Im Nachhinein war es ein Fehler, diesen Mann zu heiraten. Nicht dass er bösartig oder geizig wäre, aber eine Partnerschaft, die nur aus praktischen Gründen eingegangen wird, hat letztlich doch zu wenig mit Liebe zu tun. Außerdem brachte er einen kleinen Sohn mit in die Ehe, mit dem ich von Anfang an nicht zurechtkam.
Ich war alleinerziehende Mutter einer Tochter, er wiederum hatte seine Frau verloren und ein kleines Kind großzuziehen. Eine funktionierende Patchworkfamilie hat im Prinzip viel für sich. Mein Mann konnte nun unbesorgt zur Arbeit gehen, ich dagegen meinen verhassten Job als Souffleuse beim Stadttheater an den Nagel hängen, wo ich bei allen Proben und Aufführungen hatte präsent sein müssen. Mit den beiden Kindern, Haus und Garten hatte ich mehr als genug zu tun.
Seltsamerweise verstanden sich unsere Kinder auf Anhieb gut. Ja, mein Lenchen entwickelte mit seinen sieben Jahren geradezu mütterliche Gefühle für Timmi. Der Kleine bewunderte sie und nahm es sogar hin, dass sie ihn gelegentlich auslachte, weil er noch Windeln trug. Eigentlich hätte man erwarten müssen, dass Lene eifersüchtig würde, wenn der Kleine von seinem Vater in den Arm genommen und geherzt wurde, aber so war es nicht. Zwar kümmerte er sich aus purem Anstand gelegentlich auch um Lene, doch ganz ohne die bedingungslose Liebe, die er für seinen Sohn empfand. Ich konnte das kaum ertragen.
Jeden Abend saß dieser Mensch, der mir letztlich fremd geblieben ist, am Bettchen seines Sohnes und sang.
Abba Haidschi bumbaidschi schlaf lange,
Deine Mama ist ausgegange,
Sie ist ausgegange
Und kommt wieder heim,
Sie lässt ihren Timmi doch niemals allein …
Mit solchen gedankenlosen Versen nährte er die Hoffnung des Kindes, seine leibliche Mutter käme wie durch ein Wunder wieder zurück. Damit nahm er mir gänzlich die Chance, mit der Zeit an ihre Stelle zu treten.
Timm war ein verschlossener Junge. Er starrte mich mit seinen großen blauen Augen so ängstlich und vorwurfsvoll an, als sei ich die Hexe aus dem Märchen und für den Tod seiner Mutter verantwortlich. Meistens ignorierte er meine Fragen, zuckte nur weinerlich mit den Lippen und brachte keinen Ton heraus. Beim Essen brauchte er eine Ewigkeit, bis der Teller halbwegs leer war; mehr als einmal riss mir der Geduldsfaden. Dann schob ich ihm mit sanfter Gewalt das Fleisch in den Mund, das er stundenlang in den Backentaschen hamsterte. Manchmal konnte ich nur durch eine Ohrfeige erreichen, dass dieser Brocken endlich herunterrutschte. Obwohl ich also alles tat, um den Jungen vernünftig zu ernähren, blieb er klein und mickrig, bleich wie ein Albino, doch mit unnatürlich roten Lippen. Leider war er auch geistig zurückgeblieben und mit seinen vier Jahren auf dem Niveau eines Zweijährigen. Nur wenn er mit Lene spielte oder sein Vater heimkam, pflegte er ein wenig aufzutauen. Im Gegensatz zu meiner Tochter, die bei jeder Kleinigkeit in Tränen ausbrach, weinte Timmi fast nie. Selbst als er sich durch eine Ungeschicklichkeit meinerseits die Hand verbrühte, heulte nur Lenchen los. Ich hätte sie eher Heulsuse als Marlene taufen sollen.
Timm wurde von seinem Vater über die Maßen verwöhnt. Es leuchtet sicherlich ein, dass ich für einen Ausgleich sorgte und meine eigene Tochter bevorzugte. Die Kinder schienen dies als Selbstverständlichkeit hinzunehmen und beschwerten sich nie. Jeden Sonntag besuchte mein Mann das Grab seiner ersten Frau, wobei er Timm und Lene meistens mitnahm. Ein Zypressen-Wacholder war die einzige Zierde ihres Grabs. Timms Vater erzählte den Kindern, dass dieser Baum in einem Märchen vorkam und Machandelbaum genannt wurde. Lenchen behauptete, dass Timms verstorbene Mutter aus der Lüneburger Heide stammte und deswegen Wacholder liebte. Eine seltsame Vorstellung, statt an saftig frischem Grün an einem solch unscheinbaren, kratzigen Baum Gefallen zu finden.
