Das erste Wort, das ich schreibe, ist AME, mein chinesischer Name. Ich bin fünf, wir leben in Chungking. Bisher habe ich nur mit Inbrunst gemalt: unsere Tiere, Sonne, Mond und ungelenke Männchen, die meine Geschwister und Eltern darstellen sollten. Jetzt endlich zeigt mir mein Vater, wie ich meinen eigenen Namen schreiben kann, und es wirkt wie geheimnisvolle Magie. Es ist ein Zaubertrick, den er mir beibringt. Ich sehe die drei Zeichen und weiß: Das bin ich. Es ist Hexerei.
Neben meinen Bildern ist nun eine zweite Welt entstanden. Ich lerne Lesen und Schreiben und beginne, diese neue Welt für mich zu erobern, denke mir Geschichten aus und schreibe sie heimlich auf.
Ich sehe mich als Mädchen über den Hof unseres Hauses laufen. Eine brave und folgsame Tochter, wie meine Eltern sie sich gewünscht haben. Mein Bruder, der sich mit den chinesischen Kindern in der Nachbarschaft herumtreiben und Abenteuer erleben darf, ist ganz Junge.
Ich lebe schon früh mit einer Hypothek. Ich werde Kinder kriegen und eine gute Köchin sein, eine perfekte Hausfrau, wie man es von mir erwartet. Ich verinnerliche diesen Wunsch meiner Eltern, weil ich sie liebe. Meine ersten Schreibversuche, meine Kindererzählungen, werden von ihnen belächelt, meine Geschichtchen und meine Bilder hält man für recht niedlich. Es ist mir peinlich, ich geniere mich. So wie ich mich später in der Schule, die ich erst mit vierzehn Jahren in Deutschland besuchen werde, schäme, wenn ich den besten Aufsatz geschrieben haben soll.
Von Anfang an bin ich aus zwei unterschiedlichen Träumen gemacht. Der eine will mir die Abenteuer des Reisens und Schreibens schenken, des Erfindens meiner eigenen Welt. Ein friedlicher Höhepunkt dieses Traumes ist ein imaginäres Arbeitszimmer hoch auf einem Berg, von wo aus ich ein Tal überblicke. Dort haben sich, wie in einem Garten Eden, alle Tiere dieser Welt versammelt. Der andere ist der Traum einer mächtigen Tradition und bedeutet Kinder haben, eine eigene Familie.
Zunächst spricht alles für den Sieg der Phantasie, die meine Kindheit in ein Paradies verwandelt: Unser Haus in Nanjing, wo wir mit Puppen Theater spielen, malen und gemeinsam singen. Wir haben Diener, die in einem eigenen Trakt unter sich leben. Einen Koch, einen Boy, einen Kuli zum Putzen, eine Frau, die für uns wäscht. Der Koch bereitet europäische Speisen zu. Abends, wenn er mit meiner Mutter den Speiseplan für den nächsten Tag bespricht, tritt er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Fasche Has, schlägt er vor, Hackbraten, das ist sein eigenes Lieblingsgericht.
Wir Kinder schleichen uns abends häufig in die Küche des Dienerhauses, wo man gemeinsam auf Holzböcken sitzt und gutgewürzte Happen verzehrt. Wie junge Vögel sperren wir die Schnäbel auf und möchten mit Stäbchen gefüttert werden. Hier ist es interessanter als in unserem Zimmer. Meine beiden Schwestern und ich dürfen nicht mit den Chinesenkindern auf der Straße spielen, sondern nur untereinander. Aber Langeweile kennen wir nicht. Am wichtigsten sind mir die Bücher. Ich lese früh, was mir von den Schätzen unserer Bibliothek in die Hände fällt, auch wenn ich vieles noch gar nicht verstehe. Ich bin etwa zehn, als ich mich in einen jungen Mann mit feinem Gesicht und hübschen Locken verliebe. Er heißt Heinrich Heine und lächelt mir aus einem Buch entgegen. Es heißt, er habe kein Glück mit den Frauen gehabt, aber ich weiß genau, dass ich ihn verstanden hätte und er mit mir glücklich geworden wäre.
Als wir 1949 China verlassen, zerreiße ich alle meine Geschichten und vergrabe die Papierfetzen im Garten. Dreizehn Jahre lang habe ich in unserer chinesischen Familienversion des Gartens Eden gelebt. Ein überaus schöpferisches und lehrreiches Leben. Fast ohne Schule.
