Eines Nachts wurde Angela wach, weil der Rücken juckte. Schlaftrunken stand sie auf und suchte das langstielige Kratzhändchen ihrer verstorbenen Oma, um sich an der unzugänglichen Stelle ausgiebig zu schubbern. Nur mühsam schlief sie wieder ein, doch am frühen Morgen ging es wieder los. Diesmal schabte sie so heftig, dass es fast blutete.

Auch im Laufe des Tages musste Angela das Händchen mehrfach zur Hand nehmen, bis sie sich schließlich mit Hilfe zweier Spiegel ein Bild ihrer Qualen machte. Rechts und links unterhalb der Schulterblätter, absolut symmetrisch angeordnet, entdeckte sie zwei stark gerötete, leicht erhabene Punkte.

Mein Bruder hatte kürzlich Herpes zoster, dachte sie, die Gürtelrose fing bei ihm am Rücken an, das wird es wohl sein. Sollte sie sofort zum Arzt gehen? Bevor sie sich zu einem derart aufwendigen Schritt entschloss, wollte sie erst einmal ihre Nachbarin

»Da ist was im Busch«, meinte Johanna. »Fast sieht es so aus, als ob ein Furunkel in der Warteschleife sitzt – aber ungewöhnlich, dass so was auf beiden Seiten gleichzeitig auftritt. Vielleicht ist es doch nur eine Allergie! Ich habe noch eine Cortisoncreme im Schrank, die mache ich dir mal drauf, damit es sich beruhigt.«

Angela war sich nicht ganz sicher, ob das bei einer Entzündung die richtige Therapie war, aber man konnte es ja versuchen. Das Jucken wurde tatsächlich etwas besser, aber dafür brannte und pochte es jetzt.

Die Hautärztin, die Angela in ihrer Verzweiflung endlich aufsuchte, war ratlos. Sie hielt eine Leuchtlupe über die obskuren Flecken, tastete, quetschte, zupfte, pikste und pinselte auf Angelas Rücken herum, kam aber zu keiner eindeutigen oder auch nur im Geringsten überzeugenden Diagnose.

»Es handelt sich wahrscheinlich um einen kleinen Fremdkörper«, sagte sie schließlich. »Möglich wäre zum Beispiel der seltene Fall, dass sich Zellen eines schon im frühen Embryonalstadium abgestorbenen Zwillings weiterentwickelt haben und plötzlich ans Licht drängen. Ich trage jetzt eine abschwellende Salbe auf und klebe ein Pflaster

Doch bereits zehn Stunden später löste sich das Heftpflaster ab, und Angela sah im Spiegel, dass sich die zarte Spitze eines Federchens durch ihre strapazierte Haut bohrte. Sie erschrak maßlos. Konnte es sein, dass ihr toter Zwilling ein Huhn gewesen war?

Die gute Johanna zog die schneeweiße Daune mit einer Pinzette heraus und schüttelte befremdet den Kopf. »Wie mag die da hineingeraten sein? Soviel ich weiß, hast du doch eine synthetische Bettdecke«, meinte sie. »Hast du kürzlich in einem Gänsestall geschlafen? Und an der zweiten geröteten Stelle scheint sich etwas Ähnliches anzubahnen!«

Mühsam entfernte auch die Ärztin hauchfeinen Flaum und weitere Federn und riet zu einem operativen Eingriff. Da der akute Juckreiz jedoch aufgehört hatte, ließ auch Angelas Leidensdruck merklich nach. Sie beschloss, die Praxis nicht gleich wieder zu besuchen, sondern abzuwarten, ob ihr verhexter Zwilling nicht irgendwann als Schwan davonfliegen würde.

Der Gedanke war nicht ganz abwegig, denn nach vier Wochen war es deutlich zu erkennen: Angela wuchsen Flügel. Anfangs fand sie das unglaublich aufregend und phantastisch, aber schon bald gab

Schweren Herzens entschloss sich Angela nun doch zu einer Amputation und suchte einen Chirurgen auf.

»Das ist auch für mich absolutes Neuland, lässt sich aber in den Griff kriegen«, sagte der Spezialist. »Es wird wohl kaum Komplikationen geben, aber es ist trotzdem kein kleiner Eingriff. Wir müssen den beiderseitigen Bereich ziemlich tief freilegen, damit wir Ihre Flügel auch wirklich mit Stumpf und Stiel ausrotten und sie am Ende nicht wieder nachwachsen …«

Ein Termin wurde vereinbart, Angela begann, sich zu ängstigen. Bisher war sie erst einmal im Leben operiert worden, und das war mit sechs Jahren am Blinddarm.

Doch ihr blieb wohl keine Wahl.

Als sie am Abend vor dem Eingriff im Bett der Klinik lag, setzte sich der Anästhesist noch eine Weile zu ihr. Nachdem er sie über Risiken und Nebenwirkungen sachgemäß aufgeklärt hatte, bat er darum, die weißen Fittiche einmal sehen zu dürfen.

»Eigentlich finde ich es auch schade«, sagte Angela, »aber was soll ich machen? Mir passt kein einziges Oberteil. Ich kann doch nicht mitten im Sommer in einem unförmigen Poncho herumlaufen!«

»An Ihrer Stelle«, sagte der Narkosearzt und strich andächtig über das weiche Gefieder, »würde ich mir einen Schneider suchen, der ein wenig kreatives Geschick hat. Was spricht dagegen, zwei Schlupflöcher mit Längsschlitzen für die Flügel in Ihre Gewänder einzuarbeiten? Und denken Sie mal nach, was für eine Karriere vor Ihnen liegen könnte!«

Angela dachte nach, stornierte die Operation und wurde in wenigen Jahren eine reiche Frau. Zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn posierte sie auf Weihnachtsmärkten und mimte auf Kindergeburtstagen die Zahnfee. Als Model für Werbespots wurde sie bald überregional bekannt, und schließlich rief Hollywood. Als sie nach einigen Jahren Los Angeles und die Filmbranche satthatte, hob Angela ab, flog laut krächzend in die alte Heimat zurück und heiratete den Anästhesisten. Sie war im Grunde immer ein bodenständiger Mensch geblieben.