Kapitel 12

Das penetrante Zwitschern eines Vogels hatte Steffen Weihrich geweckt. Der Schreihals saß vermutlich auf dem Mast und kackte die Plane voll. Er sollte dem Krakeeler den Hals umdrehen.

Er versuchte, das Gekreische zu ignorieren, und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Das Bett schaukelte sanft, ein schönes Gefühl, wäre seine Lage nicht so beschissen. Gerade mal eine Woche hatte er seine neu gewonnene Freiheit genießen können, jetzt befand er sich auf der Flucht und musste sich vor einer Horde beißwütiger Bullen verstecken, die nicht lockerlassen würden, bis sie ihn hatten.

Selbstmitleid kroch in ihm hoch. Wenigstens war er hier unter Deck sicher, und sein Proviant würde für ein paar Tage reichen.

Leonie hatte ihn auf dieses Boot gebracht. Es gehörte einem reichen Ehepaar aus Düsseldorf, der Frau machte sie immer die Nägel, wenn sie in München weilten. Zum Glück hatte Leonie gewusst, wo das Boot lag und dass das Paar abgereist war. Sie würden so schnell nicht zurückkommen. Vorerst war er hier sicher.

Kaum war die Bullenschlampe vorgestern aus dem Nagelstudio verschwunden, hatte Leonie ihn mit dem Mobiltelefon ihrer Kollegin angerufen und gewarnt. Schlaues Mädchen, seine Leonie, dachte er. Er hatte gerade einen supergeilen Burger mit Fries und Ketchup verdrückt, als ihr Anruf ihn aufgeschreckt hatte.

Er war in die S-Bahn gesprungen und nach Starnberg gefahren. Von da war es nur ein Katzensprung zum Jachthafen gewesen. Dort hatte er sich versteckt und auf Leonie gewartet, die ihn zu diesem Boot gebracht hatte. Sie hatte Tüten mit Lebensmitteln und Getränken mitgebracht, außerdem ein Prepaid-Handy, Tabak zum Selberrollen und etwas Gras.

Mit diesen Habseligkeiten war er unter die Plane gekrochen und unter Deck verschwunden. Das Türschloss der Kajüte zu knacken, hatte ihn genau drei Sekunden gekostet.

Das Ehepaar, dem die Jacht gehörte, besaß auch noch ein Ferienhaus am See, der Weg dorthin war jedoch zu weit und zu gefährlich. Die Jacht war für einen, der schnell von der Bildfläche verschwinden musste, die bessere Wahl gewesen.

Häuser, Jachten, Kohle, manche hatten echt alles. Warum nicht er? Eigentlich waren Mark und er auf dem besten Weg in ein solches Leben gewesen, hätte dieses Bullenschwein ihnen nicht dazwischengegrätscht. Warum hatte dem nicht schon viel früher jemand das Licht ausgeknipst? Jetzt spielte es keine Rolle mehr, dass der Bulle tot war. Selbst aus seinem Grab heraus machte dieser Untote ihm das Leben zur Hölle.

Und er harrte hier seit einer gefühlten Ewigkeit aus. Er hatte sich in einen Geist verwandelt, doch der hätte wenigstens unsichtbar umherwandeln können. Er durfte weder an Deck auftauchen noch durch irgendwelche Geräusche auf sich aufmerksam machen.

Zeit totschlagen hatte er im Knast gelernt, aber da hatte es einen Tagesablauf und etwas Abwechslung gegeben. Hier unter Deck geschah rein gar nichts. Gelegentlich hörte er Stimmen von anderen, die zu ihren Booten wollten oder anlandeten. Manchmal tuckerte ein Motor, oder so ein Vogel nervte mit seinem Gekreische. Aber ansonsten geschah nichts, rein gar nichts.

Ich liege in einem Riesensarg, bemitleidete er sich selbst, ich muss hier raus und weit weg. Nur wie und wohin, dafür hatte er keinen Plan.

Er hob den Kopf, öffnete die Vorhänge an der Bordluke über seiner Koje einen Spaltbreit und linste hinaus. Mehr als den Rumpf des Nachbarbootes konnte er nicht erkennen. Im Knast hatte er den Himmel sehen können. Aber hier? Rein gar nichts. Es gab noch nicht einmal eine Glotze.

