Eigentlich war meine Mutter diejenige, die 1996 für einen Parlamentssitz kandidieren wollte. Sie war seit dem Gründungstag Mitglied der Partei. Sie kannte in Parteikreisen jeden und hatte sogar die Programmschrift gelesen. Wir sprachen immer nur von der Partei, obwohl es natürlich nicht die Partei war, sondern die Demokratische Partei Albaniens, Hauptgegnerin der Kommunisten bei den anstehenden Wahlen. Trotzdem wussten alle, was wir meinten. Es bestand keine Gefahr, dass meine Familie die ehemaligen Kommunisten unterstützte. Für uns gab es nur eine Partei, so wie es für sie nur eine Partei gab.
Zu dem Zeitpunkt war meine Mutter seit fünf Jahren politisch aktiv. Sie bejahte den zentralen Slogan der Partei, hinter dessen entwaffnender Schlichtheit sich Jahrzehnte der enttäuschten Hoffnung verbargen: »Albanien soll sein wie der Rest von Europa.« Wenn meine Mutter gefragt wurde, was »der Rest von Europa« sei, fasste sie es in wenigen Worten zusammen: Kampf gegen die Korruption, Förderung des freien Unternehmertums, Schutz des Privateigentums, Unterstützung der Eigeninitiative. Kurz gesagt: Freiheit.
Doch wie meine Mutter bald feststellte, reichte es für eine erfolgreiche Kandidatur nicht aus, den Slogan erläutern zu können. Andere Tugenden waren gefragt. Auf der Bühne war sie charismatisch, doch in Sitzungen verlor sie schnell die Geduld. Sie war von einem prophetischen Eifer besessen, und obwohl 281ihre Reden kurzfristig begeisterten, jagte sie den Leuten auf lange Sicht Angst ein. Sie ging jede Aufgabe mit großer Ernsthaftigkeit an und sträubte sich gegen Kompromisse. Sie pflegte immer noch die Umgangsformen einer strengen Mathelehrerin.
Sie bot meinen Vater als Ersatz an. »Er ist ein Mann, das ist schon mal hilfreich«, erklärte sie, um den anderen die Sache schmackhaft zu machen. »Und er wird geliebt wie eine Frau. Auch das ist gut.« Ganz generell war mein Vater viel beliebter als meine Mutter. Nicht viele Kandidaten waren in der Lage, die Roma, die um ihre Jobs im Hafen kämpften, ebenso anzusprechen wie die Dissidentenfamilien, die eine Rückgabe der Besitztümer ihrer Großväter forderten. Selbst bei den sozialistischen Gegnern genoss er einen guten Ruf, weil er sie bei Debatten ausreden ließ und seine Kritik stets so formulierte, dass niemand sie persönlich nahm. »Und er kann kämpfen, wenn es sein muss«, fügte meine Mutter hastig hinzu, als wäre ihr eben erst eingefallen, dass die Umgänglichkeit meines Vaters am Ende seine Chancen schmälern könnte. »Gegen die Korruption. Da draußen gibt es so viel Korruption. Wir brauchen ehrliche Politiker.«
»Korruption« war das neue Schlagwort und eine allumfassende Erklärung für alle möglichen Übel, der vergangenen ebenso wie der aktuellen, der persönlichen wie der politischen; sie war das Problem der Menschen und die große Schwäche der Institutionen. Sie trat auf, wo wirtschaftliche Liberalisierung auf politische Reformen stieß und, anstatt wie versprochen eine harmonische Verbindung miteinander einzugehen, zu faulen begannen. Sie wurde mal als moralische Pflichtverletzung beschrieben und mal als Amtsmissbrauch, und noch häufiger als ein Versagen der menschlichen Natur nach dem sozialistischen Transformationsversuch. Vor allem war sie ex282trem schwer zu bekämpfen. Wie bei der Hydra wuchsen für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nach. Die Korruption folgte einer eigenen Logik, die aber niemand je zu dechiffrieren versuchte, und schon gar nicht wurde die Prämisse hinterfragt. Das Wort allein stand bereits für die Existenz des Problems.
