Schweigend gingen sie zum Streifenwagen, in dem die Frau saß, die die Leichen gefunden hatte. Lewandowski öffnete die hintere Autotür, legte den Ellbogen aufs Dach und beugte sich vor. Auf der Rückbank kauerte eine verstörte Frau.
Während Lewandowski an der Autotür stehen blieb, ging Linda um das Auto herum, öffnete die Tür und rutschte von der anderen Seite auf die hintere Bank neben die Insassin. Hier fand sie eine korpulente Frau vor, um die 40, mit blondem, helmartigem Haarschopf.
»Hallo. Ich bin Kommissarin Linda Lange, und das ist Hauptkommissar Michael Lewandowski. Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Die Frau starrte Linda mit weit aufgerissenen Augen an und machte nicht den Eindruck, zu einer Befragung imstande zu sein. Doch sie nickte, schnäuzte sich die Nase, sah zu Lewandowski hoch und wandte sich dann Linda zu. Ein Gespräch von Frau zu Frau auf Augenhöhe schien ihr lieber zu sein als eines mit einem grimmig dreinblickenden Kerl, der bedrohlich über einem stand.
Linda schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Sie arbeiten für die Lohmanns, Frau …?«
»Lackner. Olivia Lackner. Ich arbeite für sie seit fast drei Jahren. Ich komme immer montags, mittwochs und freitags gegen acht Uhr morgens für fünf Stunden, so wie heute …« Sie brach ab.
Ihre Fassungslosigkeit war mit Händen greifbar.
»Nur vormittags?« Einfache Fragen, auf die es einfache Antworten gab. Das machte es Zeugen leichter. Es wirkte.
Olivia Lackner nahm den Faden dankbar auf. »Ja, nur vormittags, wenn niemand im Haus ist. Herr Lohmann ist um diese Zeit schon in seiner Firma, Frau Lohmann bringt die Kleine in den Kindergarten und geht danach ins Fitnessstudio oder zum Golfspielen. Ich bin fast immer allein.«
»Was waren die Lohmanns für Leute?«
Wie gewohnt überließ Lewandowski ihr eine Befragung, die weibliches Fingerspitzengefühl erforderte, und mischte sich nur ein, wenn es nötig war. Nicht, dass er dieses Gespräch nicht auch hätte führen können, bei Bedarf konnte er das personifizierte Mitgefühl sein.
»Ehrlich gesagt, kenne ich sie kaum, ich habe sie nur selten gesehen. Aber sie schienen nett zu sein. Es hat nie Schwierigkeiten gegeben.«
»Glauben Sie, dass die beiden in einer Ehekrise steckten? Wollten sie sich vielleicht trennen?«
»Wieso?« Die Frau schien diese Frage nicht zu verstehen.
»Sie können sich nicht erklären, was hier geschehen ist?«
»Wer hat das getan?«, brach es aus ihr heraus. »Wer erschießt eine Frau und ein kleines Mädchen? Das ist so furchtbar. Der arme Herr Lohmann … weiß er schon, was geschehen ist?«
Du weißt nicht, was noch passiert ist, du bist nicht weitergegangen, du hast ihn gar nicht gesehen. Linda verstand augenblicklich. Sie würde die Frau jetzt nicht über das ganze Drama aufklären.
»Wir müssen erst die Spuren auswerten. Aber könnte es denn jemanden geben, der einen Grund gehabt hätte, den Lohmanns das anzutun?«
Die Frau starrte sie fassungslos an. »O mein Gott, ich will auf keinen Fall in so etwas mit hineingezogen werden.«
»Sie haben doch nur die Leichen gefunden«, versuchte Linda, die Frau zu beruhigen, erreichte damit aber genau das Gegenteil.
»Kann ich gehen?«, fragte die Frau, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.
Linda fischte eine Visitenkarte heraus. »Falls Ihnen noch etwas einfällt. Ein Kollege wird Sie nach Hause fahren. Aber halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, Frau Lackner.«
Damit stieg sie aus dem Wagen. Lewandowski schloss die Wagentür und winkte einen Streifenpolizisten herbei. »Bringt sie nach Hause.«
Von ihr würden sie heute nichts erfahren, was ihnen bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte. Langsam gingen die beiden zum Haus zurück, aus dem die Kollegen herausschwärmten wie Bienen aus einem Stock.
Drei schlichte Särge beendeten die Prozession.
Als der Tatort endlich freigegeben war, kehrten Linda und Lewandowski zurück in die Villa, um sich in aller Ruhe umzusehen.
»Du oben, ich unten«, schlug Lewandowski vor.
Andere Kollegen hätte diese Aussage womöglich mit einem Augenzwinkern ins Zweideutige gezogen, Lewandowski lagen solche Anspielungen fern. Er hatte nur die Aufgaben verteilt. Sie würde sich das obere Stockwerk vornehmen, er das untere.
