ganzer Körper vor Zorn bebte und die Wut seine Stimme zittern ließ, war ich mir nicht mehr sicher, dass nur die Untertassen und Teller Schaden nehmen würden.

207Als meine Mutter sagte, sie habe sich der Oppositionsbewegung angeschlossen, rechnete ich mit dem üblichen Verlauf. Ich hatte mich geirrt. Zunächst bedachte mein Vater meine Mutter wieder mit dem fassungslosen Blick, den ich gewohnt war. Aber dann wurde er blass. Er stand nicht auf. Er ging nicht auf sie zu, er hob auch nicht drohend den Zeigefinger. Er schrie nicht. Er stierte sie einfach nur ungläubig an, sein Gesicht eine starre Maske und sein Körper wie an den Stuhl geleimt.

Meiner Mutter entging das nicht. Vielleicht tat es ihr irgendwie leid, denn auch sie reagierte ungewohnt. Sie sah nicht einfach durch ihn hindurch wie sonst, wenn sie beweisen wollte, dass seine Drohungen ihr nichts bedeuteten, sondern sie wollte sich erklären. Sie sagte, die Spitzel hätten immer noch die Kontrolle. Die alten Kommunisten seien überall, in der Regierung und in der Opposition. Leute mit Biografien wie den ihren müssten sich engagieren. Jemand müsse den Mut finden, andernfalls würde sich niemals etwas ändern. Dann würden die immer selben Leute uns vertreten. Wir müssten die Sache in unsere eigenen Hände nehmen und für uns selbst sprechen. Ja, vielleicht wäre es besser gewesen, ihn um Rat zu fragen oder die Entscheidung gemeinsam zu treffen. Sie habe gewusst, dass er skeptisch sein würde; sie hätten eben nicht dieselben politischen Ansichten. Aber es habe sein müssen. Nun, da er keine Arbeit mehr habe, seien sie auf Verbindungen angewiesen, auf zukünftige Möglichkeiten. Anscheinend hatte sie lange über die Sache nachgedacht.

Mein Vater hörte zu und schwieg. Er hielt seine Wut unter Verschluss. Als ich später an die Szene zurückdachte, dämmerte mir, dass seine Entlassung ihm vielleicht stärker zugesetzt hatte, als er sich anmerken ließ. Vielleicht bestand in seiner Vorstellung ein großer Unterschied zwischen einer Entlassung 208und einer Frühpensionierung. Vielleicht fühlte er sich nun, da er von der Rente zweier Frauen lebte, weniger als Mann. Er konnte nicht mehr tun, was andere Männer taten: brüllen, drohen, vor Wut zittern und Geschirr an die Wand werfen. Oder vielleicht hatte sich alles um ihn herum so sehr verändert, dass die alten Reaktionsmuster ihm unpassend erschienen, wie aus einer anderen Zeit, als gehörten sie zu einem anderen Menschen, einer älteren Version seiner selbst, die er nicht mehr wiedererkannte. Da alle vertrauten Koordinaten verschwunden waren, hatte er die Orientierung verloren. Er konnte sich seine missliche Lage nicht erklären, genauso wenig wusste er eine Lösung. Ihm blieb nichts übrig, als schweigend zu nicken, wie er es sonst nur bei der Arbeit getan hatte, vor seinen Vorgesetzten.

Meine Mutter wurde pensioniert, aber sie hörte nicht auf zu arbeiten. Sie begann die geschäftigste Phase ihres Lebens. Kurz nachdem sie in die Demokratische Partei eingetreten war, wurde sie zu einer der führenden Figuren des nationalen Frauenverbands. Sie nahm an Parteitagen teil, bestimmte bei der Auswahl der Kandidaten mit, machte Wahlkampf, strengte Reformkampagnen an, saß in nationalen Ausschüssen und empfing Delegationen aus dem Ausland. Die übrige Zeit verbrachte sie in Archiven und im Gericht, denn sie setzte sich für die Rückgabe des in der Vergangenheit beschlagnahmten Familienbesitzes ein.

»Du solltest öfter zu Hause sein und dich um die Kinder kümmern«, sagte Nini zu ihr. »Mir geht es gut«, antwortete ich dann und freute mich darüber, dass die halbjährliche Überprüfung meiner Mathekenntnisse anscheinend aus dem Terminplan meiner Mutter gerutscht war. »Mami, du solltest den Führerschein machen«, schlug ich ihr stattdessen vor.