Zunächst stemmte mein Vater sich gegen eine Kandidatur. Er war nie Mitglied der Partei gewesen. Er fürchtete, seine Ansichten könnten zu randständig, wenn nicht gar umstritten sein. Er hatte keine entschiedene Meinung zur Privatisierung oder zum freien Markt. Er war sich nicht sicher, ob das Land der NATO beitreten sollte. Ja, er war sich nicht einmal sicher, ob die Korruption unser größtes Problem war. Er wusste nicht genau, wo er mit seinen Überzeugungen stand, rechts oder links. Er fühlte sich »links«, was die Gerechtigkeit betraf, und »rechts« in Sachen Freiheit.
Meine Mutter korrigierte ihn. In einem ehemalig kommunistischen Land, sagte sie, gebe es kein rechts oder links, nur »kommunistische Nostalgiker« und »liberale Hoffnungsträger«. In die Kategorie der Hoffnungsträger passte er eigentlich auch nicht hinein, aber das Leben als Bürokrat frustrierte ihn zunehmend. Jeden Tag kam er angespannter und aufgebrachter vom Hafen zurück und berichtete von Bemühungen, die ins Leere liefen, und Dokumenten, die er niemals hätte unterzeichnen sollen. Für meine Mutter war es ein Leichtes, ihn davon zu überzeugen, dass er, wenn ihm nicht alles egal war und er etwas Gutes bewirken oder wenigstens das Schlechte begrenzen wollte, nicht untätig bleiben durfte. Dass er die Initiative ergreifen musste, was gleichbedeutend war mit in die Politik zu gehen. Die Politik ist wichtig, sagte meine Mutter, weil man dort nicht einfach nur die Visionen anderer Leute umsetzt, sondern selbst welche entwickelt. Darum gehe es in der Demokratie.
283Aber keine Partei würde um Strukturreformen herumkommen. Sie waren untrennbar mit dem verbunden, was nun in unverhohlener Selbstbeglückwünschung »der Prozess der Integration in die europäische Familie« genannt wurde. In der Geschichte meines Landes mag es Momente und Orte gegeben haben, wo Politik wirklich entscheidend war; wo Aktivist zu sein statt Bürokrat bedeutete, dass man die Regeln ändern und auf einer Ebene eingreifen konnte, auf der die Gesetze gemacht und nicht bloß angewendet wurden. Dies war jedoch kein solcher Moment. Die Strukturreformen waren so unvermeidlich wie das Wetter. Sie wurden überall auf die gleiche Weise umgesetzt, weil die Vergangenheit versagt hatte und wir nie gelernt hatten, die Zukunft zu gestalten. Es gab keine Politik mehr zu machen, nur Regelwerke. Und der Zweck von Regelwerken war, den Staat auf die neue Ära der Freiheit vorzubereiten und den Menschen das Gefühl zu geben, sie gehörten zum »Rest von Europa«.
Während jener Jahre war »der Rest von Europa« mehr als ein Kampagnenslogan. Er stand für eine bestimmte Lebensweise, die eher imitiert als verstanden und öfter fraglos übernommen als legitimiert wurde. Europa war wie ein langer Tunnel, dessen Eingang von hellen Lichtern und blinkenden Zeichen erleuchtet wurde; wer drinnen war, konnte zunächst wenig erkennen. Zu Beginn der Reise kam niemand auf den Gedanken zu fragen, wo der Tunnel endet, ob das Licht irgendwann ausgeht und was auf der anderen Seite liegt. Niemand hatte daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen, eine Karte anzulegen oder sich zu erkundigen, ob es schon einmal jemand hinausgeschafft hat; ob es einen Ausgang gibt oder mehrere und ob alle denselben Ausgang nehmen. Stattdessen marschierten wir einfach weiter in der Hoffnung, dass es hell bleiben würde, solange wir hart genug arbeiteten und 284lange genug warteten, wie damals in den sozialistischen Warteschlangen – ohne sich daran zu stören, dass die Zeit verstrich, und ohne die Hoffnung zu verlieren.
»Wie der Rest von Europa«, wiederholte Murat, der örtliche Imam, an einem milden Nachmittag im Mai, als wir ihn besuchten, um nachzufragen, ob er meinen Vater bei den kommenden Wahlen unterstützen würde. »Selbstverständlich, selbstverständlich werden wir dich unterstützen, Zafo«, sagte Murat. »Aber du wirst Geld brauchen. So etwas klappt nicht ohne Geld.«
Nachdem sie ihr Haus an Arians Eltern verkauft hatten, waren Murat und seine Familie aus der Nachbarschaft fortgezogen und wohnten jetzt in einer kleinen Wohnung unweit des Friedhofs. Die Wohnung war eng, das Mobiliar türmte sich auf wie Barrikaden. Ich erkannte die grünen Polyestervorhänge mit den aufgedruckten Blumen und Schmetterlingen wieder. Das Bücherregal hatte einem Farbfernseher weichen müssen. Am Boden stapelten sich Koranausgaben in verschiedenen Sprachen und auch in Zeitungspapier eingewickelte Schuhe, weil Murat in seiner Freizeit immer noch als Schuster arbeitete.
