E s muss an meinem Outfit liegen. Ich fühle mich ausgesprochen unwohl, so angestarrt zu werden. Zumal die anwesenden Männer durchaus als ansehnlich durchgehen. Im Schein der bösartigen Energiesparlampen, die alles leicht grünstichig erscheinen lassen, ist das eine echte Leistung.
Ich bin plötzlich sehr aufgeregt und habe die begründete Befürchtung, sofort einen Schluckauf zu bekommen.
„Tach!“, sagt schließlich der mir bisher noch unbekannte Mann und deutet eine formvollendete Verbeugung an. Er muss ein wenig jünger sein als ich und trägt keine wirkliche Frisur auf dem Kopf. Mehr einen blonden, verwirrten Zustand.
„Guten Morgen“, sage ich und endlich mischt sich meine neue Chefin mal in diese unangenehme Situation ein, indem sie nämlich von ihrer Zahlenkolonne aufblickt und hinter sich deutet.
„Das ist Lasse Johanson“, sagt sie. „Und das ist Piet Johanson.“ Sie zeigt auf den Kerl, der mich schon auf den rechten Weg gebracht hat. „Die beiden renovieren.“
„Ah“, sage ich. Was renovieren sie? Warum tun sie das um halb sechs Uhr morgens? Wie kommen zwei doch sehr ansehnliche Männer nach Klein Wöhrde? Wird jeden Morgen um halb sechs renoviert? Fragen über Fragen. Bevor ich aber nur eine davon ausformuliert habe, sind alle bis auf meine Chefin schon wieder verschwunden und die widmet sich mit all ihren Lebensgeistern erneut den Zahlen und ihrer Rechenmaschine. Und ich mache Frühstück. Mit abgepackter Butter. Und abgepackter Wurst. Und Kondensmilch in kleinen Plastikbehältern. Und ... Überraschung: abgepackter Marmelade. Nur die Brötchen sind frisch und duften herrlich. Ich bemühe mich nach Leibeskräften, die zur Verfügung stehenden Produkte irgendwie ansehnlich auf dem kleinen Buffettisch zu arrangieren, scheitere aber komplett. Es sieht aus wie in einer Jugendherberge der unteren Preiskategorie.
„Frau Strokötter, gibt es keine frischen Produkte?“, frage ich schließlich zögerlich und meine Chefin hebt tatsächlich den Kopf von der Rechenmaschine. Sie sieht aus, als ob ich sie aus einem tiefen Schlaf gerissen hätte.
Sie kneift die Augenbrauen zusammen und schüttelt ruckartig den Kopf. „Lohnt nicht bei drei Gästen. Essen die nie auf.“
Sie deutet meinen offenbar fassungslosen Gesichtsausdruck richtig und fügt ein wenig versöhnlicher hinzu: „Können wir machen, wenn mehr Gäste da sind. Die Stammgäste, die zurzeit hier sind, kennen das. Es wäre doch blöd, wenn man alles wegschmeißen muss.“
Das macht es nicht besser, denke ich, sage aber nichts. Es kann nicht so schwer sein, einen Laib Käse vernünftig einzuteilen und die aufgeschnittenen Scheiben so zu kühlen, dass man immer kleine Portionen nachlegen kann. Eine Kühltheke gibt es nämlich. Sie steht am hinteren Ende der Küche und fristet dort ihr einsames Dasein.
Um kurz vor sieben kommen die drei Gäste. Im Rudel. Sehr gut gelaunt. Alle um die achtzig. Und alle drei begrüßen mich mit Handschlag und außerordentlich warmen Worten. Augenblicklich bin ich in meinem Element. Mit Gästen kann ich umgehen.
„Moin, Frau Bernadette, wir waren schon sehr gespannt auf Sie!“, sagt ein älterer Herr ohne Haare auf dem Kopf, dafür aber mit Haaren in der Nase, während die beiden Damen wortreich mein Outfit würdigen.
