In meiner Biographie kann man lesen, dass ich 1935 in Shanghai geboren wurde. Allerdings lebte meine Familie auch in anderen chinesischen Städten, am längsten wohl in Nanjing. Natürlich gab es dort keine deutsche Schule, und meine Eltern nahmen den Unterricht ihrer vier Kinder selbst in die Hand. Auch wenn meine Mutter über veraltete Lehrpläne und Lehrbücher verfügte, so herrschten bei unseren Schulstunden doch paradiesische Zustände: keine Hausaufgaben, keine Noten, keine Versetzung, und sobald der Boy das Mittagessen servierte, war Schluss für diesen Tag. Einerseits blieb ich von Leistungsdruck oder gar Versagensängsten verschont, andererseits sehnte ich mich nach einer Freundin und fühlte mich oft ein wenig einsam. Zum Spielen hatte ich zwar meine jüngeren Schwestern, aber das ersetzte ja keine Schulkameraden.
Als ich beinahe zwölf war, zogen wir wieder nach Shanghai. Das Gebäude der dortigen »Kaiser-Wilhelm-Schule« war 1945 von den Amerikanern beschlagnahmt worden, fast alle Lehrer wurden nach Deutschland repatriiert. Nur Herr Döring und Herr Amann waren von der alten Garde übriggeblieben und betrieben eine Art private Zwergschule. Zusätzlich sorgte eine Missionarin namens Tante Leni für Religionsunterricht, ein Neunzehnjähriger war für die Naturwissenschaften und ein vertrottelter Professor für Mathe zuständig. Bei den Schülern sah es kaum besser aus: Es gab nur noch wenige, die durch die Millionenstadt von Herrn Amanns Wohnzimmer zum Turmzimmer der deutschen Kirche radelten. An vielen Vormittagen mussten wir nämlich mehrmals den Standort wechseln. Zwei Jahrgänge wurden meist zusammengefasst, so dass ich immerhin mit ein paar Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurde und rasch meine erste Freundin fand. Emanuela war zwar ein Jahr älter als ich, aber das spielte überhaupt keine Rolle.
Ich verdanke ihr viel, vor allem eine gemeinsam entwickelte Freude an witzigen Einfällen und Beobachtungen. Lehrer, Väter und Brüder konnten nur verständnislos den Kopf schütteln, wenn sie unsere Lachanfälle registrierten. Wir besuchten uns täglich und wollten als Doppelautorinnen ein Buch schreiben, und zwar über Nesthäkchens Geburt und ersten Lebensjahre. Emanuela schwärmte für Bing Crosby, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Auf unsere Fahrräder gestützt, konnten wir stundenlang herumstehen und schwätzen, obwohl wir alle beide längst zu Hause erwartet wurden. Mitten im brausenden Verkehr hat mich Emanuela auch aufgeklärt. Einerseits waren wir relativ behütete Mädchen, andererseits wurden wir auf der Straße Tag für Tag mit Bettlern, Schwerbehinderten und toten Menschen konfrontiert. Wir machten uns durchaus Sorgen, konnten aber zwei Minuten später wieder über unsere Lehrer lästern. Lachen und Weinen lagen noch nahe beieinander.
Die Mutter meiner Freundin stammte aus Riga, der Vater aus Ravensburg. Emanuelas älterer Bruder Walter galt als Inbegriff der Intelligenz, mit ihrer kleinen Schwester Ulrike konnte man spielen wie mit einer Puppe. Für mich, die bisher keine Erfahrung mit anderen Elternhäusern gemacht hatte, waren es spannende Einblicke. In Emanuelas Familie fühlte ich mich stets willkommen, umgekehrt war es ebenso.
Bei uns – wie bei den meisten Europäern – ließ man sich von chinesischem Personal bedienen: Als Chef galt der Boy, der stets Pidginenglisch sprach, im Rang folgte der Koch, dann gab es die Amma für die Wäsche, einen Kuli zum Putzen und eventuell noch einen Gärtner oder Chauffeur. Klar, dass wir Kinder bloß unsere Zimmer aufräumen mussten, aber kaum zu Hausarbeiten herangezogen wurden. Über den kolonialen Lebensstil machten wir uns aber weiter keine Gedanken, denn wir kannten ja nichts anderes. Wenn mich Emanuela besuchte, war es selbstverständlich, dass der Boy ihr die Tür öffnete und dann mich, die »young missi«, herbeirief. Meinen Bruder nannte er »young master«.
