I ch ziehe den Reißverschluss der gelben Hässlichkeit bis knapp unter meine Nase, setze die Kapuze auf, mit der ich sicherlich Ähnlichkeit mit einem Jedi-Ritter in klein, mickrig und gelb habe, schnappe mir die geliehene Jacke von Piet Johanson und verlasse das Haus. Wenn es nix zu tun gibt, kann ich auch gleich die Jacke zurückbringen. Ich folge dem gleichen Weg wie am Vormittag und stehe schließlich wieder vor dem kirschroten Kutter.
Der Regen tropft von meiner Kapuze herunter und behindert meine Sicht. Gibt es Klingeln an Schiffen? Vermutlich nicht. Ich versuche es mit rufen.
„Hallo?“ Der Regen scheint meine Worte zu verschlucken und so mache ich mich vorsichtig daran, die kleine Rampe zum Schiff hochzuklettern. Zwischen dem Schiff und der Hafenmauer sind es locker zwei Meter und ich gehe ganz langsam und vorsichtig, mit ausgestreckten Armen. Vermutlich ist das hier das Gefährlichste, was ich in den vergangenen sieben Jahren getan habe, aber ich überlebe und stehe kurz darauf auf dem schmalen Durchgang zwischen Reling und Aufbau.
„Hallo!“, rufe ich noch einmal, diesmal energischer und etwas im Schiff rumpelt.
Dann poltert es und jemand ruft zurück: „Was?“
„Ich bringe Ihre Jacke zurück!“, rufe ich so laut, wie ich kann. Ich gebe zu, dass es nicht allzu auffällig ist. Laut rufen war noch nie meine Paradedisziplin.
Wieder rumpelt es und dann taucht Piet Johanson auf und guckt um die Ecke. Seine Augen sind so grau wie die Nordsee.
„Sie schon wieder“, sagt er, klingt allerdings nicht so abweisend, wie die Worte es ohne das einseitige Grinsen hätten sein können.
Ich halte ihm seine Jacke hin. „Vielen Dank, das war sehr hilfreich. Ohne die Jacke wäre ich sicherlich zwischenzeitlich erfroren. Nun habe ich dieses gelbe Ungetüm, das allerdings auch sehr hilfreich ist“, sage ich und bewundere mich kurz selbst für die vielen Worte, die ich flüssig aneinanderreihe.
„Wollen Sie reinkommen?“, fragt er und macht eine einladende Bewegung mit dem Arm. Er ist dreckig. Überall. Und er riecht durchdringend nach Maschinenöl. Zumindest nehme ich an, dass Maschinenöl so riechen würde, wenn es welches ist. Würzig.
Ich trete in den kleinen Raum mit den vielen Fenstern und sehe mich um. „Ist das Ihr Schiff?“
Er wischt sich gerade die Hände an einem alten Lappen ab, der ebenso dreckig wie seine Hände ist, und nickt. „Hab ich von meinem Vater geerbt. Fährt nur gerade nicht.“
„Wie heißt es?“
„Sie“, sagt er.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Sie?“
„Schiffe sind weiblich. Heißen tut sie X9765“, erklärt er mir. „Oder auch Dreckschleuder, die nicht fährt.“
Wie romantisch, denke ich. Und dann scheinen unsere Gesprächsthemen aufgebraucht zu sein. Ich brauche sieben Herzschläge lang, bis ich endlich den Mund aufklappe, um zu sagen, dass ich dann jetzt mal wieder gehe, aber er kommt mir zuvor.
Er fragt nämlich: „Wollen Sie einen Espresso?“
„Espresso?“, frage ich zurück. Ich hatte mit vielem gerechnet, nur damit nicht. Frau Strokötters Kaffeemaschine zieht Nebenluft und röchelt wie ein herzkranker Patient, der die Zugspitze erklimmt. Sie kocht keinen Kaffee, sondern Teer. Ich gebe zu, heute schon mehrmals von einem guten Espresso geträumt zu haben.
