I ch wohne hinter dem Gare Montparnasse in einem fensterlosen Wohnklo. (Eventuell übertreibe ich hier. Aber nur ein bisschen.) Das Haus ist vermutlich irgendwann in der Steinzeit erbaut worden und wurde seitdem nicht mehr saniert. Ich teile mir ein Bad mit weiteren sieben Mitbewohnern. In diesem Bad wohnt so viel Schimmel, dass ich nur auf den Tag warte, an dem er selbstständig diesen schrecklichen Ort verlassen möchte und mir beim Öffnen der Tür entgegenkommt. Mein Zimmer hat ungefähr acht qm, womit ein Bett und ein Regal hineinpassen. Sollte jemand von Siemens oder Bosch Lufthaken erfinden, könnte ich auch noch Dinge an die wirklich sehr hohe Decke hängen, aber bis zu diesem Zeitpunkt muss ich mich auf das Nötigste beschränken. Ich habe übrigens sehr wohl ein Fenster. (Ich neige manchmal tatsächlich zu Übertreibungen.) Aber dieses Fenster ist:
- vergittert,
- geht direkt in den dunklen und stinkenden Innenhof hinaus und
- mein Nachbar hat von der anderen Seite eine Wäscheleine an meinem Fenstergitter befestigt, auf der er jetzt immer seine zeltartigen Unterhosen trocknet.
Dieses Zimmer war nur eine Zwischenlösung, ein Provisorium, bis Bernard endlich seine Freundin rausgeschmissen hat, damit ich in seine wunderbare Loftwohnung mit Stuck an den Decken und Blick auf den Jardin des Tuileries einziehen kann. Dass ich darauf wartete, dass er sich seiner Freundin entledigte, mag jetzt sehr herzlos klingen. Aber ich hatte Bernards Beschreibungen von ihr stets Glauben geschenkt, was im Nachhinein nur zeigt, wie doof ich eigentlich bin. Sie schien eine persönliche Abgesandte des Teufels, die mit ihrem Schwefelatem und ihrer schlechten Laune die Welt im Allgemeinen und Bernard im Besonderen tyrannisiert hat. Es kann, so im Nachhinein betrachtet, nicht ganz so schlimm gewesen sein, denn der Trennungsprozess zog sich über einen ausgesprochen langen Zeitraum hin und endete mit einer spontanen Schwangerschaft. Nun wollen die beiden heiraten.
Wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich so einen ganz bitteren Zug um den Mund. Das weiß ich, weil ich mal im schimmligen Bad im Spiegel nachgesehen habe. Das ist der Grund, warum ich versuche, einfach nicht darüber nachzudenken. Der bittere Zug um den Mund würde den natürlichen Alterungsprozess sicherlich noch beschleunigen und das will ich keinesfalls.
Ich habe seitdem die Verdrängung dieser Gedanken zu einer olympischen Disziplin erhoben und arbeite stetig an der Goldmedaille. Da es aber nicht nur die Trennung von Bernard ist, die ich verdrängen muss, ist das wirklich harte Arbeit. Sobald auch nur der kleinste Fitzel an Gedanken in diese Richtung auftaucht, erschlage ich ihn und kehre die leblosen Überreste in eine Ecke meines Gehirns. Direkt neben den Teil, der für mathematische Lösungen oder gelungene Kommunikation zuständig ist. Also dort, wo naturgemäß in meinem Hirn am wenigsten los ist.
* * *
Ich streife mir die Schuhe von den Füßen und falle der Länge nach auf das Bett, wo ich erst mal regungslos liegen bleibe. Damit ich die tristen Wände und das vergitterte Fenster nicht anstarren muss, starre ich stattdessen auf den Strauß frischer Narzissen, die ich mir vom Markt mitgebracht habe. Ich bin nicht nur eine Geringverdienende, ich bin sogar erschreckend arm. Was mich nicht davon abhält, jede Woche knappe zehn Euro in etwas zu investieren, was schön ist. Ich liebe nämlich schöne Dinge und habe schon als Kind gerne Blumen gepflückt und Bilder aufgehängt.