Ich erfahre von dem Trio, dass sie dem Schwarzwald entstammen, aber regelmäßig das Frühjahr und den Herbst an der Küste verbringen. Laut ihrer Aussage die einzige Möglichkeit, fit und gesund bis ins hohe Alter zu bleiben. Das Reizklima, das ultimative Lieblingswort aller drei, sei einfach hervorragend zur allgemeinen Konservierung geeignet. Die drei sind sehr nett, liebreizend und außerordentlich dankbar für alles, was ich tue. Das bin ich so nicht gewohnt und deshalb nach einer Stunde sehr verwirrt. Zumal sie sich dann alle drei kollektiv verabschieden, in verschiedene wind- und wetterdichte Kleidungsstücke hüllen und mit jeweils einem Paar Walkingstöcken bewaffnet Richtung Strand marschieren. Und zwar in einem so flotten Tempo, dass sie förmlich eine Gischtspur hinter sich herziehen, es hat nämlich begonnen so heftig zu regnen, dass das Wasser in Rinnsalen an der Fensterscheibe zur Straße hinunterläuft.
Ich räume den Speisesaal auf, mache dann die drei Zimmer, die allesamt sehr hübsch sind (Wer hätte gedacht, dass es in diesem Haus auch hübsche Dinge gibt!), feudele (so heißt es hier, wenn man den Flurboden mit einem grauen Lappen wischt) und mache mich bereit für die nächste Tagesaufgabe: Das wilde Tier ausführen.
Ich suche Frau Strokötter und lasse mich in die Kunst, einen Hund auszuführen, einweisen.
„Leine“, sie drückt mir eine Lederleine in die Hand. „Halsband ist am Hund. Leine fest. Losgehen. Erst zurückkommen, wenn er sich entleert hat.“
„Gibt es denn nichts zu beachten?“, frage ich argwöhnisch und Frau Strokötter guckt mich an, als hätte ich sie gefragt, ob es ein Problem wäre, wenn ich schnell mal zum Mond fliege.
„Verlier ihn nicht. Wenn du jemanden triffst, sag ‚Moin‘, das ist hier üblich“, sagt sie, weil sie wohl merkt, dass ich irgendwas erwarte.
„Ach“, ihr scheint tatsächlich noch was eingefallen zu sein. „Am Strand kannst du ihn losmachen. Aber da darfst du nur außerhalb der Saison hin. Sonst jaulen die Gäste. In der Saison sind Hunde dort verboten. Tschüss.“
Und schon stehe ich auf dem alten Kopfsteinpflaster im Hof und schlage mir den Kragen meines dünnen Mantels hoch. Wir laufen los. Herr Schröder kennt sich aus und zeigt mir den Weg. Zum Glück habe ich die Leine, an der ich mich festhalten kann. Wir laufen die Dorfstraße entlang, die mit Sonne und Temperaturen ÜBER dem Gefrierpunkt und ohne den Regen, der mir in den Kragen kriecht, geradezu idyllisch wäre. Links und rechts ist sie von alten Hofeinfahrten gesäumt, vor denen jeweils ein alter Baum seine kahlen Äste in den tiefgrauen Himmel streckt. Hinter fast jeder Hofeinfahrt wohnt ein Hund. Einige von ihnen rasen zum Zaun und bellen so sehr, dass kleine Speicheltropfen sich zum Regen gesellen. Ich habe Angst. Herr Schröder nicht. Herr Schröder ist total cool. Unemotional. Lässig. Zwischendurch schnüffelt er an Laternenpfählen und gibt sich dann kurz wichtigen Markierungsarbeiten hin. Ich folge der Straße, mache immer wieder entsetzte Hüpfer, wenn einer der Hofhunde Anstalten macht, mich hinter den geschlossenen Hoftoren anzubrüllen, und friere wie ein Schneider. Ich war selten so unpassend gekleidet. Auch in Paris war es im Winter kalt. Aber da kam der Regen nicht aus allen Richtungen. Er kam von oben, womit ein Regenschirm hervorragende Dienste geleistet hat. Hier kriecht mir der Regen sogar in die einzigen Winterstiefel, die ich besitze.