Während Linda die Treppenstufen erklomm, lauschte sie, ob die Stufen unter ihren Füßen Geräusche von sich gaben. Kein Mucks war zu hören, ein Eindringling konnte geräuschlos über die Treppe nach oben und nach unten gelangen. Aber es hatte keine Einbruchspuren am Haus gegeben. Sie schob diese Gedanken beiseite. Niemand war eingedrungen. Lohmann war der Täter.
Vom Flur oben gingen vier Türen ab. Sie nahm sich das Schlafzimmer der Eltern vor. Ein großes Panoramafenster gab den Blick in den Garten frei. Was für ein Luxus, jeden Morgen mit dieser Aussicht aufzuwachen, dachte sie.
Es gab sogar einen Pool im Garten. Und für die blühende Pracht da unten war mit Sicherheit ein Gärtner zuständig. Sie musste an ihren Balkon denken, auf dem momentan irgendwelche undefinierbaren Überbleibsel vom letzten Jahr vor sich hin welkten.
Hier roch alles nach Geld, draußen und drinnen. Auf dem überdimensionierten Boxspringbett lag eine Decke aus echtem Tierfell. Vermutlich Wolf. Linda lugte unter die kostbare Decke, wo sie auf Bettwäsche aus reiner Seide stieß. Traurig ließ sie die Fingerspitzen darüber gleiten. Nichts davon konntet ihr mitnehmen.
Sie warf einen Blick in die Nachtkästchen und dann in die Kommode gegenüber, über der ein überdimensionierter Flachbildschirm hing. Auf der Kommode standen Fotos, die die Lohmanns in glücklichen Zeiten zeigten. Ihr Blick fiel auf ein Bild, auf dem das Ehepaar eng umschlungen in die Kamera strahlte.
Vom Schlafzimmer aus führten zwei weitere Türen in Nebenräume. Sie ging ins Badezimmer, öffnete die beiden Türen des Spiegelschranks, der über dem Waschbecken hing, und stöberte durch das Fach, in dem sich zahlreiche Medikamente befanden. Vom Aufputschmittel bis zum Tranquilizer war alles vorhanden, was die Pharmaindustrie zu bieten hatte, um der Realität zu entfliehen. Linda entdeckte ein Beruhigungsmittel, das die Ärztin ihr nach dem letzten Fall verordnet hatte. Sie hatte es ihr mit der Warnung gegeben, vorsichtig damit umzugehen, weil es ruckzuck süchtig machte. Wer von euch hatte das nötig und warum? Irritiert schloss Linda die Türen des Spiegelschranks und drehte sich um.
Sie entdeckte die begehbare Dusche, in der leicht fünf Menschen Platz gefunden hätten; auch die frei stehende Badewanne war für eine Person zu groß.
Als Nächstes nahm sie sich das Ankleidezimmer vor, das größer als ihr eigenes Wohnzimmer war. Ihr Blick glitt über teure Dessous, Markenkleidung, Schuhe und Handtaschen von Designern, die sie sich mit ihrem Gehalt niemals leisten könnte.
Lohmann musste ein Vermögen verdient haben mit seiner Sicherheitsfirma, um sich das hier erlauben zu können. Mit dem Gehalt eines Ermittlers war das unmöglich. Aber konnte so eine Firma innerhalb weniger Jahre derart viel Gewinn abwerfen? Zweifel nagten an ihr.
Linda verließ das Schlafzimmer und betrat das Kinderzimmer. Hier hatte kein Kind, sondern eine kleine Prinzessin gelebt. Jetzt nicht mehr, dachte sie traurig. Irgendjemand, vielleicht der eigene Vater, hatte ihr zwei Kugeln in den Körper gejagt und ihr junges Leben brutal ausgelöscht.
Verdammt, was war hier nur geschehen? Wie hatte es so weit kommen können?
Nach dem Kinderzimmer widmete sie sich dem Arbeitszimmer. Sie nahm den Fenstergriff in die Hand, öffnete das Fenster und sah sich die Konstruktion an. Rahmen und Griff waren sicherheitsverstärkt, das Glas war zudem schusssicher, wie sich aus der Dicke schließen ließ. Das war vermutlich überall im Haus so. Aber warum? Entweder hatte Lohmann Angst gehabt, oder dieser Aufwand war seinem Beruf geschuldet gewesen.
Natürlich zählte der Herzogpark als Nobelgegend zu einem einbruchgefährdeten Viertel der Stadt, und immer wieder kam es vor, dass osteuropäische Einbrecherbanden mit unfassbarer Brutalität hier heuschreckengleich einfielen und alles abgrasten ohne Rücksicht auf Verluste. Aber vielleicht hatte Lohmann Drohungen aus dem Drogenmilieu bekommen, war jemandem Geld schuldig geblieben oder in gefährliche Machenschaften verstrickt gewesen. Sie würde dieser Sache auf den Grund gehen, Selbstmord hin oder her.