»Neulich habe ich ein Interview mit Berlusconi gesehen«, fuhr er fort. »Du kennst doch Berlusconi. Was für ein Mann. Sieht so fit aus, als wäre er Mitte zwanzig. Und immer am Lächeln. In dem Interview hat Berlusconi seine Lebensgeschichte erzählt. Er hat auf dem Bau angefangen. Später hat er Musik auf einem Schiff gemacht. Dann hat er einen privaten Fernsehsender gekauft. Man muss verschiedene Dinge ausprobieren, denn man weiß nie, was funktioniert. Das hat er selbst gesagt. Er ist ein Geschäftsmann. Inzwischen kümmern sich andere Leute um seine Geschäfte, denn er ist in der Politik. 285Wenn er weiß, wie man Geld verdient, weiß er auch, wie man Wahlen gewinnt. Er hat natürlich viele Feinde, die Leute sind neidisch, das sind sie immer. Aber er kann sie einfach ignorieren; er hat schließlich eigene Fernsehsender und eigene Zeitungen. Wenn du gewinnen willst, brauchst du Geld. Man braucht immer Geld. Wer kein Geld für sich hat, kann anderen keins geben. Wo ist dein Geld?«
»In der Manteltasche meines Vaters«, sagte mein Vater im Spaß.
Murat schmunzelte.
»Du wirst eine Menge Geld brauchen, Zafo, eine Menge«, fuhr er fort. »Ich weiß, wie das läuft. Ich habe es bei den Arabern gesehen, die für die Moschee gespendet haben.« Er hielt inne und zündete sich eine Zigarette an. »Als Fluturas Fabrik geschlossen wurde« – er sah kurz zu seiner Frau hinüber –, »dachte ich: Was sollen wir jetzt machen? Wir werden alle verhungern. Ich dachte: Allah Qerim.* Aber Allah hilft denen, die sich selbst helfen. Und dann haben die Dinge sich glücklicherweise zum Guten gewendet. Die Firmen wurden gegründet. Du weißt, was ich meine. Die Firmen …«
»Xhaxhi Murat, ich habe eine Frage«, unterbrach ich ihn. »Singen Sie wirklich jeden Morgen und Nachmittag ›Allahu akbar‹ vom Minarett, oder ist das eine Aufnahme? In der Schule haben wir gewettet. Einige sagen, Sie machen das jeden Tag. Ich sage, es ist eine Aufnahme.«
»Es ist eine Aufnahme, Leushka«, antwortete er. »Eine Aufnahme. Jetzt schuldest du mir zehntausend Lek.« Er zwinkerte mir zu, dann wurde er wieder ernst und wandte sich an meinen Vater. »Sude, Populli, Kamberi, Vefa. Die Firmen. Man zahlt etwas Geld ein und bekommt mehr heraus. Wir hatten 286nichts zum Einzahlen. Was sollten wir machen? Wir haben versucht, das Land zu verlassen. Wir waren auf der Vlora, du erinnerst dich. Die Reise nach Italien hat uns nichts eingetragen als blaue Flecken. Und da haben wir beschlossen, das Haus zu verkaufen. Die Kinder waren traurig, aus unserer Straße wegzuziehen. Wir waren auch traurig, denn wir hatten gute Nachbarn, und unser Haus habe ich mit meinen eigenen Händen gebaut. Mit denselben Händen, die deine Schuhe genäht haben.« Er hielt kurz inne und hob die Hände, wie um all die Schuhe vorzuzeigen, die er je hergestellt hatte.
