Kapitel 12

S o kommt es, dass wir gemeinsam zum Hafen laufen. Herr Schröder freut sich, dass wir endlich rausgehen, Piet freut sich über sein Ersatzteil und ich freue mich einfach mal mit. Weil in meinem Leben so selten Dinge passieren, über die ich mich freuen kann. Piet erklärt mir genau, wo er nun umgehend dieses besondere Ersatzteil einbauen wird, und dass danach die Zeit auf dem Trockenen vorbei sein wird. Endlich kann er wieder aufs Meer. Nicht nur weil das Meer so schön ist, sondern weil er Geld verdienen muss. Und da er so gut drauf ist, zeigt er mir auch gleich noch, wo er wohnt. Eigentlich tut er das, weil er noch dringend ein Werkzeug holen muss, aber ich begleite ihn kurzerhand. Piet wohnt in einem alten Backsteinhaus direkt an dem kleinen Hafen. Das Haus ist akkurat renoviert und die dunkelgrün lackierte, zweiflüglige Eingangstür, die man über eine ausgetretene Steintreppe erreicht, erinnert mich an die großen Tore in Paris, hinter denen sich oft wahre Oasen von Gärten befunden haben.

Hinter dieser Tür tobt allerdings das Chaos. Herr Schröder bleibt sicherheitshalber vor der Eingangstür stehen und weigert sich das Haus zu betreten, deswegen knote ich seine Leine an den Lauf der Treppe. Er hatte offenbar Gründe. Die sich mir erschließen, als ich im Flur stehe und leicht irritiert auf die vielen tollen Kunstwerke aus Fotos, Schuhen, Zeitungen, Büchern und anderen Dingen starre, die im Flur herumliegen. Auf den Fensterbänken stapeln sich Pinsel und Farbtöpfe.

„Oh“, sagt Piet und bleibt ebenfalls im Flur stehen. „Das sieht hier nicht immer so aus“, murmelt er und runzelt die Stirn. „Aber doch leider die meiste Zeit. Ich lebe mit zwei wahnwitzigen Chaoten zusammen.“ Sein Blick verdüstert sich kurz. „Ach nee, ist ja nur noch einer von beiden da. Einer zieht es ja vor, in einer Pension zu logieren.“

„Mit wem wohnst du hier?“, frage ich entgeistert.

„Lasse und früher auch Tjark.“

„Ah“, sage ich, als ob alleine diese Tatsache dieses Chaos ausreichend erklären würde.

Mit dem Fuß schiebt er zwei Chaoshaufen zusammen und dann unter eine alte Bank, die wohl im aufgeräumten Zustand eine Sitzgelegenheit zum Schuheanziehen bietet. Aktuell türmen sich auf ihr unzählige Schwarz-Weiß-Fotos. Und eine Gitarre. Und zwei Laptops. Und eine Kamera. Und etwas, von dem ich nicht weiß, ob es in dieser Welt einen Namen dafür gibt. Vielleicht auch ein Ersatzteil. Für einen Dinosaurier.

„Wäre das Haus nicht in diesem Zustand, würde ich dir einen Kaffee anbieten“, sagt er entschuldigend.

Ich schüttle nur den Kopf. Und würde gleichzeitig gerne fragen, warum er mit seinen Brüdern in diesem klitzekleinen Ort lebt. Warum sind die nicht alle verheiratet und haben eine Familie? Hat man das in dem Alter nicht im Allgemeinen? Also alle außer mir. Dieser eine kleine Gedanke reicht aus, um die lähmende Kälte der Traurigkeit an mir hochkriechen zu fühlen, zumal ich plötzlich das Bild in meiner Hosentasche als schweres Gewicht zu spüren scheine, aber ich reiße mich zusammen. Wenn ich mich so zusammenreiße, bin ich leider gesellschaftsunfähig. Meine Energie reicht dann nur für das Zusammenreißen, nicht mehr für anstrengenden Small Talk.

„Ich geh dann mal“, verkünde ich deshalb.

Piet hebt den Blick von einer geöffneten, alten Truhe, in der er herumgewühlt hat. Er zieht ganz leicht die Augenbrauen zusammen, aber wenn ihn mein spontaner Rückzug verwundert, lässt er es sich nicht anmerken.

„Wir sehen uns“, sagt er nur und ich gehe zu Herrn Schröder, der während meiner Abwesenheit den Hafen überwacht hat.

Wir laufen ein wenig durch den Ort, was ja schnell erledigt ist, und dann bringt Herr Schröder mich zum Strand. Da er ja nun doch ein großer Kerl ist, der mich zur Not mit dem linken Nasenloch umpusten könnte, widersetze ich mich nicht, sondern folge ihm durch den unbefestigten Weg mitten durch die Dünen. Außerdem habe ich zwar in den vergangenen 48 Stunden mehr Menschen kennengelernt als sonst in einem Jahr, das Meer jedoch habe ich bis jetzt noch nicht gesehen, wenn man von meiner Stippvisite im Hafen absieht.

