Kapitel 18

D ie Anwesenheit des Babys hat meine sonst so festgezurrte Maske gelockert. Ich muss zwischendurch immer mal wieder tief durchatmen, damit niemand merkt, dass in mir das völlige Chaos ausgebrochen ist. Es reicht offenbar nicht, alles hinter sich zu lassen und einfach an einen neuen Ort zu ziehen. Was man in sich hat, nimmt man mit und das kriecht irgendwann wieder an die Oberfläche.

* * *

Wenigstens gibt es in der Pension extrem viel zu tun und so nehme ich mir einfach vor, von 24 verfügbaren Stunden mindestens 18 Stunden lang beschäftigt zu sein. Heute hänge ich noch schnell neue Vorhänge auf. Es sind ganz schlichte, blau-weiß gestreifte Stoffe, die eine Nachbarin so mit ihrer Nähmaschine bearbeitet hat, dass sie jetzt weich fallen und vor die Fenster in den Gästezimmern passen. Also streune ich mit einer Leiter bewaffnet und einem großen Wäschekorb im Schlepptau durch alle Zimmer und hänge sie auf.

Was nicht so einfach ist, weil ich mich nur auf die erste Stufe der Leiter traue und man kleine Plastikteile in noch viel kleinere Plastikteile fädeln muss. Das System erschließt sich mir auch nach dem fünften Zimmer nicht wirklich, dafür beulen sich meine Hosentaschen, weil ich alle überschüssigen Plastikteile kurzerhand da reinstecke.

Aber das Endresultat, nachdem ich an einigen Stellen mit doppelseitigem Klebeband nachgeholfen habe, kann sich sehen lassen. In einem großen Teil der Zimmer liegt schon der neue Fußboden, der farblich wunderbar mit den maritimen Vorhängen harmoniert. Kaum hängen die Vorhänge, mache ich mich daran, im Frühstücksraum die Fenster zu putzen.

Jetzt in der Hauptsaison hat Hiltrud noch eine Frau aus dem Nachbarort eingestellt, die uns beim Putzen hilft und ohne die wir zurzeit nicht mal mehr zum Duschen kommen würden.

Ich hantiere auf der ersten Stufe der Leiter stehend mit Eimer und Lappen herum. Es wäre spätestens jetzt sehr hilfreich, auch die zweite Stufe betreten zu können, aber dann bekomme ich Schweißausbrüche und Schnappatmung. Ich bin so mit meiner Höhenangst und den dreckigen Fenstern beschäftigt, dass ich erst nach dem dritten Fenster bemerke, dass mich jemand beobachtet.

Tjark steht im Durchgang zur Küche und sieht mir zu. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass Tjark erst guckt und dann redet. Er gehört auch immer noch unter die Top Ten der sonderbarsten Menschen, die ich bisher kennengelernt habe. Gestern Abend haben wir uns durch Zufall am Strand getroffen. Er hat fotografiert, ich habe mit Herrn Schröder gespielt. Abends ist es herrlich leer und bis jetzt hat sich niemand über den Hund beschwert. Wir haben keine fünf Worte gewechselt und trotzdem waren wir immer in der Nähe des jeweils anderen.

Ich weiß, dass er mich und den Hund ein paar Mal im Visier der Kamera hatte. Als ich jetzt die mächtige erste Stufe der Leiter herunterklettere, entdecke ich ein paar Fotos in seiner Hand. Er hält sie mir entgegen, ich blättere sie durch und spüre mein Herz klopfen. Er hat Herrn Schröder fantastisch eingefangen. Der Hund blickt mit schräg gelegtem Kopf in die Kamera und scheint breit zu grinsen. Dieses Bild ist nicht dunkel belichtet oder in Schwarz-Weiß wie sonst alle Bilder von Tjark. Aber das wunderschöne Hundefoto in Farbe ist es auch nicht, was mich so bewegt. Es ist ein einzelnes Bild, auf dem er mich im Profil erwischt hat. Ich schaue auf das Meer, den Kopf leicht nach rechts geneigt, Herrn Schröders großes Gesicht direkt neben meinem, während ich ihm einen Arm um den Körper gelegt habe. Auf diesem Foto sehe ich nicht aus wie ich. Oder vielleicht doch? Ich sehe ernst und traurig aus, als würde die Last der Welt auf meinen Schultern liegen. Und als säße neben mir ein echter Freund.