»Man muss Opfer bringen. Unsere Nachbarn, die Bakis, haben das Haus gekauft und bar bezahlt. Mit dem Geld konnten wir machen, was wir wollten. Wir hätten es ausgeben können oder …« Er überlegte. »Wie heißt das Wort gleich? Investieren. Wir haben es investiert. Wir haben nichts davon behalten. Was glaubst du, was der Rest von Europa mit seinem Geld macht? Investieren. Es wird investiert, damit es sich vermehren kann.«
Mein Vater dachte nach. Sein Gesichtsausdruck wirkte leicht schuldbewusst. Über die neuen Firmen hatten wir kürzlich erst zu Hause gesprochen. Sude, Populli, Kamberi und Vefa waren die Namen von Unternehmen, die plötzlich überall auftraten und hohe Zinsen für Geldeinlagen versprachen. Auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten hatten über zwei Drittel der Bevölkerung eine Summe investiert, die dem halben Bruttoinlandsprodukt Albaniens entsprach. Einige dieser Firmen bauten Hotels, Restaurants, Clubs und Einkaufszentren. Meine Familie zögerte noch, die zu Hause gehorteten Ersparnisse einzuzahlen.
Murat blies Qualm aus, drückte die Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an.
»Zafo, hör mir zu«, sagte er ernst. »Du kannst dein Geld 287nicht in einer Manteltasche aufbewahren. Die Zeiten haben sich geändert. Du musst es investieren, wie der Rest von Europa. Worauf wartest du noch? Unser Geld lag bei Kamberi, die aber nur zehn Prozent jeden Monat auszahlen wollten, also sind wir zu Populli gegangen, wo es dreißig gab. Dann haben wir Sude entdeckt, und seither haben sich unsere Ersparnisse monatlich verdoppelt. Mindestens. Wir heben natürlich nicht alles ab, wir lassen es liegen, damit es sich vermehren kann. Wie der Rest von Europa. Man muss sparen und investieren. Sparen und investieren, damit das Geld sich vermehrt.«
Mein Vater lächelte und nickte. Wann immer wir zu Hause über die Firmen redeten, kam es zwischen meinen Eltern zum Streit. Meine Mutter fand, wir sollten die Manteltasche vergessen und unser Geld bei einer Firma anlegen. Der Rest der Familie war unentschlossen. »Ich verstehe nicht, wie man einer Firma hunderttausend Lek geben kann«, sagte mein Vater, »und ein paar Monate später das Doppelte zurückbekommt. Das klingt doch nach Glücksspiel.«
»Wir könnten es mit einer kleinen Summe ausprobieren«, sagte meine Mutter, »und sehen, wie es läuft. Wir lassen es langsam angehen. Ich schlage doch nicht vor, gleich das Haus zu verkaufen.«
»Aber wo kommt das viele Geld denn her?«, fragte mein Vater. »Es gibt hier keine Fabriken mehr, keine Produktion.«
»Nur weil du es nicht kennst, muss es nichts Unseriöses sein«, sagte meine Mutter. »Die Firmen investieren das Geld anderswo. Sie besitzen Restaurants, Clubs, Hotels. Das Geld ist im Umlauf. Die Leute schicken ihren Lohn aus Italien oder Griechenland, viele Ausgewanderte unterstützen ihre Eltern. Das meiste wurde mit ehrlicher Arbeit verdient. Da kommt das Geld her. Sie schicken es ihren Eltern, die Eltern legen es an, die Firmen passen gut drauf auf, investieren ihrerseits und 288zahlen Zinsen aus. Und wenn man sein Geld braucht, weil man sich etwas kaufen will, hebt man welches ab oder leiht sich etwas. Das ist kein Hexenwerk. Du hast doch studiert. Was gibt es da nicht zu verstehen?«
»Ich verstehe nicht«, mischte Nini sich ein, »was passiert, wenn alle zur gleichen Zeit ihr Geld zurückverlangen. Wie könnten die Firmen alle auszahlen?« Diese letzte Frage fand meine Mutter besonders ärgerlich. »Warum sollten die Leute alle zur gleichen Zeit ihr Geld zurückverlangen?«, entgegnete sie. »Wozu bräuchten sie es? Es ist ja nicht so, als könnte man es einfach ausgeben. Warum sollte das Geld unter der Matratze liegen statt bei einer Firma?«
»Wozu das Geld in den Taschen deines Vaters aufbewahren?«, sagte auch Murat zu meinem Vater. »Meiner Familie geht es jetzt gut. Vielleicht können wir eines Tages unser Haus zurückkaufen. Positive thinking«, fügte er hinzu, »wie der Rest von Europa. Niemand hat uns positive thinking gelehrt. Ich sag es dir, das ist unser Problem.«
