Sein Englisch übte mein Vater auch mit dem »armen Mann«, der ursprünglich den Spitznamen »das Krokodil« getragen hatte. Er hieß Vincent Van de Berg, war in Den Haag zur Welt gekommen und hatte den größten Teil seines Lebens im Ausland verbracht. Auch er war eine Art Missionar: Er arbeitete für die Weltbank. Er hatte keine Bibel in einem Rucksack dabei, sondern eine rosa Zeitung namens The Financial Times. Er trug sie in einer kleinen Ledertasche mit sich herum, zusammen mit einem schicken Computer, dem ersten überhaupt, den ich zu sehen bekam. Er war nach Albanien gezogen, um die Regierung bei verschiedenen Privatisierungsprojekten zu beraten. Er war ein »Experte« – die Art Experte, deren Ankunft mein Vater völlig zu Recht vorausgeahnt hatte und für die er so dringend Englisch lernen wollte.
Vincent war ein Experte für Gesellschaften im Wandel. Außerdem war sein eigenes Leben ein einziger Wandel. Er war ständig unterwegs, von einer Gesellschaft im Wandel zur nächsten. Er hatte in so vielen Ländern gelebt, dass ich mich nur an eine Frage erinnern kann, die ihm noch peinlicher war als die nach seinem Gehalt: Wo er zuvor gelebt habe. Er konnte sich nicht mehr an die Namen aller Orte erinnern, an denen er je gewesen war. Er zuckte andeutungsweise die Achseln, kniff die Augen zusammen, starrte ins Leere und überlegte. Er betrachtete den Horizont, als könnten sich die Wolken zu einer 243Erdkugel zusammenballen und ihm helfen, die von ihm bereisten Länder zu erinnern. Er kratzte sich am Kopf und wurde fast ein bisschen rot, wenn er mit der Andeutung eines mysteriösen Lächelns irgendwo zwischen bedauernd und entschuldigend sagen musste: »Ach, in vielen Ländern. In so vielen. In Afrika, Südamerika, Osteuropa. Momentan auf dem Balkan. Überall. Ich bin ein Weltbürger.«
Vincent war fast kahl. Er hatte ein paar Büschel aus grauem Haar und eine große Brille mit dünnem, silbrigem Gestell. Er trug dunkelblaue Jeans und kurzärmelige Hemden, die ein bisschen an die der US-Marines erinnerten, nur dass seine anstelle einer Brusttasche ein kleines Krokodil hatten. Das Krokodil war aufgestickt und blickte immer in dieselbe Richtung. Es riss das Maul auf und hatte spitze, im Vergleich zum Körper viel zu große Zähne. Van de Berg wechselte die Hemden oft, jeden Tag trug er eine neue Farbe, aber das Krokodil blieb immer gleich. Aus Spaß sagte ich einmal, vielleicht möge er Krokodile, weil sie ihn an seine vielen exotischen Reisen erin nerten. Mein Vater antwortete, wahrscheinlich würden sie den Leuten dabei helfen, Vincent wiederzuerkennen. Als Van de Berg in unser Viertel zog, nannten ihn alle »das Krokodil«, bis dann etwas geschah, was ihm einen neuen Spitznamen eintrug: »der arme Mann«.
