In meiner Biographie kann man lesen, dass ich 1935 in Shanghai geboren wurde. Allerdings lebte meine Familie auch in anderen chinesischen Städten, am längsten wohl in Nanjing. Natürlich gab es dort keine deutsche Schule, und meine Eltern nahmen den Unterricht ihrer vier Kinder selbst in die Hand. Auch wenn meine Mutter über veraltete Lehrpläne und Lehrbücher verfügte, so herrschten bei unseren Schulstunden doch paradiesische Zustände: keine Hausaufgaben, keine Noten, keine Versetzung, und sobald der Boy das Mittagessen servierte, war Schluss für diesen Tag. Einerseits blieb ich von Leistungsdruck oder gar Versagensängsten verschont, andererseits sehnte ich mich nach einer Freundin und fühlte mich oft ein wenig einsam. Zum Spielen hatte ich zwar meine jüngeren Schwestern, aber das ersetzte ja keine Schulkameraden.

Als ich beinahe zwölf war, zogen wir wieder nach Shanghai. Das Gebäude der dortigen

Ich verdanke ihr viel, vor allem eine gemeinsam entwickelte Freude an witzigen Einfällen und Beobachtungen. Lehrer, Väter und Brüder konnten nur verständnislos den Kopf schütteln, wenn sie unsere Lachanfälle registrierten. Wir besuchten uns täglich und wollten als Doppelautorinnen ein Buch schreiben, und zwar über Nesthäkchens Geburt und ersten Lebensjahre. Emanuela schwärmte

Die Mutter meiner Freundin stammte aus Riga, der Vater aus Ravensburg. Emanuelas älterer Bruder Walter galt als Inbegriff der Intelligenz, mit ihrer kleinen Schwester Ulrike konnte man spielen wie mit einer Puppe. Für mich, die bisher keine Erfahrung mit anderen Elternhäusern gemacht hatte, waren es spannende Einblicke. In Emanuelas Familie fühlte ich mich stets willkommen, umgekehrt war es ebenso.

Bei uns – wie bei den meisten Europäern – ließ man sich von chinesischem Personal bedienen: Als Chef galt der Boy, der stets Pidginenglisch sprach, im Rang folgte der Koch, dann gab es die Amma für die Wäsche, einen Kuli zum Putzen und eventuell noch einen Gärtner oder Chauffeur. Klar, dass wir

Unsere Lehrer verlangten gelegentlich einen Aufsatz über chinesische Sitten und Gebräuche, was uns natürlich nicht weiter schwerfiel. Als uns aber Herr Amann eines Tages die Aufgabe stellte, ein schmiedeeisernes Wirtshausschild zu entwerfen, war ich überfordert. Zwar war Zeichnen und Malen mein Lieblingsfach, aber ein derartiges Aushängeschild hatte ich noch nie gesehen und konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Emanuela, die im Übrigen ebenso gern zeichnete wie ich, half mir schließlich. Auch bei allen anderen komplizierten Lebensfragen konnte ich auf ihre Unterstützung zählen.

Nur zwei Jahre lang währte unsere Freundschaft, denn bereits 1949 fand am Shanghaier Hafen eine unsentimentale Abschiedsszene statt. Emanuela und ich ahnten ja nicht, dass wir uns erst nach fünfundfünfzig Jahren wiedersehen würden. Ich war damals noch keine vierzehn und freute mich auf die Reise, auf die ferne Großmutter und das unbekannte

Emanuela und ihr Bruder Walter begleiteten uns bis zum Schiff. Walter trieb eine Blechdose wie einen Fußball vor sich her. Die leckeren Cookies haben wir dann unterwegs verzehrt und die eingedellte Dose noch jahrelang für die Weihnachtsplätzchen verwendet.

Und dann war plötzlich alles vorbei, und wir begaben uns in das ferne Land, wo angeblich allenthalben Wirtshausschilder baumelten. Rationierte Lebensmittel, Wohnungsnot, zerstörte Städte waren unsere ersten Eindrücke, nicht etwa die erwartete Idylle aus Fachwerkhäusern, verschneiten Tannen und Kuckucksuhren. Der große Schock kam jedoch im Gymnasium, wo ich wie ein bunter Hund bestaunt wurde. In der großen Pause gab es pampige Graupensuppe; diese sogenannte Schulspeisung war ein echtes Kontrastprogramm zum leckeren Essen unseres chinesischen Kochs. Meine Schwestern und ich kannten weder Johannisbeeren noch Glatteis, trugen keine Trainingshosen, sondern vom chinesischen Schneider genähte flatterhafte Kleidchen und hatten im Unterricht von tausend Dingen keine Ahnung. Wir Exoten wunderten uns zuweilen, dass die anderen Kinder noch nie eine Mango gegessen hatten und keinen einzigen englischen Satz über die

Von Deutschland nach China wurden noch ein paar Briefe gewechselt, dann hörte ich nichts mehr von meiner Freundin, und meine Post kam wahrscheinlich nicht an. Man vermutete, ihre Familie sei in Australien gelandet. Nachforschungen verliefen ergebnislos.