Nach der vorläufigen These hatte sich der Mann hier oben nach seiner furchtbaren Bluttat selbst an der Galerie aufgeknüpft und erhängt. Wie hätte ich an deiner Stelle gehandelt?, fragte sie sich. Warum hast du dich nicht erschossen? Das hätte dir einen schnelleren und leichteren Tod beschert als diese grauenvolle Selbststrangulation. Ob er sich für seine Untaten am Ende noch selbst bestrafen wollte? Wer konnte schon in eine verwirrte Seele blicken?
Sie sah sich weiter um. Es gab einen großen Schreibtisch, den Computer, der hier gestanden haben musste, hatten die Kollegen bereits mitgenommen. Sie öffnete die Schubladen. Hier würde sie nichts Wesentliches mehr finden.
»Gibt’s hier was von Bedeutung?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Linda zuckte zusammen. »Nein, riecht nur alles aufdringlich nach Geld.«
»Unten auch. Ich hatte keine Ahnung, dass man mit so einem Business derart viel Kohle machen kann. Wir sollten die Branche wechseln.«
Linda nickte. »Wir müssen einen Blick in seine Bücher werfen.«
»Wenn es Selbstmord gewesen ist, besteht dazu kein Grund.«
»Selbstmord? Glaub ich nicht.«
»Warten wir ab, was die Spurenauswertung und die Autopsie ergeben«, fing Lewandowski sie wieder ein.
»Aber den Grund für diese Wahnsinnstat sollten wir schon herausfinden. Ich schau mich unten noch um.«
Während sie sich das Erdgeschoss vornahm, versuchte sie, sich ein Bild vom Hergang der Tat zu machen. Da beide Opfer von hinten erschossen worden waren, könnten sie vor ihrem Mörder geflüchtet sein, überlegte sie. Hatte es zuvor einen Streit gegeben, und die beiden hatten versucht, vor dem wahnsinnigen Ehemann und Vater davonzulaufen? Wollten sie hinaus in den Garten? Linda ging zur großen Fenstertür, öffnete einen Flügel und trat ins Freie. Frische Luft schlug ihr entgegen. Sie sah sich im Garten um und ging ins Haus zurück. Im Flur führte eine Treppe hinunter in den Keller.
Dort waren die Wände gesäumt von großen Weinschränken mit Glastüren. Linda sah eine Batterie von Champagnerflaschen. Sie ging weiter und betrat ein Spa, um das manches Hotel die Hausbesitzer beneidet hätte. Whirlpool, Sauna, dazu einen Fitnessraum, der perfekt ausgestattet war. In der Ecke hing ein Boxsack von der Decke. Auf einem Beistelltisch, der in der Ecke stand, entdeckte Linda Boxhandschuhe und Bandagen für die Hände.
Sie warf noch einen schnellen Blick in die Nebenräume, dann ging sie wieder nach oben.
Lewandowski erwartete sie bereits an der Haustür. »Starker Tobak für deinen ersten Einsatz.«
Es lag in der Natur ihres Berufs. Wer bei der Mordkommission arbeitete, wurde nicht mit Bagatellen, sondern mit Verbrechen konfrontiert. Wenigstens waren hier alle tot, es gab keine Hinterbliebenen, die mit dem Unfassbaren weiterleben mussten.
Die Rückfahrt vom Herzogpark in die Innenstadt entwickelte sich zur Geduldsprobe. Sie steckten in einer Blechkolonne fest und kamen nur im Schritttempo voran.
»Scheißverkehr.« Lewandowski platzte der Kragen. »Es wird immer schlimmer in dieser Stadt.«
Linda schwieg. Er hatte ja recht, wozu Öl ins Feuer gießen? Der Autoverkehr in München hatte sich im Lauf der Jahre zu einem Problem entwickelt. Das Straßennetz war mit dem wachsenden Ansturm nicht mitgewachsen. Was die wichtigsten Verkehrsadern betraf, die München wie ein Geflecht aus Arterien und Venen durchzogen, hatte sich in den vergangenen 50 Jahren kaum etwas verändert. Wie auch, eine Stadt bot keine Ausweichflächen, das ging nur noch unterirdisch. Und die wenigen Tunnel, die gebaut worden waren, hatten kaum Entlastung gebracht. Der tägliche Verkehrskollaps war zum Normalzustand geworden.
Genervt setzte Lewandowski das Blaulicht aufs Wagendach, und binnen Sekunden teilte sich die Blechlawine, und sie konnten ungehindert passieren. Dass diese Aktion nicht erlaubt war, scherte ihn wenig. Sie hatten es nun mal eilig.