Auf unsere Straße hatte ihn Flamur aufmerksam gemacht. Die beiden hatten sich auf dem Markt kennengelernt, wo Flamur als Taschendieb arbeitete. Er hatte sich für den Beruf entschieden, nachdem die Fabrik seiner Mutter geschlossen worden war, er die Schule hatte abbrechen müssen und mehrere Auswanderungsversuche gescheitert waren. Er hatte versucht, Vincents Brieftasche zu stehlen, ohne zu wissen, mit wem er sich da anlegte. Van de Berg war nicht nur ein Experte im Umgang mit Wandel, sondern auch für die beweglichen Ob244jekte in seiner Hosentasche. »Ich habe die Brieftasche stecken lassen«, erzählte Flamur später, »und ihn zur Ablenkung gefragt, ob ich helfen kann. Ich habe ihm die Stände gezeigt. Er war gerade erst angekommen und auf der Suche nach einer Unterkunft, da habe ich ihm unser Haus angeboten.«
Van de Berg kam, sah sich das Haus an und mochte es sofort. Er fragte, wann er einziehen könne, und Flamur antwortete, die jetzigen Mieter hätten zugesichert, bald auszuziehen, spätestens in einer Woche. Im Laufe dieser Woche halfen wir Flamur und seiner Mutter Shpresa, alles zusammenzupacken und in ein Zimmer zu ziehen, das sie kurzfristig bei den Nachbarn gemietet hatten, den Simonis, deren Haus nach ihrer Auswanderung nach Italien leer stand. Weil die Familie durch die Mietdifferenz nun Geld einnahm und Shpresa überdies Van de Berg ihre Dienste als Putzkraft und Köchin anbot, konnte Flamur wieder zur Schule gehen. Dort berichtete er ausführlich von den Aktivitäten des Holländers. Das Krokodil geht morgens sehr früh aus dem Haus, erzählte er beispielsweise. Das Krokodil lädt immer nur ausländische Gäste zum Abendessen ein, keine Albaner. Das Krokodil hat abends mit seinen Freunden im Garten gesessen und Salat gegessen. Das Krokodil sagt, der Salat erinnert ihn an den Salat in Griechenland. Das Krokodil hat mit einer jungen Frau angebandelt, die an der italienisch-katholischen Schule arbeitet, und später dann mit einer ihrer Freundinnen, einer Übersetzerin bei der Soros Foundation. Das Krokodil sagt, in der Nacht hätte jemand seine Unterwäsche von der Leine geklaut. Solche Sachen.
Einige Wochen nachdem das Krokodil bei Flamur eingezogen war, nannten alle es nur noch den »armen Mann«; seit dem Abend, als die Nachbarn ein Essen organisiert hatten, um ihn in der Straße willkommen zu heißen. Der Mann war na245türlich nicht arm, zumindest nahmen wir das an. Wäre er wirklich arm gewesen, hätte er versucht, das Land zu verlassen wie alle anderen auch; dann wäre er nicht gekommen, um hier zu wohnen. Im Gegenteil, alle gingen davon aus, dass Van de Berg sehr reich war und zudem sehr geizig. Wenn wir ihm auf der Straße begegneten, bot er uns nie etwas an, nicht mal Bonbons oder ein Kaugummi wie die Touristen früher.
Anfangs war das Willkommensessen für Vincent eine fröhliche Veranstaltung. Wir schleppten Tische und Stühle in den Garten der Papas, wie in alten Zeiten. Es gab das übliche Gedränge, die Kinder liefen hin und her und holten Geschirr und Besteck, Hunde stöberten unter den Tischen und Musik dröhnte aus den Lautsprechern. Aus den umliegenden Häusern wurden mehrere Gänge Meze gebracht, dazu gab es Burek, Fleischklößchen, gefüllte Paprikaschoten, gegrillte Auberginen, Oliven, verschiedene Joghurtsaucen, Lammspieße, Lokum, Baklava, Mokka, Espresso, Bergtee, chinesischen Tee und viele, viele Dosen, nicht nur Coca-Cola, sondern auch alle anderen Limonaden, die es inzwischen in den Geschäften zu kaufen gab. Flamur spielte den DJ, saß auf der Veranda und wechselte unermüdlich die Kassetten, um jedermanns Geschmack zu treffen, und wenn er sein Repertoire als lückenhaft empfand, schickte er ein paar Kinder los, weitere Kassetten zu holen. Die Tanzfläche war den ganzen Abend über gefüllt; manche Leute erhoben sich, um beim traditionellen Reihentanz mitzumachen, einige sprangen nur auf, wenn sie ein Kosakenlied hörten, andere bewegten sich anmutig und in Zweierformationen von ihren Sitzplätzen in Richtung Tanzfläche, sobald »An der schönen blauen Donau« ertönte, und wieder andere, mein Vater beispielsweise, tanzten nur zu Bill Haley und Elvis Presley. Und wenn die Leute nicht tanzten, sangen sie: alles von »Ochi Chyornye« bis »Let It Be«, von 246Al Bano und Romina Powers »Felicità« bis »Luleborë«. Letzteres war das einzige Lied, bei dem der mitgesungene Text annähernd dem Original entsprach.
