Kapitel 13

Lewandowski öffnete stöhnend die Augen, auf denen die Lider wie Blei lasteten. Jemand trat von innen gegen seine Schädeldecke und zog die Fontanelle auseinander. Sein Kopf war kurz vor dem Platzen. Er massierte seine schmerzenden Schläfen und dachte missmutig an den gestrigen Abend.

Es hätte nur ein Drink mit Kollegen werden sollen, aber es hatte weiß Gott viele gute Gründe zum Feiern gegeben. Nicht nur, dass Linda zurück war, sie schien auch wieder die »Alte« zu sein, leidenschaftlich, engagiert, instinktsicher, und sie hatte am zweiten Tag nach ihrer Rückkehr dazu beigetragen, dass der Fall in Windeseile so gut wie gelöst worden war.

Ich bin zu alt für diese Exzesse, dachte er übellaunig und rieb sich über den hämmernden Schädel. Er brauchte eine Kopfschmerztablette, besser zwei, aber nicht auf leeren Magen, der produzierte sowieso schon einen Säurespringbrunnen. Dösend lag er im Bett und wartete auf das Klingeln des Handyweckers.

Während er versuchte, seinen Körper in Gang zu bringen, erinnerte er sich daran, dass er von seinen Ex-Frauen geträumt hatte, von allen dreien. Es war ein Albtraum gewesen. Kein Wunder, dass es ihm mies ging.

Er sah nach rechts, wo normalerweise Mira lag. Das Bett war leer. Ach du Scheiße, dachte er, wo steckt sie denn? Dann fiel es ihm ein.

Als er spät und angetrunken mit dem Taxi nach Hause gekommen war, hatte Mira in der Küche gestanden und irgendetwas Verkohltes in den Müll gepfeffert. Ein Blick hatte genügt, um festzustellen, dass sie auf Streit aus gewesen war. Er hatte vergessen anzurufen, um ihr mitzuteilen, dass es später werden würde.

Wie er dieses Geschaue und Getue sattgehabt hatte. Das hatte ihn bei seinen Ex-Frauen schon in den Wahnsinn getrieben, und Mira tat es ihnen gleich. Warum sagte sie nicht einfach, was los war, statt mit diesem Verhalten einen Streit heraufzubeschwören, der ihm einen bis dahin fröhlichen Abend versauen würde.

»Auch schon da«, hatte sie ihn angeblökt.

»Ich will keinen Streit. Ich hatte einen langen Tag.«

»Du Armer.«

Lewandowski hatte tief Luft geholt, jetzt oder nie. »Ich …«

Mira war schneller gewesen. »Ich geh ins Bett.« Damit hatte sie ihn stehen lassen und ins Schlafzimmer verschwinden wollen. In sein Schlafzimmer.

»In Ordnung. Aber geh bitte in dein eigenes Bett.«

Mira war abrupt stehen geblieben und hatte ihn völlig verständnislos angesehen.

»Ich möchte, dass du nach Hause gehst.«

»Du wirfst mich raus?«

Nicken.

»Ist das dein Ernst?«

Erneutes Nicken.

»Wenn du mich jetzt gehen lässt, komme ich nicht wieder.«

Noch ein Nicken.

Mira schien den Ernst der Lage nicht begriffen zu haben, sondern hatte ihn mit einem Blick angestarrt, in dem Wut und Verwirrung gestanden hatten.

»Geh bitte.«

»Du machst Schluss?«

»Ja.«

Sie hatte nach Luft geschnappt. Um ihr keine Munition zu liefern, hatte er sich blitzschnell auf den Balkon verzogen und nach wenigen Sekunden den lauten Knall gehört, als sie die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen hatte.

Das war geschafft.

Langsam war er zurück ins Haus geschlichen, immer noch unsicher, ob sie wirklich gegangen war. Auf dem Küchenblock hatte ein Schlüssel gelegen. Ab jetzt gehörte diese Wohnung, nein, sein Leben wieder ihm.

Das war gestern gewesen.

Er griff nach seinem Mobiltelefon, das auf dem Nachttisch lag. Kein Anruf. Keine Nachricht. Zufrieden legte er es zurück. Das hatte nur eines zu bedeuten: Sie hatten Steffen Weihrich noch nicht erwischt. Es bestand kein Grund zur Eile.

Er schaltete den Wecker aus, der in wenigen Minuten Alarm schlagen würde. Mira sollte weiterschlafen, denn auf ihren vorwurfsvollen Blick wegen gestern Abend hatte er am allerwenigsten Lust. Er tippte sich gegen die Stirn. Mira war gar nicht mehr da, er musste sich an die neue Situation erst wieder gewöhnen.

Ächzend quälte er sich aus dem Bett. Als er stand, schwankte er wie auf einem Bootsdeck bei rauer See. Am liebsten hätte er sich gleich wieder aufs Ohr gehauen.