Die Melancholie, die schon seit meinem ersten Augenaufschlag versucht, sich meiner zu bemächtigen, zupft an meinen Synapsen. Durch die Kälte sind meine Barrieren offenbar ein wenig brüchig geworden.
Aus dem Augenwinkel registriere ich in einer Nebenstraße einen verlassenen Spielplatz. Eine Schaukel, ein Klettergerüst und ein schlammiger Sandkasten. Mehr nicht, aber mehr ist auch nicht nötig, um mich emotional in den Urschlamm der Traurigkeit zu katapultieren. Dass sich eine Träne meinem Augenwinkel entwindet und meine Wange hinunterrollt, fällt ja nicht auf. Es ist eh alles nass.
Herr Schröder zeigt sich vom still weinenden und vor Kälte zitternden Elend am Ende seiner Leine unbeeindruckt. Er bringt mich zum kleinen Hafen im Ort. Hier liegen nur drei Boote, eines davon ist ein richtig großer, bauchiger Kahn mit riesigen Masten. Ein Blickfang, das Schiff ist nämlich kirschrot. Herr Schröder hat mich aber nicht hierher gebracht, weil er Schiffe so mag, sondern weil es offenbar gut riecht. Er senkt die Nase und schnüffelt strategisch und selbstvergessen den gesamten Boden vor der Hafenkante ab. Zwangsläufig folge ich ihm auf seinem Zickzackkurs. Um nichts in der Welt würde ich diese Leine loslassen. Herr Schröder passt schließlich auf mich auf. Zumindest bilde ich mir das ein und ich bin gut darin, mir Dinge einzubilden.
„Wie rennen Sie denn hier bei diesem Wetter rum?“
Ich reiße den Kopf hoch und entdecke einen Mann auf dem roten Schiff. Er ist komplett in eine schwarze Regenjacke einschließlich Kapuze gehüllt. Das nenne ich mal angemessene Kleidung.
„Moin!“, sage ich, wie mir aufgetragen wurde und muss mir dabei Mühe geben, die Traurigkeit herunterzuschlucken. „Ich wusste nicht, dass der Regen hier von allen Seiten angreift.“ Ich betrachte den Mann genauer. Er kommt mir bekannt vor, auch wenn ich gerade nicht so viel von ihm sehe.
„Konnte Hiltrud Ihnen keine Regenjacke leihen?“, fragt er und jetzt erkenne ich ihn. Der sägende Bär von heute früh. Mit den grauen Augen.
„Offenbar nicht.“ Ich schüttle den Kopf. „Sie sind der einzige Einwohner in diesem Ort, außer Hiltrud. Sie treffe ich jetzt schon zum dritten Mal“, stelle ich fest. „Gibt es noch andere Menschen?“
Ich staune über mich selber. Das ist sonst nicht meine Art. Ich bin definitiv die Frau, die ohne viele Worte auskommt. Dafür kann ich die wenigen, die ich häufig nutze, dann aber auch in vielen Sprachen.
„Klein Wöhrde ist, wie der Name schon sagt, klein. Mehr Menschen treffen Sie hier zur Hauptsaison. Dann so viele, dass es nervt.“
„Ah“, bemühe ich mein heutiges Lieblingswort, falle damit wieder in eine gewisse Wortlosigkeit und kann dabei nicht verhindern, dass ich mit den Zähnen klappere.
Mein Gegenüber zieht plötzlich den Reißverschluss seiner Jacke auf, balanciert äußerst geschickt den kleinen Steg bis zu mir, zieht seine Jacke aus und drückt sie mir in die Hand.
„Bin im Maschinenraum. Da brauche ich keine Jacke. Können Sie mir ja die Tage wiederbringen.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und geht wieder auf das Schiff. Piet Johanson hat mir gerade seine Jacke geliehen. Ich glaube, mir hat noch nie ein Mann seine Jacke geliehen.