Unsere Lehrer verlangten gelegentlich einen Aufsatz über chinesische Sitten und Gebräuche, was uns natürlich nicht weiter schwerfiel. Als uns aber Herr Amann eines Tages die Aufgabe stellte, ein schmiedeeisernes Wirtshausschild zu entwerfen, war ich überfordert. Zwar war Zeichnen und Malen mein Lieblingsfach, aber ein derartiges Aushängeschild hatte ich noch nie gesehen und konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Emanuela, die im Übrigen ebenso gern zeichnete wie ich, half mir schließlich. Auch bei allen anderen komplizierten Lebensfragen konnte ich auf ihre Unterstützung zählen.
Nur zwei Jahre lang währte unsere Freundschaft, denn bereits 1949 fand am Shanghaier Hafen eine unsentimentale Abschiedsszene statt. Emanuela und ich ahnten ja nicht, dass wir uns erst nach fünfundfünfzig Jahren wiedersehen würden. Ich war damals noch keine vierzehn und freute mich auf die Reise, auf die ferne Großmutter und das unbekannte Deutschland; der Schmerz, das vertraute Umfeld hinter mir zu lassen, wurde erst einmal verdrängt.
Emanuela und ihr Bruder Walter begleiteten uns bis zum Schiff. Walter trieb eine Blechdose wie einen Fußball vor sich her. Die leckeren Cookies haben wir dann unterwegs verzehrt und die eingedellte Dose noch jahrelang für die Weihnachtsplätzchen verwendet.
Und dann war plötzlich alles vorbei, und wir begaben uns in das ferne Land, wo angeblich allenthalben Wirtshausschilder baumelten. Rationierte Lebensmittel, Wohnungsnot, zerstörte Städte waren unsere ersten Eindrücke, nicht etwa die erwartete Idylle aus Fachwerkhäusern, verschneiten Tannen und Kuckucksuhren. Der große Schock kam jedoch im Gymnasium, wo ich wie ein bunter Hund bestaunt wurde. In der großen Pause gab es pampige Graupensuppe; diese sogenannte Schulspeisung war ein echtes Kontrastprogramm zum leckeren Essen unseres chinesischen Kochs. Meine Schwestern und ich kannten weder Johannisbeeren noch Glatteis, trugen keine Trainingshosen, sondern vom chinesischen Schneider genähte flatterhafte Kleidchen und hatten im Unterricht von tausend Dingen keine Ahnung. Wir Exoten wunderten uns zuweilen, dass die anderen Kinder noch nie eine Mango gegessen hatten und keinen einzigen englischen Satz über die Lippen brachten. In Shanghai hatten wir mangels Lehrkraft keinen Musikunterricht gehabt, aber im Radio amerikanische Schlager gehört. Gern und oft sangen wir zum Beispiel: Wish me luck as you wave me goodbye! In Deutschland musste ich plötzlich schwachsinnige Lieder anstimmen wie etwa: In einen Harung jung und schlank, zwo, drei vier … oder Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt ’ne kleine Wanze! Emanuela fehlte mir sehr.
Von Deutschland nach China wurden noch ein paar Briefe gewechselt, dann hörte ich nichts mehr von meiner Freundin, und meine Post kam wahrscheinlich nicht an. Man vermutete, ihre Familie sei in Australien gelandet. Nachforschungen verliefen ergebnislos.
Die Eltern meiner Freundin waren jedoch mit ihren Kindern nach Kanada ausgewandert. Dieser Anfang war wohl nicht leicht, lange fand der Vater keine Arbeit. Trotzdem war es keine Frage, dass die Kinder studierten: Emanuela entschied sich für Psychologie, ihr Bruder wurde Architekt. Es sollte mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis Walter eines Tages im Goethe-Institut von Toronto nach einem Kriminalroman suchte und bei dem Namen der Autorin stutzte. Als er dann las, dass diese Ingrid Noll in Shanghai geboren wurde, nahm er Kontakt mit dem Diogenes Verlag auf. Dort fragte man erst einmal bei mir an, ob ein fremder Herr aus Toronto meine E-Mail-Adresse haben dürfe.