Weswegen meine ästhetische Seite in diesem fensterlosen (ja, es gibt ein Fenster, aber ein Fenster mit Gittern und zeltartigen Unterhosen davor gilt in meinem Leben nicht als echtes Fenster) Wohnklo langsam, aber sicher verkümmert. Mit den Blumen versuche ich, dieser traurigen Entwicklung wenigstens rudimentär entgegenzuwirken.
Ich mache einen langen Arm und ziehe die Plastiktüte mit meinen Einkäufen unter dem Bett hervor. Weil ich keinen Platz habe, lagere ich dort nahezu alle meine Besitztümer in verschiedenen Kästen, Kisten und Tüten. Mein heutiges Abendessen wird aus einem sehr großen, sehr günstigen Becher mit Erdbeerjoghurt bestehen, dessen Inhalt maximal kurz neben einer Erdbeere stehen durfte und dessen Erdbeergeschmack deswegen aus dem Labor kommt. Ich will mir gerade einen Löffel aus dem Becher angeln, der mir als Besteckschublade dient, als es energisch gegen meine Zimmertür hämmert.
„Wer ist da?“, rufe ich, natürlich auf Französisch.
„Post“, grölt es von der anderen Seite in fettestem Bayrisch. Marianne. Das Münchner Urgestein, das zwei Zimmer weiter wohnt.
Flugs hüpfe ich vom Bett, bevor Marianne noch einmal gegen meine Tür schlagen kann. Das tut sie immer, weil sie nicht warten mag. Und der Libanese, der neben mir wohnt, schreit dann immer ganz fürchterlich, weil er keine lauten Geräusche mag. Und ich fühle mich dann schlecht, weil ich sonst eher ein leiser und unaufdringlicher Zeitgenosse bin, also hechte ich förmlich an die Tür und reiße sie auf.
„Hier. Brief.“ Marianne drückt mir einen Umschlag in die Hand und starrt mich dabei düster an. Sie guckt immer so. Am Anfang dachte ich noch, sie mag mich nicht. Also sie mag mich auch nicht, aber sie mag niemanden, womit ich das nicht persönlich nehme.
„Danke! Wie nett, dass du ihn mit raufgebracht hast.“ Ich bemühe mich um ein Lächeln und weiß, dass Marianne gerne dort stehen bleiben würde, bis ich den Brief geöffnet und ihn komplett vorgelesen habe. Sie ist nämlich permanent schlecht drauf und unglaublich neugierig, aber meine Post öffne ich lieber alleine. Ich bekomme nämlich nie Post, insofern ist das hier ein ganz besonderer Moment. Ich nicke Marianne noch einmal kurz, aber freundlich zu, sie starrt wirklich böse zurück und ich schließe die Tür wieder. Dann werfe ich einen Blick auf den Brief. Er kommt aus Deutschland und meine Adresse ist mit einer sauberen, fast gestochenen Handschrift geschrieben. Einer mir unbekannten Handschrift.
Ich wende den Brief und lese als Absender „Hiltrud Strokötter“ und mein Herz legt augenblicklich einen Zahn zu. Die Antwort auf meine Bewerbung. Die schon so lange her ist, dass ich sie fast vergessen habe. So gründlich vergessen, dass ich in der letzten Woche noch nicht einmal mehr nach der Arbeit in das Internet-Café gegangen bin, um meine E-Mails zu checken. Ich lebe nämlich ohne Internet. Und Computer. Ein Handy habe ich zwar, aber das wurde ungefähr zeitgleich mit den ersten Dampfmaschinen gebaut und ist dementsprechend nicht mehr sehr funktionstüchtig.