Allein schon wegen ihrer abartigen Vorlieben musste diese Frau eine Spinnerin gewesen sein, wahrscheinlich kam der Junge ganz nach ihr. Um ehrlich zu sein, hasste ich sie ebenso wie ihr Kind, obwohl ich sie ja niemals kennengelernt hatte. In meiner Gegenwart sprachen mein Mann und sein Sohn nie über die Tote, aber man spürte, dass sie unentwegt an sie dachten. Der Geist dieser Spökenkiekerin waberte durch unser Haus und quälte mich. Hin und wieder zerbrach ich absichtlich einen Gegenstand aus ihrem Besitz, den sie wahrscheinlich schön gefunden hatte. Auf diese Weise entsorgte ich einige Gläser, Vasen und Tontöpfe, die auf ihren hausbackenen, altdeutschen Geschmack schließen ließen. Außerdem bohrte ich nach und nach immer mehr Mottenlöcher in die kitschig bestickten Kissen, bis mein Mann endlich auf die Idee kam, diese rieselnden Allergie- und Milbenschleudern höchstpersönlich in einen Rotkreuzcontainer zu werfen. Schwerer fiel es mir allerdings, die Katze loszuwerden. Fast schien es, als hätte sie mich durchschaut, denn sie ging mir aus dem Weg und ließ sich von mir nicht anfassen. Es war nicht ganz einfach, an Rattengift heranzukommen, doch es wirkte. Als Lene das tote Tier unter der Hecke fand, brach sie in ein theatralisches Lamento aus.
Timm blieb wie immer stumm, fixierte mich aber auf so penetrante Weise, dass ich es schließlich nicht mehr aushielt und ihn im Badezimmer einsperrte. Als mein Mann nach Hause kam, protestierte er scharf gegen diese Maßnahme. Ich hörte zu meinem Erstaunen, wie der sprachlose Timm anklagend sagte: »Papa! Mamas Katze ist tot.« Mich hatte das Kind nie mit Mutter, Mama oder Mutti angeredet.
Am nächsten Tag wurde Timm krank, mein Mann konnte ihn auf dem Weg zur Arbeit nicht wie gewohnt im Kindergarten absetzen. Der Junge habe erhöhte Temperatur und Halsschmerzen, behauptete er, vielleicht sei es ja die Schweinegrippe; ein fiebersenkendes Zäpfchen habe er ihm bereits verabreicht. Wahrscheinlich werde der Kleine nichts essen wollen, ich solle ihm aber Tee machen. Und ein Eis sei bei Halsweh auch nicht falsch, das rutsche immer hinunter. Das war wieder einmal typisch für die Ignoranz meines Mannes. Wo kämen wir hin, wenn man jedes verschnupfte Kind mit Eis füttern würde? Bauchweh und Durchfall wären die Folgen.
Gegen die eigene Überzeugung fragte ich Timm: »Möchtest du ein Eis?«, denn ich wollte meinem Mann keinen Anlass geben, mir wieder einmal Vorwürfe zu machen. Der Junge nickte matt, man hätte wirklich etwas mehr Dankbarkeit erwarten können. »Vanille oder Schokolade?«, fragte ich, doch er antwortete nicht. Dann solle sich das Herrchen gefälligst in den Keller bequemen und sein Eis selbst aussuchen, befand ich. In seinem ewig schmutzigen Schlafanzug und Lenes roten Pantoffeln schlurfte Timm hinter mir die Treppe hinunter.
Ich öffnete den schweren Deckel der Gefriertruhe, hob Timm ein Stückchen hoch und ließ ihn hineinschauen. Die Vorräte waren fast aufgebraucht, weshalb die Eispackungen tief unten lagerten. Zaghaft deutete er auf ein Cornetto-Hörnchen.
»Dann hol es dir«, sagte ich. Als der Junge während des Tauchgangs kopfüber in der Truhe hing, ließ ich seine Beinchen versehentlich los, und Timm purzelte hinein. Geistesgegenwärtig schlug ich den Deckel zu. Den Quälgeist bin ich für eine Weile los, dachte ich erleichtert, ging wieder nach oben und schaltete Bügeleisen und Fernseher ein. Die Zeit verging wie im Flug, weil ich ungestört meine spannende Daily Soap anschauen konnte. Draußen war ein heißer Tag, drinnen glühte das Bügeleisen, aber trotzdem fror ich.