Nach einigen aufgeregten Telefonaten beschließen Emanuela und ich, dass es nach fünfundfünfzig Jahren endlich Zeit für ein Wiedersehen ist. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ulrike besteigt sie den Flieger nach Zürich.
Ich stehe viel zu früh am Mannheimer Bahnhof. Werden wir uns sofort erkennen? Gibt es noch eine Gemeinsamkeit nach so vielen Jahren? Eine endlose Epoche zwischen Mädchengegacker und dem heutigen Rentnerstatus liegt zwischen uns, eine entscheidende Zeit für jedes Menschenleben. Als der Zug einfährt, bin ich zittrig vor Aufregung.
Es ist nicht schwer, sich zu finden, denn wir wissen ja beide, dass da eine Frau im gleichen Alter mit suchendem Blick herumläuft. Wir fallen uns in die Arme und werden erst einmal durch praktische Tätigkeiten von gefühlvollen Anwandlungen abgehalten. Zuerst muss ich ja die Schwester begrüßen – mein Gott, das ist also die kleine Ulrike! Aber sie ist noch genauso reizend und quietschvergnügt. Ich schnappe mir zwei Koffer, dann müssen wir die Tiefgarage aufsuchen. Nur mit Mühe geht das ganze Gepäck in meinen kleinen Wagen. Auf der Fahrt nach Weinheim muss ich mich zusammenreißen, dass ich nicht bei Rot über die Ampeln fahre.
Eine siebzigjährige Frau, die meine erste Freundin war, sitzt neben mir. Ihr Deutsch ist perfekt, doch auf unserer Terrasse betrachtet sie grübelnd einen Blumenkasten und spricht dann von »faulen Lieschen«. Bei der jüngeren Schwester hapert es gelegentlich. Seit Jahren reden die Geschwister nur noch Englisch miteinander. Emanuelas Mann war Engländer, auch Ulrikes Mann und ihre Söhne sprechen kein Deutsch.
Alle besitzen die kanadische Staatsangehörigkeit.
Immer wieder schauen wir uns prüfend an. Das Leben hat nicht nur Falten, sondern auch andere Spuren in unseren Gesichtern hinterlassen.
Meine Freundin wurde Witwe, als ihr Sohn erst wenige Monate alt war.
Es muss wohl eine sehr schwere Zeit gewesen sein. Sie zog dann in die Nähe ihrer Eltern, die sich um den Kleinen kümmern konnten, wenn Emanuela als Schulpsychologin arbeitete. Ich forsche in ihren Zügen nach Verbitterung und finde keine, sondern entdecke jenen milden Schalk in den Augen, der mich schon als Kind anzog, ohne dass ich es damals in Worte fassen konnte. Emanuela ist witzig und aktiv geblieben, immer wieder höre ich den Satz: »Bei einer der Gruppen, in der ich mitarbeite …«
Ja, in wie vielen Gruppen arbeitet sie denn? In einer politischen Frauengruppe ist sie Vorsitzende; unter den vielen Fotos, die ich anschaue, erkenne ich Emanuela am Arm des Ministerpräsidenten. Dann gibt es die Gruppe der französischsprechenden Kanadierinnen, mit denen sie sich regelmäßig trifft, die Gruppe ehemaliger Kollegen, die Gruppe der Freundinnen. Und die Gruppe der Mensa-Mitglieder, die einen besonders hohen IQ haben. Scherzhaft behauptet sie, ursprünglich habe sie sich dort einen gescheiten Mann angeln wollen, aber die Neunmalklugen seien nicht immer mit sozialer Intelligenz gesegnet. Gute Freunde hat sie dort trotzdem gefunden. Es gibt noch weitere Gruppen gemeinnütziger oder kultureller Art, und ich stelle fest, dass meine Freundin eine kontaktfreudige, kluge, beliebte und sehr engagierte Frau ist. Ihre große Leidenschaft gilt dem Reisen, und das kann ich nur zu gut verstehen.
Bei uns zu Hause werden Geschenke ausgepackt, unter anderem ein wunderschönes Aquarell vom kanadischen Herbstwald. Auch der Bruder hat eine sehr persönliche Gabe, Fotos und einen Brief mitgeschickt. Er bedankt sich dafür, dass ich seine Schwestern so freundlich aufgenommen habe.
