V or der verschlossenen Toilettentür rumpelt es und ich höre Stimmen. Ich muss dringend damit fertig werden, mich selbst im Spiegel zu betrachten und sonderbaren Gedanken nachzuhängen. Also trockne ich mir die Hände ab, klopfe mir mit den Fingerspitzen auf die Wangen, um ein wenig Farbe in mein blasses Gesicht zu zaubern, und verlasse schließlich das kleine Badezimmer.
Piet steht im Flur und hat sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt.
„Alles klar?“, fragt er.
Offenbar hat er auf mich gewartet. Ich fahre mir noch einmal durch die Haare und nicke.
„Ich mag das“, sagt Piet und deutet auf mein wirres Haupthaar. „Wenn du sie offen trägst.“
Er schiebt ein schiefes Grinsen hinterher und ich stelle mir die Frage, ob Piet mich auch ein wenig mehr mag. Denn meine Haare sind eigentlich ein eher abschreckendes Element und wenn man die mag ...
„Sie sind immer so verwirrt“, sage ich und fahre mir noch einmal glättend über den Kopf.
„Das steht dir. Mit dem Zopf wirkst du so brav. Kommst du wieder mit raus?“
Er hat auf mich gewartet, damit ich nicht klammheimlich verschwinde. Das ist wirklich nett. Ich habe nämlich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, einfach zu gehen. Der Tag war außerordentlich anstrengend und das nicht, weil ich so viele Gardinen aufgehängt habe. Piet dreht sich zur Seite und bietet mir seinen Arm. Ohne groß darüber nachzudenken, hake ich mich bei ihm ein und wir wandern zurück in den Garten, was natürlich dazu führt, dass zwar alle vordergründig ihre Gespräche weiterführen, uns aber heimlich anstarren. Der Krabbenfischer und das Pariser Zimmermädchen. Eine echte Schlagzeile wert. Talk of the town.
Er bringt mich zu meinem Platz, wartet, bis ich mich wieder neben Mechtild und Hiltrud gesetzt habe, legt eine Hand auf meine Schulter und fragt: „Darf ich dir noch was bringen?“
Formvollendet. Huldvoll nicke ich und bin ganz erstaunt von seiner Hand auf meiner Schulter. „Ein Bier.“
Und so bekomme ich ein Bier und schaffe es jetzt, mich langsam in der netten Runde ein wenig zu entspannen, zumal Lasse und Tjark verschwunden sind. Ich bin so lange entspannt, bis die Ersten gehen, es langsam dunkler wird und Lasse und Tjark wieder auftauchen und sich zu mir an den Tisch setzen.
Theoretisch könnte es jetzt sehr gemütlich sein, denn die vielen Lichterketten in den Bäumen und die hübschen Einmachgläser mit den dicken Kerzen darin kommen nun so richtig zur Geltung. Praktisch umklammere ich mein Bier fester und spüre den Blick der Brüder.
Zur Not kann man Flaschen ja auch werfen, denke ich mir und hebe endlich den Kopf.
Lasse beugt sich zu mir herüber und fragt leise: „Was wird das?“
„Was?“
„Mit meinem Bruder und dir?“, flüstert er.
Leider ist er ein sehr untalentierter Flüsterer, und dass ihn niemand hört, liegt nur daran, dass unser Tisch mittlerweile leer ist. Ich zucke die Schultern und spüre im selben Moment, wie meine Augen schlagartig überlaufen. Das Fass ist offenbar genau jetzt mehr als voll und ich sitze mitten am Tisch und fange an zu weinen. Ein völlig unvorhersehbares Ereignis. Und es ist mir so unangenehm, weil ich doch eigentlich nie weine. Früher zumindest.
„Argh!“, sagt Lasse und ich erkenne glasklar leichte Panik in seinen Augen.
Tjark hingegen bleibt kühl wie die Arktis im Winter, greift nach einer Serviette und reicht sie mir. Ihm hätte ich den korrekten Umgang mit weiblichen Tränen jetzt am wenigsten zugetraut.
„Danke“, schniefe ich und tupfe mit der Serviette ein wenig an meinen Augen herum, was nichts bringt, weil es gnadenlos weiterläuft. Lasse sieht aus, als ob er sich schon fluchtbereit macht. Offenbar hat er nicht mit so einer Reaktion gerechnet, nur Tjark scheint die Ruhe selbst zu sein.
„Ich weiß das auch nicht“, sage ich schließlich zu Lasse und schnäuze mich. „Heute ist kein guter Tag. Lass mich einfach in Ruhe, ja?“
„Ich habe doch nur gefragt“, setzt Lasse an, doch Tjark unterbricht ihn mit einer knappen Handbewegung.
„Piet ist schon einmal sehr verletzt worden. Für den Fall, dass du es nicht ernst mit ihm meinen solltest, wäre das der richtige Moment für einen Rückzug“, sagt er kalt.
„Es nicht ernst meinen?“, frage ich fassungslos. „Was glaubt ihr denn bitte, was wir bis jetzt getan haben? Nichts, kann ich dir versichern! Gar nichts! Ihr seid ja wohl total bekloppt.“
„Nein“, sagt Tjark ernst. „Also ich schon, aber Lasse nicht. Piet schon mal gar nicht. Er ist der Normalste von uns allen. Deswegen muss man aufpassen, dass er emotional nicht übers Ohr gehauen wird.“
Ich verstehe gerade nur Bahnhof. Bei Nacht. Glauben sie etwa ernsthaft, dass ich Piet verarschen würde? Was für eine Unverschämtheit. Schlagartig versiegen meine Tränen und mein Griff um die Bierflasche wird fester.
„Ich mache das jetzt noch einmal ganz deutlich: Wenn du auf den Gedanken kommen solltest, etwas mit unserem Bruder anzufangen, tu das nur, wenn du es ernst meinst“, sagt Lasse.
„Bitte?“, frage ich fassungslos. „Ist das nicht die allgemeine Grundvoraussetzung für alles, was man tut? Dass man es ernst meint?“
„Nein“, antworten Lasse und Tjark unisono und gucken mich mit ihren grauen Augen ernst an.
„Manch einer hat da andere Vorstellungen“, sagt Lasse. „Und vielleicht sieht er in dir etwas, was du gar nicht bist.“ Mir krampft sich bei seinen Worten der Magen zusammen. Hat er mir gerade mitgeteilt, dass ich nicht gut genug für seinen Bruder bin? Ich glaube ja.
„Das“, sage ich mit bebender Stimme, „geht euch alles einen Scheißdreck an!“
Ich straffe die Schultern, knalle mein Bier auf den Tisch, stehe auf und stapfe davon. Ins Haus, durch die Haustür, durch den Ort, in die Pension und auf direktem Wege ins Bett. Dort bebe ich noch eine ganze Weile vor mich hin und denke an das Ultraschallbild, Hiltruds Mann, meine Gefühle für Piet und die Wut seiner Brüder, weil er mich im Arm gehalten hat. Ganz besonders daran denke ich, denn das macht mich rasend. Tjark und Lasse halten mich für nicht gut genug.