„Hiltruds Kaffeemaschine hätte schon vor Jahren in den Ruhestand geschickt werden sollen.“ Offenbar ist er in der Lage, mir meine Gedankengänge am Gesicht abzulesen. „Sie hängt an all dem alten Plunder. Aber ich habe Espresso. Jepp.“
Er öffnet einen eingebauten Schrank hinter sich und offenbart mir eine rote Nespresso-Maschine. Bunte Kapseln liegen kreuz und quer dahinter verstreut und er hält mir wortlos eine kleine Auswahl entgegen. Ich wähle eine schwarze Kapsel, hoffe, dass es sich bei der Wahl um das stärkste Gebräu handelt, zu dem die Maschine in der Lage ist, und freue mich. Als ich fünf Minuten später die kleine Tasse in den Händen halte und sogar auf dem Kapitänssitz Platz nehmen darf, bin ich durchaus aufgeheitert. Also nicht froh oder so was, aber doch für einen kleinen Moment zufrieden. Nicht so einsam. Und auch die Traurigkeit hat sich ein wenig zurückgezogen. Genüsslich rieche ich erst am Espresso und trinke dann den ersten Schluck. Die Schlussfolgerung schwarze Kapsel = heftiger Kaffee war richtig. Piet Johanson hat sich ebenfalls eine kleine Tasse gemacht und schwingt sich jetzt auf den Tresen neben dem Einbauschrank. Etwas, was ich dem großen Kerl nicht zugetraut hätte.
„Alte Liebe“, sagt er plötzlich und total unvermittelt.
Ich komme gedanklich nicht mit und artikuliere ein „Ah. Hä?“
„Das Schiff hat natürlich einen Namen. Und der lautet Alte Liebe .“
„Um Längen besser als ‚Dreckschleuder, die nicht fährt‘“, ist mein Kommentar dazu und er grinst.
Aber nur einen ganz kleinen Moment. Dann wird er wieder ernst. „Und? Wie ist Ihr erster Tag?“, fragt er schließlich und neigt den Kopf ein wenig zur Seite.
Sein Blick macht mich nervös und ich fühle mich unwohl, weil ich mich nicht erinnern kann, wann mich jemand mit so ernsthaftem Interesse betrachtet hat.
„Bisher sehr ...“, ich denke nach. „Entspannt“, versuche ich es dann. „Ich habe heute noch nicht so viel gearbeitet. Ich denke, sobald die Saison losgeht, wird sich das ändern.“
Seine Miene verdunkelt sich ein wenig. „Oh ja“, brummt er.
Offenbar sind Touristen nicht sein Lieblingsthema. Und dann schweigen wir. Ich sehe mich um, schließlich war ich bisher nur einmal auf einem Ruderboot. Das fast gekentert ist. Als ich fünf war und noch nicht schwimmen konnte.
Hinter mir ist das Steuer. Es ist aus glänzendem Holz und sieht alt und abgegriffen aus. Das ganze Schiff strahlt eine verwegene Verlebtheit aus, die mich irgendwie berührt. Und es riecht nach Meer, Salz und Fisch.
„Was machen Sie denn so?“, versuche ich den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
„Krabben fischen“, antwortet er und guckt jetzt so, als wäre das doch wirklich selbsterklärend. „Wenn der Motor wieder läuft. Bis dahin renoviere ich Hiltruds Fußboden“, fügt er hinzu. „Was hat Sie eigentlich ausgerechnet nach Klein Wöhrde verschlagen?“, fragt er mich im nächsten Moment und ich habe das Gefühl, dass seine grauen Augen es jetzt schaffen, mir bis zum Grund meiner Seele zu gucken.
„Ich wollte mal was anderes ausprobieren“, antworte ich ausweichend.
„Etwas anderes als das Leben in Paris?“ Irre ich mich oder schwingt in seiner Stimme ein leichter Zweifel mit? Vielleicht wurde meine Bewerbung im Ortsrat diskutiert? Vielleicht gab es auch eine Anzeige im örtlichen Käseblatt. Trotzdem nicke ich und entdecke im nächsten Moment etwas, was meine Aufmerksamkeit fesselt. Etwas sehr Ungewöhnliches.
Schnell sage ich: „Danke für den Espresso!“, rutsche vom Stuhl und reiche Piet Johanson meine Tasse, schaffe es, seinen Blick für eine Sekunde zu erwidern und gehe dann. Ohne in das Loch zwischen Schiff und Hafenmauer zu fallen.