Irgendwann war ich fertig mit der Arbeit und sah auf die Uhr. Sollte ich Timm jetzt wieder aus der Truhe befreien? Und wohin mit ihm, falls er erfroren war? Man durfte mir nicht auf die Schliche kommen, ich musste mir eine glaubwürdige Ausrede einfallen lassen. Doch in diesem Fall war es relativ einfach: Der Junge hatte sein Eis bereits aufgegessen und wollte sich unerlaubterweise ein zweites besorgen. Also war er in die Truhe geklettert, die zufällig noch nicht fest verschlossen war, und dabei war der Deckel zugefallen. Ein Unglücksfall, wie er im Buche steht. Sollte man mir erst einmal das Gegenteil beweisen.
Wo nur meine Lene blieb? Sie hätte längst von der Schule zurück sein müssen, es war inzwischen Mittag. Als ich zur Haustür lief und auf die Straße schaute, entdeckte ich neben der Gartenpforte ihr seidenes Tüchlein. Hatte sie es bereits auf dem Hinweg verloren? Nachdenklich nahm ich das Halstuch in die Hand, denn es passte nicht in die warme Jahreszeit. Innen war ein harter Gegenstand eingewickelt, ein abgenagtes Hühnerbein. Lenchen war im Gegensatz zu Timm eine gute Esserin, sie neigte leider dazu, sich mit dem täglichen Apfel nicht zufriedenzugeben und ihre Schulfreundinnen um deftigere Kost anzuschnorren. Angeekelt ließ ich den Fund wieder fallen.
Vielleicht hatte ich beim Fernsehen die Klingel überhört, und mein Kind hatte ratlos vor verschlossener Tür gestanden? Doch plötzlich bemerkte ich, dass das Garagentor offen stand, und mir fiel ein, dass Lene ja zum Glück das Versteck des Garagenschlüssels kannte. Wahrscheinlich saß sie schon längst im Kinderzimmer und machte Hausaufgaben.
Aber weder dort noch sonst wo im Haus war Lenchen zu finden. War es denkbar, dass sie von einem Pädophilen verfolgt und beim Betreten der Garage entführt worden war? Hatte sie heute vielleicht Wandertag, und ich wusste nichts davon, oder gab es noch ähnliche Strafen wie früher das Nachsitzen? In meiner Not rief ich bei der Schulsekretärin an und erfuhr, dass man die gesamte zweite Klasse am Morgen gleich wieder nach Hause geschickt hatte, da fünf Schüler an Schweinegrippe erkrankt waren. Wahrscheinlich war meine Tochter mit ihren Freundinnen mitgelaufen und spielte jetzt in deren Kinderzimmer mit Barbies.
Und wenn doch alles viel schlimmer war? Hatte Lene vielleicht auf dem Weg durch die Garage den Vorratskeller durchquert und Lust auf ein Eis bekommen? Und war sie am Ende zu ihrem Bruder in die Truhe geklettert und hatte den defekten Deckel nicht hochgehalten, so dass er zufiel und beide darin gefangen waren? Sekundenlang spürte ich einen fast übermächtigen Impuls, die Treppe hinunterzurennen, die Gefriertruhe aufzureißen und die Kinder zu retten.
Doch vielleicht war es längst zu spät, und es galt, zwei Tote zu bergen. Schon allein bei der Vorstellung wurde mir schlecht, ich musste mich übergeben und taumelte ins Schlafzimmer, wo ich mich halb ohnmächtig verschanzte. Trotz zweier Daunendecken bekam ich heftigen Schüttelfrost, muss aber kurze Zeit später eingeschlafen sein.
Wie ein durchsichtiges Gespenst stand Lene plötzlich vor meinem Bett und weinte. Als sie Stunden zuvor heimgekommen sei, habe sie den kleinen Timm tot in der Gefriertruhe entdeckt und in einer Art Schockzustand die Flucht ergriffen. Das dürfe der Papa nie erfahren, schluchzte sie, er würde uns bestimmt beide umbringen. Wir müssten den Kleinen verschwinden lassen, was auch nach meiner Meinung die beste Lösung war.