»Aber das weiß er doch noch gar nicht«, sage ich. Emanuela muss lachen.
»Jetzt erkenne ich dich erst richtig wieder«, sagt sie.
Die nächsten Tage vergehen mit Erzählen und Sightseeing. Natürlich will ich meinen Gästen unsere Umgebung zeigen, zum Beispiel das Schwetzinger Schloss und den berühmten Barockgarten. Direkt vor dem zentralen Parkautomaten hat sich ein Obdachloser mit einem Teller niedergelassen. Der Standort ist geschickt gewählt, denn jeder Autofahrer muss hier sein Portemonnaie öffnen und nach Münzen wühlen. Wer brächte es jetzt fertig, rein gar nichts auf den Teller zu legen? Aber wenn uns auch fast ein Scherz über diese Strategie auf den Lippen liegt, so werden wir doch alle drei nachdenklich. Selbst in dieser kleinen Stadt begegnen uns Arbeitslosigkeit und Not auf der Straße wie einst in China.
Seit vielen Jahren liegt Heidelberg vor unserer Haustür, unzählige Male habe ich dort eingekauft oder Freunde begleitet. Auch diesmal gilt es, die Schönheiten der Altstadt zu bewundern, aber eine größere Attraktion sind wohl doch die Souvenirläden; ich muss gestehen, dass ich sie bisher nie betreten habe. Bei »Käthe Wohlfahrt« gibt es alles, was ein Touristenherz höherschlagen lässt. Ein babylonisches Sprachengewirr dröhnt uns entgegen, doch die Verkäuferinnen im Dirndl sind bestens darauf vorbereitet. Hier kann man alles für das gemütliche Heim, den Weihnachtsbaum, für Halloween und zur Tischdekoration erstehen, für jeden Geldbeutel ist etwas dabei. Meine Freundinnen sind glücklich, nette Mitbringsel für die Daheimgebliebenen zu finden. Einen kurzen Moment lang will ich drängeln, um Zeit für die Heidelberger Schlossruine zu gewinnen, aber dann sehe ich es ein: In einem anderen Erdteil geriete ich wahrscheinlich ebenso in Entzücken über ein ortsübliches Souvenir wie die Kanadierinnen über Baumschmuck aus dem Erzgebirge. In einem kleinen Asienladen beschämt mich Emanuela durch ihr fließendes Chinesisch.
Am letzten Tag machen wir eine lange Kutschfahrt durch Wiesen, Mais- und Tabakfelder und die Altstadt von Ladenburg. Das Wetter ist ein Traum: Es sind jene linden, blauen Stunden des Spätsommers, die Glück oder Wehmut auslösen. Über uns schwirren Mauersegler. Auf dem Kopfsteinpflaster klappern die Pferdehufe wie zu Goethes Zeiten, die Fachwerkhäuser zeigen sich von einer ungewohnten und reizvollen Perspektive. Nicht nur meine Gäste sind begeistert, ich selbst sehe Deutschland plötzlich mit ihren Augen und bin stolz auf meine jetzige Heimat, in der ich weder geboren noch aufgewachsen bin.
Abends werden wir zum Essen eingeladen. Eine urige Wirtschaft erscheint uns passend. Der Kellner stammt aus dem Kongo, und nun fühlen sich unsere Gäste ins bunte Völkergemisch von Toronto zurückversetzt. Wir lachen viel an diesem Abend. Emanuela hat eine Gabe, die ich selten an Frauen beobachtet habe: Sie kann Witze erzählen! Den Grundstein für ihren Fundus haben wohl jüdische Freunde gelegt. Zur Feier des Tages sind alte Frauen das Thema; nur eine feministische Intellektuelle wie Emanuela kann sich so komisch über alle politische Korrektheit hinwegsetzen, dass wir Tränen lachen. Hin und wieder schaut mein Mann ratlos auf die drei Frauen, die sich noch kringeln können wie junge Mädchen.
Der Abschied fällt schwer. Wir beschließen, uns, sooft es geht, zu besuchen. Im Nachhinein stelle ich fest, dass ich unerhörtes Glück hatte: Bereits mit zwölf Jahren fand ich eine humorvolle, originelle und überaus liebenswerte Freundin, mit der man noch lachen kann wie vor fünfundfünfzig Jahren.