Van de Berg saß an einem Tisch in der Mitte des Gartens, dort, wo im Fall einer Hochzeit Braut und Bräutigam saßen. Er tanzte und sang nicht, trommelte aber zufrieden den Takt, bewegte rhythmisch den Kopf und summte die ihm bekannten Stücke mit. Er fühle sich, sagte er, an Partys in Ghana erinnert. Die Männer stellten sich ihm der Reihe nach vor, schüttelten ihm kräftig die Hand und schlugen ihm auf den Rücken. »Willkommen, Vincent! Einen Raki noch! Ich habe ihn selbst gebrannt«, sagten manche. »Diese Runde trinken wir auf Ihre Gesundheit!«, ergänzte jemand. Oder: »Sie sagten, Sie kommen aus den Niederlanden? Trinken wir auf die albanisch-niederländische Freundschaft!« Oder auch: »Prost, Vincent! Lang lebe die Weltbank! God save America!«
Während der Abend voranschritt, übernahmen die Frauen das Kommando. Sie waren weniger laut als die Männer, aber genauso entschlossen, dafür zu sorgen, dass Van de Berg sich willkommen fühlte, weiter an den lebhaften Diskussionen teilhatte und vor allem genug zu essen bekam. »Vincent, haben Sie von dem Burek mit Minze und Zwiebeln probiert?« »Köstlich«, antwortete Vincent. »Ich kenne nur Samosas, aber die sind schärfer.« »Samowar? Was ist das? Sicher etwas Russisches, oder? Hier, nehmen Sie ein paar Fleischbällchen mit Tomatensauce, so werden die gegessen, nein, nicht mit der, Vincent; die Sauce ist kalt geworden, nehmen Sie lieber diese hier, oder die Joghurtsauce, hier, bitte sehr, die ist viel besser; Leushka, geh und hol den Mörser, wir haben vergessen, Pfeffer zu mahlen, Vincent braucht Pfeffer dazu …«
Mitten während des Essens sah Vincent plötzlich müde aus. Er trommelte weniger laut, und mit der freien Hand hielt er 247sich den Bauch, als hätte er Schmerzen. Die anderen fragten ihn weiterhin, wo er gelebt habe, sie wollten wissen, wie er an die Stelle in Albanien gekommen sei, und erkundigten sich nach seinen Familienverhältnissen: »Sie wurden in Den Haag geboren? Ich habe einen Cousin in Den Haag. Er ist in den Fünfzigerjahren ausgewandert, über die jugoslawische Grenze. Er hieß Gjergji, Gjergji Maçi, aber ich glaube, dort hat er sich dann Joris genannt. Vielleicht sind Sie ihm mal begegnet? Joris, Joris Maçi? Es könnte natürlich auch sein, dass er längst gestorben ist …« Van de Berg schüttelte den Kopf. Er runzelte die Stirn, aber nur ganz leicht, und er lächelte weniger, was jedoch niemand bemerkte.
Nach einer Weile stand er auf und fragte nach dem Weg zur Toilette. Eine kleine Männergruppe begleitete ihn ins Haus, und als er fertig war, begleitete sie ihn wieder hinaus. »Vincent«, fragte Donika, als er wieder Platz genommen hatte, »Sie sagten eben, Sie sind nicht verheiratet? Wie kommt's? Sie sind nicht sehr alt. Wie alt sind Sie gleich? Machen Sie sich keine Sorgen, vielleicht lernen Sie ja eine reizende Albanerin kennen. Die albanischen Frauen sind sehr hübsch, und so fleißig! Hier, nehmen Sie noch etwas Baklava, ich habe es selbst gemacht, da sind Walnüsse drin.« »Walnüsse«, wiederholte Vincent, lehnte aber höflich ab: »Ich hatte eben welches mit Erdnüssen, das mit den Walnüssen habe ich nicht probiert, aber ich bin jetzt satt, danke sehr.« »Satt? Sie sind nicht satt. Ein großer Mann wie Sie und satt? Vielleicht ist Ihnen zu warm? Möchten Sie die Jacke ausziehen? Sehen Sie mal, was es noch alles gibt; Shpresa wird sich ärgern, wenn Sie nicht ihr Kadaifi kosten, es ist köstlich, aber nehmen Sie jetzt erst von dem Baklava, und lassen Sie unbedingt noch Platz für das Kadaifi.«
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war der Napoloni, ein traditioneller Tanz. Flamur legte die Musik ein 248und drehte die Stereoanlage bis zum Anschlag auf. Nach den ersten Takten hatten alle das Lied erkannt, und wer noch am Tisch saß, sprang auf und eilte in einer Hektik auf die improvisierte Tanzfläche, wie man sie eigentlich nur mit Menschen assoziieren würde, die bei einer Naturkatastrophe Schutz suchen. Irgendjemand erinnerte sich daran, dass Van de Berg allein am Tisch zurückgeblieben war. Eine Delegation aus zwei Männern, einer älter und einer jünger, wurde hastig zurückgeschickt. Sie zeigten in die Richtung, wo alle anderen sangen, tanzten und mit ihren Taschentüchern wedelten, und sie schrien ihm ins Ohr: »Vincent, wir müssen tanzen, das ist der Napoloni, Sie müssen ihn lernen, man kann nicht in Albanien leben und den Napoloni nicht können, kommen Sie!«
Van de Berg signalisierte ihnen mit einer Geste, dass er nicht sonderlich erpicht aufs Tanzen war. Die Männer zogen an seinem Stuhl und riefen: »Kommen Sie, nicht so schüchtern, es ist der Napoloni, Sie müssen tanzen; bitte sehr, hier ist ein Taschentuch!« Van de Berg bewegte die Schultern, um sich aus dem Klammergriff zu befreien. »Ich kann nicht tanzen«, sagte er. »Ich bin kein guter Tänzer. Ich schaue gern zu. Der Napoloni sieht ein bisschen so aus wie der Tanz von Alexis Sorbas.« Während der Tanz weiterging und das Stück sich seinem Ende näherte, bedrängten ihn die Männer mit noch mehr Nachdruck, fürchteten sie doch, ihr Lieblingslied zu verpassen.