Meine kleine, aber kräftige Tochter half mir, den steifgefrorenen Jungen in den Hobbyraum zu tragen und mit der Motorsäge grob zu zerlegen. Die großen Teile schweißte ich ein und beschriftete sie mit rotem Folienstift: Rehkeule, Gänsebrust, Hasenfilet, Wildschweinrücken. In der Tiefkühltruhe würden die Pakete vorerst nicht weiter auffallen. Allerdings konnte ich mit den Händen und Füßen sowie dem abgetrennten Kopf, aus dem mich die riesigen blauen Augen immer noch anstarrten, nicht ebenso verfahren. Ich steckte alles in eine Kaufhaustüte, tauschte diese dann aber zwecks besserer Verrottung gegen ein Jutesäckchen aus und vergrub das Bündel im Komposthaufen. Entbeinte Stücke schnitt ich in mundgerechte Happen und gab sie mit Olivenöl, Zwiebeln, zwei Lorbeerblättern, Paprika, Salz und Pfeffer, Tomatenmark, Wacholderbeeren und Knoblauch in die heiße Pfanne. Dann löschte ich mit Rotwein ab. Schon bald duftete es köstlich, aber selbst die nimmersatte Lene mochte nicht einen Bissen probieren. Sie half zwar beim Umrühren, doch ihre Tränen tropften unablässig in den Bräter, so dass ich schon befürchtete, der Fond werde versalzen. Ein paar ausgelöste Knochen wickelte Lene umständlich in ihr Tüchlein.
»Sag dem Papa, dass ich mit Timmi auf dem Spielplatz bin«, sagte sie und verließ das Haus. Mir gab es jedes Mal einen Stich, wenn sie meinen Mann ganz selbstverständlich als Vater akzeptierte, während Timm mich immer wie eine Fremde behandelt hatte. Ich ließ Lene ziehen, denn ich musste dringend die Küche putzen, wenngleich ich bereits von der anstrengenden Arbeit ziemlich erschöpft war und eigentlich in Ruhe die Nachrichten sehen wollte.
Doch ich blieb nicht ungestört, denn schon bald kam mein Mann hungrig von der Arbeit.
»Wie geht es dem Kleinen, Marga?«, fragte er als Erstes. »Ist er wieder gesund?«
»Und ob«, sagte ich. »Er ist gerade mit Lenchen zum Spielplatz gelaufen; Kleinkinder scheinen ja manchmal dem Tode nah und sind zwei Stunden später wieder putzmunter.«
Das kannte mein Mann auch. »Umso besser«, sagte er, »aber mit dem Essen möchte ich nicht mehr lange warten.«
Das gutgewürzte Gulasch schmeckte ihm über alle Maßen, er schaufelte sich dreimal den Teller voll und wischte ihn schließlich mit Brot aus.
Als ich gerade das Geschirr abgeräumt und endlich den Fernseher eingeschaltet hatte, flatterte durch das offene Fenster ein Papagei, der wohl einem Nachbarn entflogen war. Vergeblich versuchte ich, ihn wieder nach draußen zu scheuchen. Der Vogel krallte sich an die Hängeleuchte, schlug mit den Flügeln und hackte nach mir, sobald ich mich mit dem Besen näherte. Zu allem Überfluss fing er an zu krächzen. Es war ein grässliches, ein schauriges Lied.
Das Lenchen hat mich ausgelacht.
Ihre Mutter hat mich kaltgemacht.
Zu Gulasch wurd’ ich weichgekocht.
Die Köchin wird nun eingelocht.
Der tückische Vogel plante wohl, mich zu verraten. Anfangs wollte ich ihn nur übertönen, konnte aber bald nicht mehr aufhören zu schreien.
»Hör auf mit dem Gekreische, Marga! Du bist sehr krank«, sagte mein Mann, beugte sich über mich und rüttelte mich an der Schulter. »Du phantasierst! Aber du musst mir trotzdem sagen, wo die Kinder sind.«
Hier in der geschlossenen Abteilung darf ich vorläufig keinen Besuch empfangen, auch nicht fernsehen, Radio hören oder Zeitung lesen. Doch die Putzfrau brachte mir gestern eine Illustrierte, die sie extra für mich hereingeschmuggelt hatte. Das sei doch ich, sagte sie stolz, weil sie das Bild sofort erkannt hatte. Ich betrachtete die Fotos unseres Hauses, der Küche, der veralteten Tiefkühltruhe und meiner Familie und fing schließlich an zu lesen.
Die psychisch kranke Margarete W. kam mit ihrem vierjährigen Stiefsohn nicht zurecht. Das Kind war durch den Tod seiner leiblichen Mama schwer traumatisiert, in seiner Entwicklung zurückgeblieben und lehnte die neue Mutter völlig ab. Frau W. scheint sich anfangs bemüht zu haben, mit dem schwierigen Jungen auszukommen, war jedoch aufgrund ihrer eigenen Psychose restlos überfordert. An jenem verhängnisvollen Tag erkrankte nicht nur der Kleine an einem fieberhaften Infekt, sondern auch sie selbst. Als sich das Kind ein Eis aus der Gefriertruhe holen wollte, stieß sie den Jungen hinein, schloss den Deckel und verließ den Raum. Ihren eigenen Angaben zufolge musste sie dringend bügeln; als das Fieber stieg, legte sie sich jedoch ins Bett und wurde von alptraumhaften Halluzinationen heimgesucht.
