Der Berber Kenan lebte am Rande der Wüste. Von seinen Vätern hatte er ein Stück Land geerbt, das er in ein blühendes Paradies verwandelte. Ohne Brunnen wäre er allerdings gescheitert, und daher war das kühle, frische Wasser Kenans wertvollster Besitz. Um den Brunnenrand, der von ovalen Steinen gefasst war, blühte rote und gelbe Kapuzinerkresse. Rosen wuchsen in Kenans Garten, und zwischen Kohl und Bohnen dufteten Reseda und Lavendel. In dunklen Büschen leuchtete weißer Jasmin, Sonnenblumen begrenzten die Maisfelder, und vor der Hütte gedieh eine Tigerlilie.
In der Ferne sah man den endlosen Sand der Wüste. Sandfarben war auch Kenans Haut, und hellblau wie der Himmel am frühen Morgen war sein Kaftan. So schien der Berber wie ein Stück Landschaft in seinem Garten unterzutauchen, auch sein sandfarbenes Kamel und seine hellbraunen Hühner hatten sich der Wüstenfarbe angepasst, so dass nur die bunten Blumen eine Oase ankündigten.
Kenan lebte in Frieden und Einsamkeit, zur Gesellschaft reichten ihm die Tiere. Hin und wieder rastete bei ihm allerdings ein Reisender, gelegentlich sogar eine Karawane. Kenan füllte dann die Wasserschläuche und tauschte Melonen und Kürbisse gegen Sandalen, Salz, Streichhölzer und andere Dinge, die er nicht selbst herstellen konnte. Bei einem Glas heißer, süßer Minze saß man beisammen, rauchte die Wasserpfeife und sprach von erstaunlichen Begebenheiten, die sich vor langer Zeit oder kürzlich ereignet hatten. Wenn die Reisenden sich auf Kenans bescheidenem Lager ausgeruht hatten, beschenkte er sie mit frischen Datteln und Feigen und gab ihnen noch manchen Hinweis für die Reise. Kenan kannte die Tücken der wasserlosen Sandfläche von Kindesbeinen an, und jeder verließ sich gern auf seinen guten Rat, welche Route man durch die Wüste nehmen musste.
Eines Morgens wurde Kenan durch ungewohnte Laute geweckt. Er spähte aus dem Fenster und sah einen fremden Reiter, der sich einen Spaß daraus machte, sein Pferd durch die Blumenbeete zu treiben. Die Lilie lag geknickt am Boden, die Rosen waren zertrampelt und die Sonnenblumen mit der Wurzel herausgerissen. Empört rannte Kenan hinaus und gebot dem Fremden mit vor Wut erstickter Stimme Einhalt in seinem sinnlosen Tun. Der Reiter lachte nur und trieb sein Ross in die Gemüsebeete. Kenan besaß keine Waffe und hatte bisher auch keine entbehrt. Nun hatte er nicht übel Lust, den Fremden wie einen tollwütigen Hund zu erschießen.
Er versuchte erneut, dem Eindringling zu erklären, dass er den gesamten Proviant für andere Reisende – aber auch für sich selbst – vernichtete. Schließlich begriff der Fremde, dass er noch etwas mitnehmen wollte, und verlor die Lust an seinem zerstörerischen Werk. Der Tag war heiß, und jeder überlegte, wie er seine Kräfte sparen konnte. Der Bandit trieb also sein Pferd an den Brunnen, ließ es trinken, pflückte die letzten Feigen vom Baum und ritt davon.
Als er sich erst wenige Schritte entfernt hatte, kehrte der Reisende wieder um und fragte den Berber nach dem sicheren Weg durch die Wüste. Kenan spürte noch heiß seine wütende Erregung, sah den Fremden mit grenzenloser Verachtung an und schwieg. Sollte er diesem Schurken auch noch weiterhelfen? Aber er wollte ihn schleunigst loswerden. Dem stets gutmütigen Kenan schoss durch den Kopf, dass man diesen Teufel in die Hölle schicken sollte, wo er anscheinend hergekommen war.
Als Kenan gerade den Mund öffnete, um dem Vandalen den falschen Weg zu nennen, schnaubte das edle Ross, und der Berber fühlte Mitleid mit dem schönen Tier. Wenn er schon einem Pferd nichts zuleide tun konnte, so wollte er erst recht nicht an einem Menschen schuldig werden. Kurz und bündig teilte er dem Fremden mit, welchen Weg er wählen müsse, um ungefährlich die nächste Stadt zu erreichen.
Der Reiter hatte aber die bösen Gedanken in Kenans Gesicht gelesen und glaubte nicht an seine aufrichtige Auskunft. Als sich der Berber noch einmal umdrehte, sah er den Fremden mit großer Schnelligkeit in die falsche Richtung reiten. Kenan erkannte, dass er sich nicht in Allahs Beschlüsse einmischen konnte.