»Vincent!«, rief der Jüngere fast schon verzweifelt, »schnell, schnell, Vincent, gleich ist es zu Ende, gleich ist der Napoloni zu Ende! Was soll das heißen, Sie können nicht tanzen? Natürlich können Sie das, jeder kann den Napoloni; sehen Sie, es ist ganz einfach, Sie halten das Taschentuch und schwenken es, und dazu breiten Sie die Arme aus wie ein Flugzeug, Sie halten sie in die Höhe, genau so, hoch, hoch, hoch, und öffnen, und jetzt die Arme nicht mehr bewegen, nur den Bauch …«
249Um Vincent zu demonstrieren, wie ein tanzendes Flugzeug aussieht, packte der ältere Mann Vincents linken Arm und der jüngere den rechten, um ihn in die Höhe zu reißen. Van de Berg wurde knallrot. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Er schüttelte die Männer ab und eroberte sich seinen Platz auf dem Stuhl zurück, und just als die Musik verhallte, schlug er mit der Faust auf den Tisch, so dass ein Rakiglas umkippte und der Inhalt sich auf die Erde ergoss. Er war außer sich vor Wut. »Ich bin frei!«, rief er. »Versteht ihr das nicht? Ich bin frei!«
Alle auf der Tanzfläche erstarrten. Sie drehten sich zu den Tischen um. Donikas Ehemann Mihal, der auf der anderen Seite des Kreises saß und nicht gut sehen konnte, stand auf und wollte nachsehen, ob ein Streit zwischen Betrunkenen ausgebrochen war. Er bemerkte, dass mit Van de Berg etwas nicht stimmte, und als ihm einfiel, dass er keine Sprache beherrschte als die eigene, bat er um eine Übersetzung. Vincent, der die Fassung wiedergewonnen hatte, sammelte seine Sachen zusammen, stand auf und sagte zu Mihal: »Verzeihung. Ich muss gehen. Ich bin sehr müde. Vielen Dank für das wunderbare Essen.«
Raunend kehrten die Leute an ihre Tische zurück, während Mihal Van de Berg an die Tür begleitete. »Er hat gesagt, er wäre satt«, kommentierte Shpresa kurz darauf, »aber ich glaube, er wollte uns mehr von dem Essen übrig lassen und war in Sorge wegen der Ausgaben. Der arme Mann.«
»Der arme Mann«, bestätigte Donika, »wahrscheinlich sind die Mücken schuld. Oder die Hitze. Diese Touristen kommen damit einfach nicht zurecht. Ich habe es ihm oft gesagt, aber er wollte einfach nicht die Jacke ausziehen.«
»Der arme Mann«, wiederholte mein Vater. »Mir hat er einmal gesagt, er wäre kein guter Tänzer und habe deswegen keine Freude daran.«
250»Ich bin frei!«, wiederholten die beiden Männer, die Vincent den Napoloni beibringen wollten. Sie verdrehten die Augen und zuckten die Achseln. »Was soll das heißen? Als hätte irgendwer versucht, ihm seine Freiheit wegzunehmen. Hier sind alle frei. Wenn man tanzen will – gut. Wenn nicht – auch gut. Das kann man doch einfach sagen. Kein Grund, so auf den Tisch zu hauen. Der arme Mann. Wahrscheinlich war ihm furchtbar heiß.«
Nach diesem Abend kamen wir zu der stillschweigenden Übereinkunft, dass Van de Berg niemals einer von uns sein würde, egal wie sehr wir uns um seine Integration bemühten. Mein Vater war der Einzige in der Straße, der regelmäßigen Kontakt zu ihm hielt, entweder weil er die englischen Zahlen üben wollte, indem er übers Tor hinweg die Fußballergebnisse diskutierte, oder weil er ihn bei den Privatisierungsmeetings ohnehin ständig sah. Die anderen Nachbarn grüßten höflich aus der Ferne und tuschelten weiterhin über den »armen Mann«, manchmal auch über den »armen Holländer« oder, seltener, »das Krokodil«. Wenn er in die Straße einbog, verschwanden die