Das gelingt mir leider auch jetzt nicht, denn das Meer ist nicht da. Es ist weg. Da, wo große Wellen mit weißer Gischt sich am Strand brechen sollten, ist nur gähnende Leere. Und Schlamm. Und eine Frau mit Hund. Die plötzlich wie wild winkt und ruft. Ich verstehe leider nicht, was sie da ruft, aber sie scheint sehr aufgeregt zu sein. Unschlüssig bleibe ich stehen. Herr Schröder hingegen ist plötzlich sehr energisch und zieht an der Leine. Ich stemme mich dagegen und werde von ihm ein paar Meter weiter mitgezogen, ohne dass ich auch nur im Ansatz etwas dagegen tun könnte. Der Kerl ist so unglaublich stark.

„Hör auf!“, rufe ich gegen den Wind und liege im nächsten Moment im Sand. Mit dem Gesicht voran. Woraufhin ich gefühlt den kompletten Strand im Mund habe. Keuchend und hustend rapple ich mich auf die Knie hoch. Herr Schröder ist weg. Samt Leine rennt er einem anderen Hund hinterher, der, während er offensichtlich um sein Leben rennt, bellt wie eine durchgeknallte Furie. Beeindruckend. Bellen und rennen. Ich wische mir über die Augen und reibe mir noch mehr Sand hinein.

„Hier“, ein Taschentuch schwebt in dem kleinen Ausschnitt, den ich noch sehe. „Versuchen Sie ohne Druck nach innen zu reiben. Aber nicht zu dolle. Sand ist scharfkantig.“

„Danke“, schniefe ich und nehme das Taschentuch entgegen. Die Frau, die vorhin so gewunken und gerufen hat, muss in Blitzgeschwindigkeit zu mir gerannt sein, nachdem ich mich formvollendet auf die Klappe gepackt habe.

„Ich sammle die Hunde ein“, sagt sie und eilt im Affentempo von dannen.

Und dann sammelt sie die Hunde ein. Indem sie sie anschnauzt, dass der Strand bebt und ihnen dann, nachdem sie brav zu ihr gelaufen sind, die Ohren krault.

Mit den beiden im Schlepptau kommt sie wieder zu mir. Sie bewegt sich auf dem Sand wie eine Elfe. Ich bin fasziniert. Sie sieht auch aus wie eine Elfe, ist klein und zart und trägt passenderweise auch noch eine rosafarbene Strickmütze, unter der goldene Locken hervorquellen.

„Tut mir leid“, sagt sie und ist dabei noch nicht einmal außer Atem, dabei hat sie gerade im Laufschritt den gesamten Strand überquert. „Ich habe Balu so schnell nicht an die Leine bekommen. Die beiden vertragen sich eigentlich gut, nur wenn einer von ihnen an der Leine ist, wird es schwierig. Deshalb habe ich gerufen, dass Sie Herrn Schröder ableinen sollen. Haben Sie wohl nicht gehört.“

„Ne“, bestätige ich.

„Melanie Ehrenberg.“ Sie streckt mir ihre Hand entgegen und ich ergreife sie. Energisch zieht sie mich auf die Füße.

„Bernadette Meyer“, sage ich.

„Sie sind neu in Hiltruds Pension, richtig? Stimmt es, dass Sie aus Paris kommen? Und dort in einem richtig schnieken Hotel gearbeitet haben? Fällt Ihnen auf, dass ich fürchterlich viel spreche? Das liegt daran, dass man hier in der Nebensaison kaum ein neues Gesicht trifft und ich sehr froh bin, dass hier auch endlich mal jemand aus einer Weltmetropole einfällt. Wollen Sie eine heiße Schokolade?“

„Äh“, antworte ich. „Dreimal ja!“

Melanie Ehrenberg klemmt mich, samt Schröder, förmlich unter den Arm und bugsiert uns nur wenige Meter weiter zu einem Campingplatz. Mir war nicht klar, dass Menschen auch den Winter über auf Campingplätzen campen, aber ich entdecke, dass Melanie bei Weitem nicht die Einzige ist. Sie schließt einen alten, gelb lackierten Wohnwagen ohne Räder auf und bittet mich hinein. Dann greift sie sich ein Handtuch und macht die Hunde sauber. Herrn Schröder gleich mit. Der findet das so prima, dass er seinen großen Körper dicht an den der kleinen, quirligen Melanie drängt. Offenbar mag er nicht nur mich.