Die Zeit verging, und Kenan begann, die unerfreuliche Begegnung zu vergessen, obgleich ihn hin und wieder eine geknickte Blume daran erinnerte.
Eines Abends, als die untergehende Sonne die Wüste in rosenfarbenes Licht tauchte und die samtigen Schatten gewellte Trauerränder im Sand hinterließen, saß Kenan vor seiner Hütte und erspähte in der Ferne ein weißes Kamel mit Reiter. Es näherte sich sehr langsam. Schließlich stieg ein alter Mann ab, der seine Erschöpfung nicht verbergen konnte. Dankbar nahm er Speise und Trank entgegen, bald darauf schlief er, ohne viel Worte gemacht zu haben, friedlich ein.
Am nächsten Morgen erzählte Sead – so hieß der Alte –, dass er auf der Suche nach seiner Tochter sei. Ein Fremder habe sie nachts aus dem Vaterhaus entführt, nachdem man ihn dort freundlich bewirtet hatte. Der alte Sead war dem Entführer nachgeritten, hatte aber inzwischen die Spur verloren. Er beschrieb seine jüngste Tochter Zaida als ein Mädchen von großer Anmut, mit mandelförmigen Augen und einem Mund wie eine Herzkirsche. Der Fremde sei wahrscheinlich der Satan selbst gewesen. Und er schilderte dessen Äußeres so genau, dass Kenan sofort jenen Übeltäter erkannte, der ihm kürzlich selbst so böse mitgespielt hatte. Kenan berichtete also, dass Allah den fremden Reiter in die Irre und wohl in den Tod geschickt habe. Wo aber die schöne Zaida geblieben war, vermochte er nicht zu sagen.
Diese Auskunft konnte den bangenden Vater natürlich nicht beruhigen, obwohl es ihm recht war, dass den Entführer nun wohl der qualvolle Tod des Verdurstens ereilt hatte. Er schöpfte jedoch Hoffnung, als er Allahs Gerechtigkeit erkannte, die ihn auch seine Tochter wiederfinden ließe. Nach einem letzten Mahl aus Hirsebrei und frischem Gemüse wollte er sich erneut auf die Suche machen. Doch zuvor holte er ein seidenes Tuch aus der Satteltasche und schenkte es Kenan zum Abschied.
Als Sead verschwunden war, breitete Kenan das Tuch aus und betrachtete es lange. Nie zuvor hatte er einen Gegenstand besessen, der nicht ausschließlich nützlicher Natur gewesen war. Nun hielt er ein feingewebtes Stück Stoff in den Händen, das mit roten und goldenen Ornamenten zierlich durchwirkt und mit seltsamen Schriftzeichen geschmückt war. Kenan konnte nicht lesen, gleichwohl glaubte er, dass dies eine Inschrift aus dem Koran sein müsse. Er legte das Tuch auf sein Kopfkissen und freute sich wie ein Kind, dass ein so edles Kleinod jetzt seine Hütte schmückte.
Kenan war gerade erst zur Ruhe gekommen, als er schon wieder aufgestört wurde. In früheren Tagen war er oft wochenlang mit keinem Menschen in Berührung gekommen.
Eine Karawane. Man wollte einen Tag lang rasten und die Vorräte an Wasser und Früchten erneuern. Es waren keine angenehmen Menschen, mit denen es Kenan jetzt zu tun hatte. Mit wenigen barschen Worten stellten sie ihre Forderungen, und ihre Tauschware nahm sich ziemlich dürftig aus. Kenan hatte jedoch Angst vor ihrer Überzahl und beeilte sich, die Bande zufriedenzustellen.
Ein tiefverschleiertes Geschöpf, das zu diesen rohen Gesellen nicht zu passen schien, fiel ihm jedoch sofort auf. Den anmutigen Bewegungen nach schien es ein junges Mädchen zu sein, das man unbarmherzig zu schweren Arbeiten antrieb. Als sie in Kenans Hütte erschien, um nach einem Besen zu suchen, fiel ihr Blick auf das seidene Tuch, und sie erblasste. Schließlich schob sie den Schleier von ihren mandelförmigen Augen und fragte Kenan im Flüsterton, wo er dieses Tuch herhabe. Es gehöre ihrem Vater, und er habe sich bisher nie davon trennen wollen. Offensichtlich glaubte sie, Kenan habe es ihm gestohlen oder sogar mit roher Gewalt entrissen.
»Wenn es dein Vater ist, der dieses Tuch besaß«, sagte Kenan bewegt, »dann bist du Zaida und wurdest von einem Halunken entführt.« Zaida bejahte unter Tränen und erzählte, der Bösewicht habe sie nach wenigen Tagen an die wilden Gesellen dieser Karawane verschachert. Man wolle sie als Haremsfrau an einen Scheich verkaufen.