Frauen, die eben noch plaudernd auf der Treppe gestanden hatten, nur um Minuten später wieder zu erscheinen. Sie analysierten weiterhin die Gewohnheiten des »armen Mannes«, wie Therapeutinnen, die in Abwesenheit des Patienten eine psychoanalytische Sitzung durchführen. Ist euch aufgefallen, fragten sie, dass er jeden Morgen Dauerlauf macht, fast so, als wäre er in der Kulturrevolution groß geworden? Ist er womöglich ein Spion? Und ist es nicht seltsam, dass er nie jemanden umarmt oder mit Handschlag begrüßt? Ob seine Eltern noch leben? Wahrscheinlich irgendwo in einem Heim, so regeln die das. Wahrscheinlich verdient er eine Menge Geld, wenn er dafür die Warteschlangen und die Stromausfälle in Kauf nimmt. Hundert am Tag vielleicht? Tausend?
251An den Wochenenden erkundete Van de Berg das Umland. Das Krokodilshirt blieb, allerdings trug er bei den Gelegenheiten einen Rucksack statt der Laptoptasche und beige Shorts statt dunkler Jeans, und einen Strohhut mit der Aufschrift »Ecuador«. Wenn er auch noch die Kamera mitnahm, sah er aus wie ein gewöhnlicher Tourist.
»Vincent, waren Sie schon auf dem Dajti?«, fragte mein Vater ihn manchmal, wenn sie plaudernd am Tor standen. »Noch nicht«, antwortete Van de Berg, »aber ich will bald dorthin, und auch an diesen anderen Ort, dessen Name mir nicht mehr einfällt. Ich kann mich nicht erinnern, aber er war so schwer auszusprechen, dass ich es nicht mal zu versuchen brauche!«
Von all seinen Marotten fanden die Leute diese eine am wunderlichsten. Nie konnte er sich an den genauen Namen der Orte erinnern, an denen er gewesen war, oder an die Leute und seine Erlebnisse dort. Unterschiedliche Klänge, Aromen und Begegnungen waren in seinem Kopf durcheinandergeraten wie Dokumente in einem chaotischen Aktenschrank, die niemand ordnen konnte außer ihr Besitzer. Wann immer wir ihm ein neues Gericht zu kosten gaben, ihm ein interessantes Ausflugsziel vorschlugen oder ihm ein besonders geläufiges Wort aus unserer Sprache beibringen wollten, nahm er die Empfehlung entgegen, ohne groß erstaunt zu sein, erinnerte sich an etwas Vergleichbares aus seiner Vergangenheit und ließ sich an die Hand nehmen, ohne dabei sonderlich orientierungslos zu wirken. Ähnlich war es, wenn wir ihn vor einer Schwierigkeit warnen oder ihm bei einem Problem helfen wollten. Vincent nahm die Hinweise dankend entgegen, aber irgendwie blieb immer der Eindruck zurück, dass er sie eigentlich nicht brauchte.
Abgesehen von dem Abend, als er die Geduld verloren hatte, wirkte er niemals auch nur die Spur besorgt. »Vincent«, sag252ten wir, »heute Abend gibt es vielleicht einen Stromausfall; der Strom war den ganzen Tag nicht weg. Haben Sie Kerzen?« Oder: »Vincent, es ist zwei Uhr, wahrscheinlich wird gleich das Wasser wieder angestellt. Am besten füllen Sie sofort ein paar Flaschen auf Vorrat, sonst haben Sie vielleicht in einer halben Stunde keins mehr.« Und dann sagte Vincent: »Verstehe! Vielen Dank für die Information. Das klingt genau wie damals in … wo auch immer es war, irgendwo im Nahen Osten. Dort mussten wir ebenfalls Wasservorräte anlegen, und ständig fiel der Strom aus. Wenigstens gehen hier keine Bomben hoch!« Vincents Geheimwaffe war die Reproduzierbarkeit; sein Gefühl des Déjà-vu war wie eine Zauberkraft, wie ein Trick, der ihm half, das Unbekannte zu zähmen und das Fremde auf vertraute Kategorien zu reduzieren.
