Mein Vater hatte Charisma, war witzig, aber gelegentlich auch sentimental oder melancholisch. Wenn er mich und meine Geschwister fixierte, fühlten wir uns sofort durchschaut, doch wenn er uns an seinen fülligen Bauch drückte, spürten wir seine Liebe wie einen wärmenden Ofen.
Traditionell gesehen hatte mein Vater einen christlichen Hintergrund, aber er stand allen Religionen skeptisch gegenüber und mochte vor allem keine Missionare. In seiner Jugend war er ein Abenteurer und Draufgänger, der als junger Arzt mit meiner Mutter nach China auswanderte. Er vermochte so fesselnd zu erzählen, dass man gebannt zuhörte. Wenn er beim Mittagessen gut aufgelegt war und wir Freunde mitgebracht hatten, waren wir stolz auf unseren Entertainer. Er war nie beleidigt über unser Gelächter, wenn er – der keinen Ton treffen konnte – »O mein Papa« sang.
Mein Vater war der erste Mann, der mir in meinem Leben Komplimente machte. Ich war etwa sechzehn, als er mich zur Belohnung für die geglückte Versetzung zum Essen in den feinen Bad Godesberger französischen Club einlud. In fließendem Französisch bestellte er das Menü. Meine Begeisterung wurde etwas gedämpft, als der Kellner auf Rheinisch antwortete. Als mein Vater am Herzinfarkt starb, war ich neunzehn und nicht völlig abgenabelt. Für mich brach eine Welt zusammen; natürlich habe ich ihn ziemlich lange idealisiert.
Letzten Endes war mein Vater hemmungslos genug, seinen frühen Tod in Kauf zu nehmen. Er war notorischer Kettenraucher, aß und trank zu viel und konsumierte morphinhaltige Medikamente. Abgesehen von der Lust an gutem Essen, bin ich viel disziplinierter.
Schon als kleines Mädchen hat er mich für Heinrich Heine begeistert. Von ihm habe ich gelernt, über mich selbst zu lachen, gegen Vorurteile anzukämpfen und über die unterschiedlichsten Menschen und Meinungen nachzudenken. Gern erzählte er folgende Geschichte: Auf einer Expedition übernachtete er mit einem Freund in einer mongolischen Karawanserei. Außer ihnen lag nur ein weißbärtiger Chinese auf dem Ofenbett. »Ob dieser Tattergreis wohl stinkt und schnarcht?«, fragte der andere Deutsche. Daraufhin setzte sich der Alte langsam auf und zitierte: »Meine Herren, des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil.« Die Moral dieser Anekdote habe ich bis heute beherzigt.