Es gibt also noch jemanden, der mich durchschaut hat. Dass es ausgerechnet Tjark sein könnte, hatte ich nicht erwartet.

„Das ist ein schönes Bild von dir“, sagt er leise.

„Sehe ich so aus?“, frage ich zurück.

Er zuckt nur die Schultern. „Fotos sind nur Ausschnitte. Kleine, eingefrorene Momente des Lebens. Sie sind nie das, was uns ausmacht. Aber ja, wenn du mich so fragst, so siehst du aus.“ Das waren die meisten Worte, die Tjark je mit mir gesprochen hat. Und er ist noch nicht fertig. „Wir grillen heute Abend um acht. Piet möchte, dass du kommst.“

Und mit diesen Worten geht er. Ohne die Fotos wieder mitzunehmen. Ich lege sie umgedreht auf einen der Tische und versuche genug Energie zusammenzukratzen, um wieder auf die Leiter zu steigen. Nach ein paar Minuten gebe ich es auf, räume alles weg, mache mir einen Kaffee und gehe in meine Kemenate. Ich muss nachdenken.

* * *

Während ich das tue, aus dem Fenster sehe und meinen Kaffee trinke, überfällt mich wieder die mir wohlbekannte Traurigkeit. Sie begleitet mich schon, solange ich denken kann, aber seit einem Jahr hat ihre Anwesenheit in meinem Leben überproportional zugenommen. Als Kind muss ich glücklich gewesen sein. Das sind Kinder doch eigentlich, oder? Ich gehe einfach mal davon aus, denn meine Kindheit ist nur noch schemenhaft in meinem Kopf und überlagert von meinem Prozess, ein erwachsener Mensch zu werden. Der begann mit zehn, als meine Mutter bei einem Autounfall starb und mein Vater aufhörte, sich für mich und die Welt zu interessieren. Er hat mir zwar beigebracht, wie man Lampen anschließt, aber nicht, wie man mit solch einem Verlust umgeht. Vielleicht hätte mir dieses Wissen in Paris geholfen. Seufzend krame ich in meiner Nachttischschublade nach etwas Schokolade, als es klopft. Zaghaft und leise. Ich öffne die Tür und davor steht meine Chefin, die mit zaghaft und leise ja nun mal gar nichts am Hut hat. Das macht mich stutzig.

„Ich mache nur eine ganz kurze Pause“, sage ich schnell.

Nun hat Hiltrud zwar auch überhaupt nichts mit Madame Pousser gemein, aber sicher ist sicher, doch Hiltrud guckt ganz besorgt und winkt ab. Und dann, mit einer ruckartigen Bewegung, als hätte sie sich selber dazu überreden müssen, hält sie mir etwas unter die Nase. Ich erkenne es in derselben Sekunde und mir schießt das Blut ins Gesicht. Und mein Magen sackt mal komplett bis zu den Fußsohlen durch. Es macht zwar wenig Sinn, trotzdem greife ich sofort in meine linke Hosentasche, finde dort aber nur die ganzen Plastikteile der Gardinen. Ich habe bei der Gardinen-Aktion mein Bild verloren. Mein sorgsam in einer Plastikhülle aufbewahrtes Bild.

„Wo ist das Kind?“, fragt Hiltrud tonlos, nimmt gleichzeitig mit zittrigen Fingern das Bild aus der Hülle, streicht es sorgsam glatt und betrachtet es.

Oben links steht mein Name. Es ist also offensichtlich, dass der kleine Mensch, der darauf aussieht wie ein winziger Alien, in mir war.

„Tot zur Welt gekommen. In der 20. Woche“, flüstere ich und fange an zu weinen. Zusammen mit Hiltrud.