Kenan wollte Zaida gern vor diesem Schicksal bewahren, denn die tränenverhangenen Blicke aus den schönen Augen des Mädchens hatten ihn bezaubert. Aber wie sollte er helfen? Zu Fuß von hier zu entfliehen wäre tödlicher Leichtsinn gewesen. Ebenso war es völlig unmöglich, an die Kamele zu gelangen, weil sie stets streng bewacht wurden. Kenans eigenes Kamel war ein langsames Lasttier, das die Reiter in Windeseile einholen konnten. Also musste er Zaida in seiner kleinen Oase verstecken, wo jedoch in allen Ecken die Kerle herumlungerten und ihre Adleraugen und Luchsohren gebrauchten.
Kenan wartete, bis es Nacht war. Zwar hatte er nie eine Schule besucht, aber sein Verstand arbeitete scharf und schnell. Als alle Männer bis auf die Wachen schliefen, geleitete er Zaida im Schutz der Dunkelheit zu einem Kürbisbeet. Dort hatte er vor Tagen eine Fallgrube für diebische Wüstenfüchse gegraben. Kenan besaß einen Riesenkürbis, den er vorsichtig ausgehöhlt hatte, um ihn als Gefäß zu benutzen. In den Kürbis bohrte er winzige Löcher und stülpte ihn dann wie einen Helm über Zaidas zierliches Köpfchen. Sie kauerte sich in die Grube, die Kenan behutsam bis zu ihrem Hals zuschüttete. Kein Mensch konnte ahnen, dass sich in diesem Gemüsebeet ein Mädchen versteckt hielt.
Bei Tagesanfang sollte die Karawane aufbrechen; sehr schnell bemerkte man, dass Zaida fehlte. Zunächst glaubte man natürlich an Flucht, und als man sah, dass kein einziges Kamel fehlte, wusste man auch, dass sie zu Fuß nicht weit gekommen sein mochte. Ohne große Aufregung schwärmte ein kleiner Suchtrupp aus, und der Rest war zufrieden, noch ein weiteres Tässchen Tee trinken zu können. Als jedoch die Reiter nach einer guten Stunde unverrichteter Dinge zurückkamen, begann man, Kenan zu verdächtigen. Man fragte ihn aus, zuerst nur streng, dann drohend. Scheinheilig boten sie ihm eine Belohnung an, aber die Männer waren nicht reich genug, um sich einen echten Berber kaufen zu können.
Schließlich hielten sie den stets gelassenen Kenan für ebenso dumm wie unschuldig und setzten jetzt ihre Suche in der Oase fort. Jedes Fleckchen, jedes mögliche Versteck wurde inspiziert. Einer der Burschen ließ sich sogar an einem Seil in den Brunnen hinab, denn es hätte ja sein können, dass sich Zaida in einem Anfall von Verzweiflung hinabgestürzt hatte. Sie durchsuchten jeden Sattelsack, sie klopften jeden Busch und Baum ab, jede Blume wurde umgedreht, und ins Kürbisfeld stapfte ein finsterer, säbelbeiniger Strolch. Zaida kannte ihn genau, denn er war häufig als ihr persönlicher Bewacher neben ihr geritten. Durch einen kleinen Sehschlitz konnte sie beobachten, wie er direkt vor ihrem Kürbis stand und aus Wut mit seiner Peitsche schon einige der großen gelben Früchte zerfetzt hatte. Zaida war ein ebenso schönes wie kluges Kind. Sie hatte bereits auf der langen Reise bemerkt, dass den finsteren Räuber zwar weder Tod noch Teufel schrecken konnten, er aber vor stechenden Insekten eine fast kindliche Furcht zeigte. Also begann sie, wie eine angriffslustige Wespe zu summen. Ohne zu überlegen, drehte sich der Kerl sofort weg und stiefelte in ein Salatbeet, wo er sich beim Zerstören der grünen Köpfe wohler fühlte.
Gegen Mittag wurde die Suche abgebrochen. Beim Wegreiten schwor die verärgerte Truppe, dass der Teufel persönlich die schöne Gefangene geholt habe.
Endlich konnte Kenan die halbverschmachtete Zaida befreien. Wie nicht anders zu erwarten war, entbrannte auch ihr Herz in heftiger Liebe zu ihrem Retter, und als nach einiger Zeit der alte Vater Sead auf der Heimreise einkehrte, konnte er hocherfreut seine wiedergefundene Tochter dem wackeren Berber zur Frau geben. Die beiden lebten noch lange und glücklich miteinander. Tagsüber half Zaida ihrem Mann beim Bewässern der Gärten, und abends lernte er von seiner klugen Frau das Lesen und Schreiben. Schließlich konnte er auf seinem seidenen Tuch die Worte entziffern: Allahs Wege sind wunderbar.