»Wir brauchen keinen Führerschein«, schaltete mein Vater 209sich ein, vielleicht weil er fürchtete, dass er, wenn er sich der Möglichkeit nicht sofort widersetzte, aufgrund seiner anhaltenden Arbeitslosigkeit zum Familienchauffeur befördert würde. »Das ist schlecht für die Umwelt.«

Normalerweise führte das Thema zu einem weiteren Streit. Meine Mutter sagte: »Jeder schafft sich ein Auto an. Man braucht eins. Tschernobyl war für die Umwelt viel schlechter!« »Was hat Tschernobyl mit dem Auto zu tun?«, fragte mein Vater zurück, aber meine Mutter fuhr offenbar unbeeindruckt fort: »Was hat diese metallurgische Fabrik, die die Chinesen hier gebaut haben, unserer Umwelt gebracht? Unser Problem ist nicht die Umwelt, sondern dass wir kein Geld für ein Auto haben!« »Ein Unrecht hebt das andere nicht auf«, konterte mein Vater.

Die scheinbar harmlosen Diskussionen darüber, ob wir uns ein Auto anschaffen sollten oder nicht, mündeten fast immer in einem ausgedehnten welthistorischen Disput: von der Umweltzerstörung durch die industrielle Revolution bis hin zum durch den Wettlauf ins All begünstigten Wissensschub; vom Eurokommunismus bis hin zur Verantwortlichkeit Chinas; von der Frage, wer ein Recht auf Umweltverschmutzung hat, zu der, wer wohin seine Waffen verkauft; vom Golfkrieg zur Auflösung des ehemaligen Jugoslawien. »Ein Fehlschluss! Das ist einfach nur ein Fehlschluss!«, sagte mein Vater am Ende, wenn ihm nichts mehr einfiel. Aber meine Mutter ließ sich nur selten umstimmen. »Das sagst du den Menschenmassen beim Wahlkampf?«, fragte er und gab es auf. »So bereitest du deine Reden vor?«

Meine Mutter bereitete ihre Reden gar nicht vor. Sie gab sie einfach, Hunderte davon. Als junger Teenager habe ich sie öfter auf dem Wahlkampfpodium gesehen, wo sie auf ihren Auftritt wartete, als zu Hause beim Abendessen. Sie stand auf210recht, hoch oben auf der Bühne, und sprach zu Zehntausenden von Menschen; sie hielt oft inne und modulierte ihren Tonfall den Umständen entsprechend. Manchmal bewegte sie das Publikum zu unheimlichem Schweigen, manchmal zu donnerndem Applaus. Sie sprach immer frei. Sie hielt ihre Reden, als hätte sie sie vor vielen Jahren in Gedanken geschrieben und die Sätze, die sie später aussprechen würde, jeden Tag eingeübt. Dabei klangen ihre Worte nicht wie aus der Vergangenheit geholt, sondern ganz neu, wenn auch manchmal fremdartig: Eigeninitiative, Umbruch, Liberalisierung, Schocktherapie, Opfer, Eigentum, Vertrag, westliche Demokratie. Nur das Wort Freiheit nicht; das war alt. Allerdings betonte sie es jetzt anders als früher, immer mit einem Ausrufezeichen am Ende. Und so klang auch das neu.

Wenn meine Mutter nicht gerade bei einem politischen Termin war, wühlte sie entweder im Stadtarchiv nach dem Eigentum ihrer Familie, oft unter Zuhilfenahme von Landkarten und Grundbuchauszügen, oder sie war im Gericht, bemühte sich um die Wiedererlangung von Eigentumstiteln und kämpfte mit ihren Geschwistern um Tausende Quadratkilometer Land, Hunderte Wohnungen und Dutzende Fabriken, die früher einmal ihrem Großvater gehört hatten, dem Holzfäller, der kurz vor Kriegsende zum Millionär geworden war. Mein Vater und meine Großmutter zeigten wenig Interesse, teils weil sie nicht daran glaubten, dass der Besitz sich zurückholen ließe, teils weil sie an der Rechtmäßigkeit der ganzen Aktion zweifelten.