Ich setze mich auf mein Bett und halte den weißen Umschlag einfach nur fest. Es gibt Momente im Leben, die alles verändern können. Manche kommen so schnell wie ein Blitzschlag, da hat man keine Chance, sich langsam heranzutasten, aber hier und heute habe ich Zeit. Es könnte natürlich auch eine Absage sein. Oder nur die Einladung zu einem Probearbeiten, was ich mir leider nicht leisten könnte. Weder den Verdienstausfall noch die Reisekosten. Und warum schickt Frau Strokötter einen Brief? Hat sie vielleicht eine Mail geschrieben, die ich schändlicherweise nicht abgerufen habe? Wie immer, wenn ich aufgeregt bin, bekomme ich Schluckauf. Als ich damals den kleinen Asiaten in den rosafarbenen Handschellen gefunden habe, hat sich der Schluckauf sogar hartnäckig 24 Stunden lang gehalten. Ich hickse und starre den Brief an. Wenn sich in diesem Brief keine Absage befindet, könnte ich ein neues Leben anfangen. Weit weg von hier. Weit weg von allem, was ich dringend hinter mir lassen muss. Ein Leben mit Fenster. Okay. Ich straffe die Schultern und reiße den Brief mit dem Zeigefinger vorsichtig auf. Zum Vorschein kommt ein hübscher Briefbogen mit kleinen, stilisierten Möwen in der oberen rechten Ecke.
Liebe Bernadette Meyer,
nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschieden, Sie einzustellen. Ihre Aufgaben wären folgende:
- Frühstück vorbereiten und betreuen
- 10 Zimmer reinigen
- den Hund ausführen.
Ein Zimmer mit Frühstück sowie eine warme Mahlzeit am Tag sind frei. In Ihrem Zimmer befinden sich ein Fernseher und ein Internet. Ihr Gehalt würde 1.000 Euro bei 30 Wochenstunden betragen.
Wenn Sie diese Tätigkeiten ansprechen, würde ich Ihnen gerne zum 01. März eine Stelle als Zimmermädchen/Servicekraft anbieten. Die Stelle ist bis zum 31. Oktober befristet. Bitte melden Sie sich unverzüglich, ob Ihnen mein Angebot genehm ist.
Nordische Grüße
Hiltrud Strokötter
Den Hund ausführen? Ich lasse den Brief sinken. Ich hasse Hunde. Es sind gefährliche Wesen mit scharfen Zähnen. Außerdem stand in der Anzeige im Internet nichts von einer zeitlich befristeten Stelle. Ich seufze und lege den Brief beiseite. Auf der anderen Seite ist die kleine Pension an der Nordsee natürlich ein echtes Saisongeschäft, insofern ist das schon verständlich. Dass sich in meinem Zimmer ein Internet befindet, ist eine wirklich zauberhafte Formulierung und lässt mich schließen, dass Frau Strokötter mit Sicherheit schon graue Strähnen im Haupthaar hat. Außerdem war sie die Einzige, die nicht explizit aussagekräftige Referenzen verlangt hat. Mit denen könnte ich nämlich leider nicht dienen. Trotz der Tatsache, dass ich gelernte Hotelfachfrau bin. Aber das ist eine andere, lange und sehr komplizierte Geschichte. Ich wühle in meinen Unterlagen, die ich allesamt in einem Wäschekorb unter dem Bett aufbewahre, und ziehe die ausgedruckten Seiten der Homepage der kleinen Pension hervor. Sie wirkt sehr manierlich und die Fotos sind recht hübsch. Natürlich ist es kein Sterne-Haus. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei zehn Zimmern im Akkord arbeiten muss, bis der Rücken kracht, ist sehr gering. Außerdem kann ich viel Geld sparen, wenn ich nicht für eine Unterkunft zahlen muss. Das ist eine große Chance.
Ich schließe die Augen und dämmere vor mich hin, während der ungegessene Erdbeerjoghurt auf meinem Nachtschrank nach künstlichen Erdbeeren stinkt. Ich versuche durch den Mund zu atmen und denke intensiv nach. Ich muss etwas ändern an meinem Leben. Aber das ist mit einem enormen Aufwand verbunden. Und ich bin gerade so müde. Vielleicht sollte ich diesen Brief einfach in den Innenhof werfen. Viele nutzen den tiefen Schacht als Mülleimer. Ich sollte meinen Joghurt essen und schlafen, um dann morgen früh wieder ein ganzes Stockwerk „schön“ zu machen. Das mache ich dann übermorgen auch. Und im nächsten Jahr. Also für immer.