Er besann sich: Wer saufen konnte, konnte auch arbeiten.

Die Fahndung nach Weihrich lief auf Hochtouren. Jenner saß im Vernehmungsraum mit Weihrichs Freundin Leonie Elstner und bombardierte sie mit Fragen nach dessen Aufenthaltsort. Linda verfolgte die Vernehmung vom Nebenraum aus hinter der Scheibe. Lewandowski war noch nicht aufgetaucht. Aber im Moment wurde er noch von niemandem vermisst. Linda hatte darauf verzichtet, Weihrichs Freundin in die Mangel zu nehmen. Sie hatte keine Lust dazu. Sollte Jenner sich an ihr abarbeiten – was er mit sichtbarem Vergnügen auch tat.

Irgendwann hatte Linda genug und ging nach draußen. An der Kaffeemaschine stieß sie auf Lewandowski, der sich gerade eine Tasse einschenkte.

»Hat sie schon gesungen?«, wollte er von ihr wissen.

»Noch nicht.« Sie musterte ihn. »Du siehst schrecklich aus. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« Dunkle Ringe hingen wie Kissen unter seinen Augen.

»Verschlafen. Hab ich was verpasst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ist alles klar bei dir? Eher nicht, oder?«

Lewandowski schnaubte. »Ich bin das blühende Leben.«

Sie verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Sie hatte es im Gegensatz zu ihm bei einem Drink belassen und war dann auf Mineralwasser umgestiegen.

»Sie haben Weihrich noch nicht aufgestöbert.«

»Weiß ich. Aber wie weit kann er kommen?«, brummte Lewandowski.

»Und sie wird nicht reden«, sagte Linda müde.

»Dann lassen wir sie laufen, um sie auf Schritt und Tritt zu beschatten. Sie wird uns zu ihm führen.«

Ab jetzt würde Leonie Elstner keine Sekunde mehr unbeobachtet auch nur einen einzigen Schritt tun. Den Flüchtigen zu fassen, hatte höchste Priorität. Es würde denkbar schwer für Weihrich werden, lange unentdeckt zu bleiben, es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn fassen würden. Untertauchen war früher möglich gewesen, aber mit den heutigen Überwachungsmethoden gelang das niemandem mehr. Abgesehen von Bianchi, der es geschafft hatte, durchs Mauseloch zu schlüpfen und unsichtbar zu werden. Falls er nicht längst tot war.

Linda verzog sich in ihr Büro an den Schreibtisch. Vor ihr lag der aktuelle Bericht der Spurensicherung. Die Hautpartikel, die unter Lohmanns Fingernägeln gefunden worden waren, hatten keinen Treffer ergeben. Sie stammten weder von Weihrich noch von Bianchi, deren DNA als Vergleichsproben im Zentralcomputer gespeichert waren.

Aus dem Bericht erfuhr sie, dass in Lohmanns Haus kein weiteres Projektil gefunden worden war. Unwichtig, dann hatten die Täter das mitgenommen. Sie klappte die Ermittlungsakte zu und legte sie beiseite. Nun saß sie vor dem Computer und schrieb an ihrem eigenen Bericht zu ihrer gestrigen und heutigen Vernehmung von Leonie Elstner, bis Lewandowski sie dabei unterbrach.

»Nostiz hat eine Pressekonferenz angesetzt. Du übernimmst das heute bitte für mich.«

Er hätte sie nicht darum bitten müssen. So wie ihr Partner heute aussah, konnte er unmöglich vor die Presse treten.

Pressesprecher Ulf Sommer und Schlubach hatten die Köpfe zusammengesteckt, um den Ablauf der Pressekonferenz zu besprechen, als Linda dazustieß. Ihr Blick fiel auf die Namensschilder, die auf dem Podium standen. Hier würden sie, Schlubach und Nostiz neben Sommer Platz nehmen, um die Journalisten über die neuesten Entwicklungen im Mordfall Lohmann zu informieren.

Der Presseraum war bis auf den letzten Platz gefüllt, die Nachzügler mussten stehen, als Staatsanwalt Dr. Nostiz dazustieß. Der hatte den Haupteingang genommen, durch den normalerweise die Presseleute hereinkamen. Das gewährte ihm einen langen Gang durchs Publikum.

Nostiz bewegte sich routiniert durch den Raum, als befände er sich auf einem Laufsteg. Hier ein fester Händedruck, da ein anerkennendes Schulterklopfen und ein persönliches Wort für jeden der Anwesenden auf seinem Weg.

Linda beobachtete das Schauspiel fasziniert und abgestoßen zugleich. Sie hatte den Eindruck, dass einige der Journalisten den Atem anhielten und sich in Nostiz’ Ausstrahlung sonnten, wenn er sich ihnen direkt zuwandte. Aber es gab auch andere Reaktionen, vor allem die Älteren blieben gänzlich unbeeindruckt, als der Staatsanwalt sein gewinnendes Lächeln aufblitzen ließ.