»Was für eine Zeitverschwendung«, sagte meine Großmutter manchmal kopfschüttelnd. Oft blieb unklar, ob sie die Politik an sich für Zeitverschwendung hielt oder das Ringen um das sagenhafte Vermögen oder beides. »Man soll die Vergangenheit ruhen lassen«, sagte sie einmal zu einem ausländischen Journalisten. Er war gekommen, um sie zu ihrer Vergangenheit 211als Dissidentin zu interviewen, und bei der Gelegenheit hatte er nach dem früheren Familienbesitz gefragt. »Heutzutage ist jeder ein Dissident. Die Grundstücke in Griechenland? Nichts weiter als Schlamm.«

Meine Mutter hingegen würde niemals loslassen. Für sie war es weniger der Versuch, eine Einkommensquelle aufzutun, als vielmehr eine Frage des Prinzips. Beides hing irgendwie miteinander zusammen. Ihrer Meinung nach ließ sich der natürliche Überlebenskampf auf dieser Welt nur über die Regulierung von Privateigentum schlichten. Und selbstverständlich kämpften alle, Männer und Frauen, Jung und Alt, diese Generation und die zukünftigen. In den Augen meines Vaters waren die Menschen von Natur aus gut, wohingegen sie aus Sicht meiner Mutter von Natur aus böse waren. Daran etwas ändern zu wollen hielt sie für ein sinnloses Unterfangen; im Sinne der Schadensbegrenzung müsse das Schlechte in bestimmte Bahnen gelenkt werden, das sei alles. Deswegen war sie überzeugt, dass der Sozialismus niemals funktionieren kann, nicht einmal unter den besten Umständen. Er war wider die menschliche Natur. Die Leute mussten wissen, was ihnen gehört, und sie sollten in der Lage sein, damit zu machen, was sie wollten. Statt zu kämpfen, würden sie sich um ihren Besitz kümmern; es wäre ein gesunder Wettbewerb. Alles ließe sich regeln, so glaubte sie, wenn man nur herausfinden könnte, wem ursprünglich was gehört hatte. Dann würde nicht nur unsere Familie die Chance haben, so reich zu werden, wie ihre Vorfahren es einst gewesen waren, sondern alle anderen auch.

Es sei, so meine Mutter, wie bei einem mittendrin abgebrochenen Schachturnier. Alle Spieler hatten unter denselben Bedingungen begonnen. Einige hatten sich Vorteile erarbeitet, aber dann waren sie gezwungen worden, ein anderes Spiel zu spielen. Das war der Sozialismus. Dann endete der Kalte Krieg, 212das Spiel konnte endlich weitergehen, aber die alten Spieler waren inzwischen gestorben. Aus der Sicht meiner Mutter durften nur ihre rechtmäßigen Nachfolger ihren Platz am Brett einnehmen. Sie hätte es ungerecht gefunden, von vorn anfangen, ein völlig neues Spiel beginnen zu müssen. Die neuen Spieler sollten einfach nur die Züge ihrer Vorfahren nachvollziehen, an denselben Figuren festhalten und dieselben Regeln befolgen.

Die Wahrheit über den Familienbesitz zu ermitteln, diente in ihren Augen nicht nur der Behebung einer historischen Ungerechtigkeit, sondern ganz allgemein der Wahrung von Eigentumsrechten. In ihren Augen hatte der Staat die Aufgabe, derlei Transaktionen zu ermöglichen und die Verträge zu schützen, die nötig sind, damit jeder an seinem verdienten Eigentum festhalten kann. Alles, was darüber hinausginge, würde das Wachstum von Schmarotzern fördern, die Geld und Ressourcen vergeudeten. Das wäre ein Sozialismus unter anderem Namen. Der Staat war wie der Leiter eines Schachturniers, der den Regeln Geltung verschaffte und gelegentlich auf die Uhr sah. Aber niemals durfte er den Spielern Tipps geben, ihre Züge verändern, geschlagene Figuren aufs Brett zurückstellen oder einen ausgeschiedenen Spieler wieder zulassen. Das wäre eine Perversion seiner Rolle. Am Ende würde es Gewinner und Verlierer geben. Na und? Alle wussten es; alle hatten in die Regeln eingewilligt. Es lag in der Natur des Spiels. Das Ganze war ein Wettbewerb, doch immerhin ein gesunder.