Für ein paar Tage würde er sich hier verstecken können, aber er hatte keinen Schimmer, wie er wegkommen sollte. Selbst wenn er es aus Deutschland heraus schaffen würde, wo sollte er bleiben?

An allem war dieser Lohmann schuld, dieser Zombie. Tote lebten länger.

Dass er überhaupt über eine Flucht nachdenken musste, empfand er als zutiefst ungerecht. Er hatte, seit er wieder draußen war, überhaupt nichts angestellt, noch nicht einmal Drogen gekauft. Und für alles andere hatte er seine Strafe abgesessen.

Aber jetzt wollten sie ihm einen Mord anhängen, an einem Bullen, der korrupt und verlogen gewesen war wie der Teufel höchstpersönlich. Lebenslänglich in den Bau, so wie Mark, das würde er nicht durchstehen. Dann sollten sie ihn lieber auf der Flucht erschießen, allemal besser, als jämmerlich im Knast zu verrotten.

Es gab natürlich noch eine ganz andere Möglichkeit. Vielleicht würden die Bullen zur Abwechslung mal ihren Job machen und den Mörder finden. Schließlich wusste er am allerbesten, dass er der Falsche war. Nur hatte er keine Chance, sie davon zu überzeugen. Dazu müssten sie den finden, der Lohmann tatsächlich auf dem Gewissen hatte.

Ob Mark die Finger im Spiel hatte? Niemals. Klar hatte er Lohmann die Pest an den Hals gewünscht, sich ausgemalt, wie er ihn langsam ausweiden und in Scheiben schneiden würde, aber dafür einen Mord aus dem Knast zu organisieren? Ausgeschlossen. Nicht Mark. Der hatte dafür weder die Kohle noch den Mumm. Mark war genauso wenig ein Killer wie er.

Vielleicht war es dieser Bianchi gewesen, obwohl er sich nicht erklären konnte, warum der nach drei Jahren hier plötzlich auftauchen sollte, um einen Bullen umzulegen. Wer das Wunder vollbracht hatte, jahrelang von der Bildfläche zu verschwinden, der kam nicht zurück und riskierte alles. So bescheuert war keiner.

Aber Lohmann hatte sich aus dem Grab zurückgemeldet, warum sollte nicht auch Bianchi zum Wiedergänger geworden sein? Schwachsinn. Wie er es auch drehte und wendete, er fand keine Antworten. Außerdem musste er sich damit nicht das Hirn zermartern. Er hatte andere Probleme, um die er sich zu kümmern hatte.

Er schwang die Beine aus dem Bett und benutzte die Toilette, auf eine Dusche verzichtete er. Das Bad hier unten war echt klasse, aber duschen fiel flach. Zu laut. Auch die Küche war top. Er nahm sich einen Donut und machte sich eine Tasse Instantkaffee.

Nach diesem Frühstück rollte er sich einen Joint. Damit ließ sich die Zeit hier unten am besten totschlagen, während er darauf wartete, was Leonie für ihn klarmachen würde. Sie hatte versprochen, dass sie ihm zur Flucht verhelfen und später nachkommen würde.

Er konnte sich lebhaft vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten sie sich jetzt herumzuschlagen hatte. Er hatte sie gewarnt, die Bullen würden jeden ihrer Schritte verfolgen. Sie musste auf der Hut sein, als wäre sie selbst auf der Flucht.

Leonie war eine super Braut mit geilen Brüsten, die wenig Stress machte und sogar zu ihm gehalten hatte, als sie ihn eingebuchtet hatten. Und auch jetzt war sie seine Rettung gewesen. Auf Leonie ließ er nichts kommen. Sie war seine Nabelschnur nach draußen und in die Freiheit.

Er fläzte sich auf das Bett. Das Gras zeigte allmählich seine Wirkung. Gutes Zeug, das sie da besorgt hatte. Er ließ seinen glasigen Blick schweifen. Was man sich mit Geld alles so leisten konnte. Auf so einer Jacht war er noch nie gewesen, geschweige denn hatte er unter Deck in einer so geilen Kajüte geschlafen. Aber im Grunde hatte er nur seine Scheißzelle gegen einen Scheißluxussarg getauscht.

Wie lange er es hier unter Deck aushalten würde, stand in den Sternen. Und die waren noch nie auf seiner Seite gewesen.