Am Ende gewann positive thinking. Unser Haus verkauften wir nicht, aber wir »investierten« den größten Teil unserer Ersparnisse in eine der Firmen, Populli, deren voller Name Demokracia Popullore lautete, Volksdemokratie. Meine Großmutter konnte ihn sich nie merken und verwechselte ihn immer wieder mit Fronti Demokratik, Demokratische Front, dem örtlichen Ableger des Komitees, von dem wir bis 1990 unsere Lebensmittelmarken bezogen hatten. »Hast du unsere Zinsen von der Demokratischen Front geholt?«, fragte sie meinen Vater nach vier Monaten, als er von der Populli-Geschäftsstelle nach Hause kam. »Habe ich«, sagte er. »Ist alles hier in meiner Tasche.«
Positive thinking gewann meinem Vater auch einen Sitz im Parlament. Er erhielt mehr als sechzig Prozent der Stimmen, 289der einzige Erfolg seiner kurzen Karriere als Abgeordneter. Seine restlichen Monate im Parlament waren eine vollkommene Pleite. Er merkte schnell, dass er weder den furchtlosen Instinkt eines Anführers besaß noch die berechnende Geduld eines Beraters. Ihm fehlte Parteidisziplin. Er traf ungern Entscheidungen und war gleichzeitig unwillig, die Entscheidungen der anderen mitzutragen. Er hatte weder den Ehrgeiz zu führen, noch neigte er zum Folgen.
Es waren verfluchte Zeiten für neue Parlamentsmitglieder. In dem Jahr fanden die umstrittensten Wahlen in der Geschichte des Landes statt. Die sozialistische Opposition bezichtigte die amtierende Regierung des Wahlbetrugs. Sie erkannte das Endergebnis nicht an und weigerte sich, ihre Vertreter ins Parlament zu schicken. Internationale Beobachter, diplomatische Vermittler und politische Berater strömten ins Land.
Und jede Menge Finanzexperten, die sich darauf spezialisiert hatten, Fachtermini für Probleme einzuführen, die ihrer Meinung nach dringend angegangen werden mussten: Schwellenmärkte, Anlegervertrauen, Verwaltungsstrukturen, mehr Transparenz zur besseren Korruptionsbekämpfung, Übergangsreformen. Der eine Fachbegriff, den sie einzuführen vergaßen, hätte die »Firmen« bezeichnet, denen eine überwältigende Mehrheit meiner Landsleute ihr Ersparnisse anvertraut hatten: Pyramidensysteme. Aufgekommen waren sie in den frühen Neunzigerjahren, als Ausgleich zum unterentwickelten Finanzsektor des Landes und im Kontext eines informellen Kreditmarktes, der auf familiären Bindungen und Überweisungen aus dem Ausland beruhte. Nachdem die Vereinten Nationen die Sanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien ausgesetzt hatten, gab es weniger Schmuggel und mehr Leute, die auf ihrem Bargeld saßen, was bedeutete, dass die Schneeballfirmen für Einzahlungen immer höhere Zinsen versprechen 290konnten. Die Wahl von 1996 verschärfte das Problem noch: Einige der Firmen leisteten Wahlkampfspenden an die regierenden Demokraten, steigerten damit ihre Bekanntheit und trugen zum generellen Hype um Investitionen bei. Alle wollten Gewinne machen »wie der Rest von Europa«.
Ein paar Monate später kam heraus, dass die Schneeballfirmen ihre Versprechen von den hohen Zinsen nicht einhalten konnten. Sie gingen alle insolvent. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, darunter auch meine Familie, verlor ihre Ersparnisse. Die Menschen warfen der Regierung vor, mit den Eigentümern der Firmen unter einer Decke zu stecken. Sie gingen auf die Straße und forderten ihr Geld zurück. Die Proteste begannen im Süden, wo die Sozialistische Partei traditionell eine starke Basis hatte, und breiteten sich schnell auf den Rest des Landes aus. Es folgten Plünderungen, Angriffe von Zivilisten auf Militärstützpunkte und eine beispiellose Auswanderungswelle. Über zweitausend Menschen kamen ums Leben. Die Ereignisse gingen als der albanische Bürgerkrieg in die Geschichtsbücher ein. Für uns reicht es, das Jahr zu hören: 1997.