Nach dem Paradies beginnt ein völlig anderes Dasein in Deutschland, die Trockenzeit in einem katholischen Mädchengymnasium. Hier gehöre ich nicht hin, spüre ich, die Mehrzahl meiner greisen Lehrer ist über sechzig, viele Nonnen sind steif und langweilig. Ich verweigere mich, bin aufsässig, mache keine Hausaufgaben, bin nur körperlich anwesend. Ein Mehlsack auf der Schulbank. Das eigentliche Leben besteht darin, endlich nach Hause zu kommen, den ungeliebten Rock aus- und die Hosen anzuziehen, mich aufs Bett zu werfen und zu lesen. Ich habe Heines Buch der Lieder, die Dramen von Schiller und den Robinson Crusoe hinter mir gelassen und bin fasziniert von Dostojewski und seiner dunklen Seelenschau, die mir zeigt, dass die Menschen eher dem Zwang der Umstände folgen als ihrer Moral.
Ich möchte die Schule so bald wie möglich hinter mich bringen und eigentlich nur lesen und schreiben. Denn ich weiß: Meine Zeilen vor mir auf dem Papier, das bin ich. Aber die Hypothek der Erziehung lastet. Mit Dufflecoat und Pferdeschwanz wandere ich 1950 barfuß und einsam durch die Diplomatenstadt Bad Godesberg, schwärme für die französischen Existentialisten und habe gleichzeitig den Wunsch, später einfach zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Dennoch antwortete ich meinem Vater nach dem Abitur auf seine Frage, was ich nun eigentlich tun möchte: Ich will schreiben.
Das heißt also Journalistin werden, sagt er und vermittelt mir eine Stelle im Time-Life-Verlag. Hier betrete ich ein großes brummendes Redaktionsbüro, bin achtzehn Jahre alt und nichts weniger als erwachsen. Mein Schulenglisch ist hölzern, ich kann weder Maschineschreiben noch Steno. Man setzt mich an einen großen Telefonapparat mit unzähligen Lämpchen und Schaltern, den ich tief beeindruckt anstarre. Dann ruft der erste Journalist an, ein amerikanischer Korrespondent aus Rom, und rapportiert munter in mein Ohr. Ich staune über die sagenhafte Geschwindigkeit, in der er Sätze bildet, und bringe keinen Ton heraus. Eine Stunde später schickt man mich mit einem mitleidigen Lächeln nach Hause. Ich beginne, Kunstgeschichte und Germanistik zu studieren, mit der wenig inspirierenden Aussicht, Lehrerin zu werden.
Die Heirat rettet mich. Ich bekomme in dreieinhalb Jahren drei Kinder. Mein Leben gehört jetzt meiner Familie. Aber in dem Maße, wie der eine meiner beiden Träume in Küchendunst und Kindergeschrei Wirklichkeit wird, wächst der andere heimlich heran. Manchmal plagt er mich wie ein Vorwurf, verfolgt mich im Schlaf, indem er die Bilder eines stets missglückten Aufbruchs wiederholt: Ich möchte verreisen, das einengende Haus verlassen und in die Welt hinausziehen. Aber es gelingt mir nicht.
Ich ziehe meine Strümpfe an, und sie zerreißen. Ich möchte den Wagen starten und stelle fest, dass der Tank leer ist, ich stehe am Flughafen, und man sagt mir, mein Pass sei abgelaufen.
Abhauen geht eben nicht, ich bin eine verheiratete Frau, sorge für eine Familie und habe Pflichten. Ich selbst habe die Umstände geschaffen, die mich am Aufbruch hindern. Mein zweiter Traum ist aufsässig geworden wie ich selbst in meiner Schulzeit. Er verfolgt mich bis zu meinem fünfundfünfzigsten Lebensjahr, bis zu dem Tag, an dem mein erstes Buch veröffentlicht wird. Dann lässt er mich in Ruhe.
Jetzt habe ich endlich den Platz und die Muße, die man zum Schreiben braucht, und immer wenn ich auf dem Blatt Papier vor mir eine Geschichte wachsen sehe, stelle ich fest, dass der Zaubertrick meines Vaters noch immer funktioniert: Die Wörter vor mir auf dem Papier, das bin ich.