Die Tochter von Margarete W., die aus einer früheren Verbindung stammte, besuchte die 2. Klasse der Grundschule. Noch vor Beginn des Unterrichts wurden die Kinder wieder nach Hause geschickt, da mehrere Schüler an der Schweinegrippe erkrankt waren. Die meisten Eltern konnten telefonisch benachrichtigt werden, bei Familie W. meldete sich niemand. Die kleine L. konnte allerdings glaubhaft versichern, dass ihre Mutter zu Hause sei, da sie den kranken Bruder pflegen müsse.
Frau W. hatte weder das Telefon noch die Türglocke gehört, weil sie den Fernseher sehr laut gestellt hatte. Nach anhaltendem vergeblichen Klingeln erinnerte sich ihre Tochter an das Versteck des Garagenschlüssels und beschloss, durch den angrenzenden Keller ins Haus zu gelangen. Als sie an der Gefriertruhe vorbeikam, wollte sie die Gelegenheit nutzen und sich ein Eis herausnehmen. Zu ihrem Entsetzen stieß sie auf ihren kleinen Stiefbruder, der gerade erst in seinen eisigen Sarg eingeschlossen worden war. Wäre die Siebenjährige nur wenige Minuten später gekommen, hätte man das Kind wohl nicht mehr retten können.
Statt sich aber sofort einer Nachbarin anzuvertrauen, flohen die verstörten Kinder Hals über Kopf aus dem elterlichen Haus. Da der Kleine nach seiner Mama rief, brachte ihn das Mädchen auf den Friedhof. Die beiden Kinder saßen wohl schon lange unter einem Wacholderbaum, bohrten mit einem Hühnerknochen kleine Löcher in die Erde und steckten gepflückte Blumen hinein, als sie schließlich vom Vater des Jungen gefunden wurden. Dieser brachte sein Kind sofort in die Klinik. Der Kleine trug nur einen Schlafanzug und war trotz des warmen Wetters völlig unterkühlt.
Frau W. wurde in das psychiatrische Landeskrankenhaus eingewiesen. Laut Aussage ihres Mannes leidet sie unter wahnhaften Schüben und versetzt sich dann in die Rolle tragischer Heldinnen, deren Texte sie als Theatersouffleuse auswendig gelernt hat.
Ich war fassungslos: Die billig aufgemachte Illustrierte log wie gedruckt und verriet leider nicht, wer ihr niederträchtiger Informant war; ich tippe ja auf den Papagei. Für die siebenseitige Homestory mit den indiskreten Fotos hat mein Mann bestimmt nicht schlecht kassiert, er bezahlt wohl davon diese Schlampe, die kochen und sich in meiner Abwesenheit um die Kinder kümmern soll. Wenn ich demnächst heimkomme, werde ich alle beide vor die Tür setzen.
Aber zunächst muss ich das Fenster schließen. Der Papagei ist wieder hier, um mich auszuspionieren. Er betrachtet sich nämlich als Timmis Sprachrohr; wenn ich nicht aufpasse, wird er davonfliegen, sich auf den Machandelbaum setzen und mich bei meinem Mann anschwärzen.
»Schwester Monika, Sie müssen wissen, dass ich zwar Margarete heiße, aber Gretchen genannt werde. Ich habe heute mein Kind im Brunnen ertränkt, darauf steht die Todesstrafe.«
Meine Mutter, die Hur’,
Die mich umgebracht hat,
Mein Vater, der Schelm,
der mich gessen hat!
Mein Schwesterlein klein
Hub auf die Bein’,
An einem kühlen Ort.
Da war ich ein schönes Waldvögelein;
Fliege fort, fliege fort.
Draußen ist es stürmisch. In meinem engen Kerker ist nur eine winzige Luke, ich kann nichts als grauen Himmel sehen.
Eilende Wolken! Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!
Grüßet mir freundlich mein Heimatland!
Ich bin gefangen, ich bin in Banden,
Ach, ich hab’ keinen andern Gesandten!
»Nein, Schwester Monika, ich bin doch nicht blond! Ich bin kein Gretchen, ich bin Maria Stuart und werde heute noch hingerichtet.«