Die Eltern meiner Freundin waren jedoch mit ihren Kindern nach Kanada ausgewandert. Dieser Anfang war wohl nicht leicht, lange fand der Vater keine Arbeit. Trotzdem war es keine Frage, dass die Kinder studierten: Emanuela entschied sich für Psychologie, ihr Bruder wurde Architekt. Es sollte mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis Walter eines Tages im Goethe-Institut von Toronto nach einem Kriminalroman suchte und bei dem Namen der Autorin stutzte. Als er dann las, dass diese Ingrid Noll in Shanghai geboren wurde, nahm er Kontakt mit dem Diogenes Verlag auf. Dort fragte

Nach einigen aufgeregten Telefonaten beschließen Emanuela und ich, dass es nach fünfundfünfzig Jahren endlich Zeit für ein Wiedersehen ist. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ulrike besteigt sie den Flieger nach Zürich.

Ich stehe viel zu früh am Mannheimer Bahnhof. Werden wir uns sofort erkennen? Gibt es noch eine Gemeinsamkeit nach so vielen Jahren? Eine endlose Epoche zwischen Mädchengegacker und dem heutigen Rentnerstatus liegt zwischen uns, eine entscheidende Zeit für jedes Menschenleben. Als der Zug einfährt, bin ich zittrig vor Aufregung.

Es ist nicht schwer, sich zu finden, denn wir wissen ja beide, dass da eine Frau im gleichen Alter mit suchendem Blick herumläuft. Wir fallen uns in die Arme und werden erst einmal durch praktische Tätigkeiten von gefühlvollen Anwandlungen abgehalten. Zuerst muss ich ja die Schwester begrüßen – mein Gott, das ist also die kleine Ulrike! Aber sie ist noch genauso reizend und quietschvergnügt. Ich schnappe mir zwei Koffer, dann müssen wir die Tiefgarage aufsuchen. Nur mit Mühe geht das ganze Gepäck in meinen kleinen Wagen. Auf der Fahrt nach Weinheim muss ich mich zusammenreißen, dass ich nicht bei Rot über die Ampeln fahre.

Alle besitzen die kanadische Staatsangehörigkeit.

Immer wieder schauen wir uns prüfend an. Das Leben hat nicht nur Falten, sondern auch andere Spuren in unseren Gesichtern hinterlassen.

Meine Freundin wurde Witwe, als ihr Sohn erst wenige Monate alt war.

Es muss wohl eine sehr schwere Zeit gewesen sein. Sie zog dann in die Nähe ihrer Eltern, die sich um den Kleinen kümmern konnten, wenn Emanuela als Schulpsychologin arbeitete. Ich forsche in ihren Zügen nach Verbitterung und finde keine, sondern entdecke jenen milden Schalk in den Augen, der mich schon als Kind anzog, ohne dass ich es damals in Worte fassen konnte. Emanuela ist witzig und aktiv geblieben, immer wieder höre ich den Satz: »Bei einer der Gruppen, in der ich mitarbeite …«

Ja, in wie vielen Gruppen arbeitet sie denn? In einer politischen Frauengruppe ist sie Vorsitzende;

Bei uns zu Hause werden Geschenke ausgepackt, unter anderem ein wunderschönes Aquarell vom kanadischen Herbstwald. Auch der Bruder hat eine sehr persönliche Gabe, Fotos und einen Brief mitgeschickt. Er bedankt sich dafür, dass ich seine Schwestern so freundlich aufgenommen habe.

»Aber das weiß er doch noch gar nicht«, sage ich. Emanuela muss lachen.

»Jetzt erkenne ich dich erst richtig wieder«, sagt sie.

Seit vielen Jahren liegt Heidelberg vor unserer Haustür, unzählige Male habe ich dort eingekauft oder Freunde begleitet. Auch diesmal gilt es, die Schönheiten der Altstadt zu bewundern, aber eine größere Attraktion sind wohl doch die Souvenirläden; ich muss gestehen, dass ich sie bisher nie betreten habe. Bei »Käthe Wohlfahrt« gibt es alles, was ein Touristenherz höherschlagen lässt. Ein babylonisches Sprachengewirr dröhnt uns entgegen, doch die Verkäuferinnen im Dirndl sind bestens darauf vorbereitet. Hier kann man alles für das gemütliche Heim, den Weihnachtsbaum, für Halloween und

Am letzten Tag machen wir eine lange Kutschfahrt durch Wiesen, Mais- und Tabakfelder und die Altstadt von Ladenburg. Das Wetter ist ein Traum: Es sind jene linden, blauen Stunden des Spätsommers, die Glück oder Wehmut auslösen. Über uns schwirren Mauersegler. Auf dem Kopfsteinpflaster klappern die Pferdehufe wie zu Goethes Zeiten, die Fachwerkhäuser zeigen sich von einer ungewohnten und reizvollen Perspektive. Nicht nur meine Gäste sind begeistert, ich selbst sehe Deutschland plötzlich mit ihren Augen und bin stolz auf meine jetzige Heimat, in der ich weder geboren noch aufgewachsen bin.

Abends werden wir zum Essen eingeladen. Eine urige Wirtschaft erscheint uns passend. Der Kellner stammt aus dem Kongo, und nun fühlen sich

Der Abschied fällt schwer. Wir beschließen, uns, sooft es geht, zu besuchen. Im Nachhinein stelle ich fest, dass ich unerhörtes Glück hatte: Bereits mit zwölf Jahren fand ich eine humorvolle, originelle und überaus liebenswerte Freundin, mit der man noch lachen kann wie vor fünfundfünfzig Jahren.