Kapitel 17

„I st Ihr Haus kindersicher?“ Der Mann guckt Hiltrud und mich sehr streng an. Auf seinem Arm liegt ein klitzekleines Baby und ein kleines Mädchen steht in rosafarbenen Gummistiefeln neben ihm.

„Na, die zwei haben es zumindest schon mal reingeschafft“, sagt meine Chefin auf die Kinder deutend, ist damit aber leider massiv geschäftsschädigend und ich muss sie ein wenig zur Seite drängeln, um weiteren Schaden abzuwenden.

Herr Holdengris hat online gebucht und uns leider nicht mitgeteilt, dass er samt Nachwuchs anreisen wird. Da unsere Gäste üblicherweise knapp über sechzig sind, haben wir zwar immer ein paar Kukident-Packungen in der Schublade, aber ansonsten sind wir das Gegenteil von kindersicher.

„Oh, ist sie süß!“, sage ich erst mal und deute auf das Baby. Dabei finde ich das gar nicht süß. Mir rumpelt es gerade im Magen. Oder am Herzen. Beide Organe liegen ja dicht beieinander, da kann man das nicht so genau sagen. Aber irgendwie muss ich Hiltruds Worte entschärfen. „Sie haben ja Ihre Kinder bei der Buchung gar nicht erwähnt!“

Herr Holdengris runzelt die Stirn und wirft seiner Frau, die gerade in diesem Moment in den Flur gestürmt kommt, einen fragenden Blick zu. Die zuckt jedoch nur mit den Schultern.

„Möglich ist alles“, sagt sie lapidar und winkt ab. „Ich schlafe zurzeit zu wenig, deswegen gleicht mein Hirn einem Sieb. Kann sein, dass ich das vergessen habe. Wir sind auf einer Familienfeier in Groß Wöhrde eingeladen, aber da muss man ja bei einem Zimmer für drei Nächte einen Kredit aufnehmen.“

Ah. Okay. Weil sie Schlafmangel hat, bin ich nicht vorbereitet. Ich zaubere trotzdem ein professionelles Lächeln in mein Gesicht und frage: „Was brauchen Sie denn?“

Ich meine zwar, das zu wissen, schließlich habe ich mich schon einmal mit dieser Thematik befasst, aber sicher ist sicher.

„Einen Kinderhochstuhl. Und ein Babybettchen. Und einen Flaschenwärmer. Und einen Wasserkocher.“

Sie hat dunkle Ringe unter den Augen und nur, weil das Baby im nächsten Moment bitterlich zu weinen anfängt, nicke ich schlicht und schlucke einen ärgerlichen Kommentar herunter. Wo soll ich das denn bitte auf die Schnelle herzaubern? Beide Elternteile fangen ebenso kommentarlos an, in ihren Taschen zu wühlen und da passiert es. Herr Holdengris drückt mir das Baby in den Arm. Einfach so. Weil er und seine Frau offenbar etwas suchen, um das Geschrei abzustellen. Erst halte ich das brüllende Bündel etwas entfernt von mir, dann aber lege ich es mir in der Armbeuge zurecht und fange an, lallende Geräusche von mir zu geben. Das Baby mag das. Es hört auf zu schreien. Ich mag das nicht. Tränen schießen mir in die Augen und ich spüre das Bild in meiner linken Hosentasche wie ein kleines Bleigewicht an mir ziehen.

„Sie hat aufgehört!“, sagt der Vater und taucht mit einer silbernen Thermoskanne wieder auf.

„Das ist beeindruckend!“ Seine Frau erscheint neben ihm und hält eine mit weißem Pulver gefüllte Babyflasche in den Händen.

Ich möchte rufen: „Nehmen Sie das Baby, schnell!“, stattdessen mache ich den Fehler, mich ein wenig nach vorne zu beugen und tief einzuatmen. Das Kind in meinen Armen duftet so wohlig warm und mein Herz bricht entzwei.

Ich drücke der Mutter das Baby in den Arm, halte dem Vater den Zimmerschlüssel entgegen und sage mit zittriger Stimme: „Ich kümmere mich um alles!“, und dann fliehe ich.

Quer durch den am Morgen einsetzenden Regen, ohne Jacke, ohne Hund und ohne einen Plan. Also keinen bewussten, mein Unterbewusstsein hat sehr wohl einen Plan, es führt mich nämlich schnurstracks zum Hafen und zur Alten Liebe .

„Piet?“, rufe ich und stehe vor dem schmalen Steg. „Piet?“

Himmel, was tue ich hier eigentlich? Als Piet aber zwei Sekunden später um die Ecke schaut, weiß ich genau, was ich hier tue.

„Kann ich kurz hier sein?“, frage ich und sehe das Erstaunen in Piets Gesicht. Aber er sagt nichts, nickt nur und hält mir einladend eine Hand entgegen, damit ich nicht beim Queren der gefährlichen Passage ins Wasser falle.

„Was ist passiert?“, fragt er, kaum dass ich den Schiffsboden unter den Füßen habe, und hält meine Hand dabei immer noch fest.

Ich möchte das Bild aus meiner Hosentasche zerren und es ihm vor die Nase halten. Und dann möchte ich ihm alles erzählen. Wie dumm ich war. Aber ich bringe keinen Ton raus, weil ich noch nie jemandem davon erzählt habe. Ich mache den Mund auf, aber heraus kommt nur so ein trockenes Gurgeln, das Piet kurzerhand mal komplett übergeht.

„Ich bin im Maschinenraum. Komm einfach mit. Da ist es warm und du kannst trocknen.“

Ich nicke und er führt mich die schmale Treppe zum Diesel-Herz der Alten Liebe hinunter. Dort setze ich mich in die Ecke, bekomme einen heißen Tee und sehe Piet zu, der mal wieder am alten Motor der Lady rumschraubt. Langsam geht es mir besser. Ich bekomme wieder Luft und mir wird immer klarer, dass ich so nicht weitermachen kann. Es ist keine Option, beim Anblick von kleinen Kindern komplett durchzudrehen. Es ist keine Option, zu Piet zu fliehen, um mich vor der Welt zu verstecken. Und es ist keine Option, dass Piet nicht weiß, wie sehr ich ihn eigentlich mag. Ich öffne den Mund, kann aber immer noch nichts sagen. Was soll ich denn auch bitte von mir geben? Wenn ich doch nur ein wenig mutiger wäre. Aber das bin ich nicht. Ich bin feige. Ohne Ende. Es ist fürchterlich. Genauso wie die Erkenntnis, dass man allen Schmerz immer mitnimmt. Man hat ihn ständig im Gepäck, ob man nun in Paris, Kalkutta oder Klein Wöhrde ist.

Dafür bringe ich ein paar Minuten später heraus: „Kennst du jemanden, der mir einen Kinderstuhl leiht? Und ein Babybett? Und einen Flaschenwärmer?“

Piet hält nicht inne, bei dem was er tut, sondern sagt: „Die Müllers müssten da noch einiges an Ausstattung haben. Der Kleinste ist gerade in die Schule gekommen. Wollen wir bei denen kurz vorbeigehen und sie fragen?“

Dankbar nicke ich. Und nehme mir fest vor, so bald wie möglich Tacheles zu reden.