Endlich nahm er in der Mitte des Podiums Platz und nickte den anderen zu. Sommer eröffnete mit einer Begrüßungsfloskel die Pressestunde und übergab Schlubach das Wort, der mit einer Zusammenfassung des Mordfalls die Journalisten über den aktuellen Ermittlungsstand informierte. Dann kam Linda an die Reihe, die von Steffen Weihrichs geplatztem Alibi berichtete. Damit war die Fragestunde für die Journalisten eröffnet.

Linda antwortete ruhig und sachlich, die Fragen stellten sie vor keine Herausforderungen. Auf die interessanten Fragen wartete sie vergeblich. Keiner der Journalisten schien sich für die Waffe oder für Bianchi zu interessieren.

Nostiz trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch. Anstatt zufrieden über den komplikationslosen Ablauf zu sein, schien ihm alles zu schnell und undramatisch über die Bühne zu gehen.

Aber Erlösung war auf dem Weg.

Ein investigativer Journalist von einer überregionalen Zeitung, den Linda aus früheren Pressestunden und Ermittlungen bereits kannte, Stefan Rauner, wandte sich direkt an Nostiz. »Herr Staatsanwalt. Wie ich gehört habe, hat es Drohungen von Mark Weihrich gegen einen Polizisten gegeben. Hätten Sie nicht nach der Entlassung seines Bruders für die Sicherheit von Sven Lohmann und dessen Familie sorgen müssen?«

Damit kam Bewegung in die Runde.

Nostiz visierte den Fragesteller an, der ihm bei zurückliegenden Ermittlungen schon schwer zugesetzt hatte. Jetzt waren er und seine Überzeugungskunst gefragt. Er lehnte sich lässig zurück. »Erstens handelt es sich bei diesen angeblichen Drohungen nur um ein Gerücht. Zweitens ist in diesem Zusammenhang nie ein konkreter Name gefallen. Drittens war Sven Lohmann nicht nur ein ehemaliger Polizist, der um die Risiken seines Berufs wusste, er hatte viertens ein Sicherheitsunternehmen und selbst Vorsorge getroffen. Und fünftens hätten doch genau Sie uns Verschwendung von Steuergeldern vorgeworfen, wenn wir eine Rundumüberwachung für Lohmann angeordnet hätten.«

Aalglatt hatte Nostiz die Vorwürfe an sich abtropfen lassen und ins Gegenteil verkehrt. Teflon war ein Reibeisen dagegen.

Aber Rauner ließ nicht locker. »Aber wie es scheint, hat es sich nicht um ein Gerücht gehandelt. Eine ganze Familie wurde getötet. Wird das Konsequenzen für Mark Weihrich haben?«

»Nun, Frau Lange wird ihn heute noch in der JVA aufsuchen und vernehmen. Und bei ihrem Geschick«, er bedachte Linda mit einem gönnerhaften Lächeln, »wird es ihr sicher gelingen, ein Geständnis von ihm zu bekommen. Dann können wir ihn der Anstiftung zum Mord anklagen.«

Du Vollpfosten, dachte Linda erbost, was bildest du dir ein?

»Da Weihrich bereits lebenslänglich hat, wird ihm das jedoch kaum etwas ausmachen«, fuhr Nostiz fort. »Aber ich versichere Ihnen, ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass man ihm sämtliche Privilegien streicht. Die Zeit im Gefängnis wird für ihn nicht besser werden.« Er schwieg für einen kurzen Moment und sah in die Runde. »Ich bitte Sie alle, die Bevölkerung vor Steffen Weihrich zu warnen. Der Mann ist brandgefährlich, und er ist bewaffnet. Niemand soll etwas unternehmen, aber für Hinweise aus der Bevölkerung über Weihrichs möglichen Aufenthaltsort sind wir natürlich dankbar. Vielen Dank für Ihr Interesse. Wir informieren Sie unverzüglich, wenn wir Steffen Weihrich gefasst haben.«

Für Nostiz war dieses Pressegespräch damit beendet. Er erhob sich und verließ den Presseraum, diesmal durch die Hintertür, die sich direkt hinter dem Podium befand. Sommer sorgte dafür, dass sich die Zusammenkunft dann schnell auflöste.

»Sie haben Nostiz gehört«, sagte Schlubach zu Linda, als sie den Presseraum verließen. »Sie fahren heute noch nach Landshut.«

»Sollten wir nicht warten, bis wir den Bruder gefasst haben?«

»Bringen wir das hinter uns. Wer weiß, wie lange es noch dauert, bis wir Weihrich aufgestöbert haben.«