Auf uns hatte es den gegenteiligen Effekt. Wenn Vincent Geschichten aus seinem Leben erzählte und sich Orte in Erinnerung rief, an denen er gewesen war, wurde uns das Vertraute fremd. Dass wir Vincent nichts Neues zeigen konnten, kränkte uns nicht, aber es war dennoch ein bisschen beunruhigend zu entdecken, dass das, was wir an uns für einzigartig hielten, am Ende gar nicht so besonders war. Was wir ungewöhnlich fanden, folgte in den Augen derer, die sich in der Welt auskannten, einem vertrauten Muster. Unsere Speisen, die es auch in anderen Landesküchen gab, der Rhythmus unserer traditionellen Lieder und Tänze, der Klang unserer Sprache – all das schien nicht nur uns zu gehören, sondern auch anderen, und dass wir das nicht wussten, war allein unser Fehler. Unsere Helden waren gewöhnliche Menschen, auf der Welt gab es Millionen andere wie sie; unsere Sprache war ein Flickenteppich aus Wörtern, die wer weiß woher stammten. Unsere Existenz war nicht das Ergebnis unserer Anstrengungen, sondern von der Gnade anderer abhängig, mächtiger Feinde möglicher253weise, die entschieden hatten, uns gewähren zu lassen. Ihr Siegeszeichen waren tausend andere kleine Orte, die sie nach ihrem Bild gestaltet hatten, und sie alle sahen gleich aus und hielten sich dennoch für einmalig.
Van de Bergs Fähigkeit, zwischen zwei völlig disparaten Erfahrungen Parallelen zu ziehen, Gemeinsamkeiten zwischen Menschen überall auf der Welt zu erkennen und einem beispielsweise zu verdeutlichen, dass albanisches Burek nicht anders schmeckt als milde Samosas oder dass die Müllkippen in Durrës aussehen wie die in Bogotá, erinnerte mich manchmal an meine Lehrerin Nora. Inhaltlich bildete nichts von dem, was sie sagten, eine Schnittmenge, aber da war eine ähnliche Haltung, ein ähnliches Vermögen, zu verallgemeinern und von konkreten Details zu abstrahieren. Sie verglichen zwei Sachverhalte und nutzten den Vergleich, um einen Überblick über die Welt zu geben und ihre Kenntnisse von einem ganzen System offenzulegen. Früher pflegte Nora zu sagen, wir hätten mit unseren Brüdern und Schwestern in anderen Teilen der Welt mehr gemein, als uns bewusst sei. Ihr zufolge waren alle derselben kapitalistischen Ausbeutung unterworfen, es sei denn, sie hatten sich wie wir davon befreit; wir alle waren im weltweiten antiimperialistischen Kampf vereint. Die Unterdrückung, sagte sie, hat überall das gleiche Gesicht.
Van de Berg konnte den Kapitalismus nicht sehen, oder zumindest hielt er ihn für keinen nützlichen Begriff zur Erfassung irgendwelcher historischer Tatsachen. Als Etikett taugte er so wenig wie die genauen Namen der Orte, an denen er gelebt hatte. Für ihn gab es nur eine Unterscheidung, jene zwischen Gesellschaften im Wandel und Gesellschaften, die den Wandel hinter sich hatten; zwischen Menschen in Bewegung und jenen, die die Strecke schon gegangen waren. Natürlich hatte er eine vage Vorstellung von einem Ziel. Aber aufzuho254len war wichtiger, als zu erklären, wohin die Reise ging. Und im Gegensatz zu meiner Grundschullehrerin Nora, die auf der Notwendigkeit bestand, einen weltweiten proletarischen Kampf zu organisieren, war Van de Berg nicht da, um Widerstand zu mobilisieren, sondern, um »Transparenz zu fördern«, »Menschenrechte zu verteidigen« und »Korruption zu bekämpfen«. Seine Akteure der Veränderung waren andere, sie nannten sich »die internationale Gemeinschaft« oder »die Zivilgesellschaft«. Und er verfolgte andere Absichten.