Kapitel 14

Zwei Stunden später erreichten sie Landshut. Stendal war gefahren, sodass Linda auf dem Beifahrersitz ihren Gedanken hatte nachhängen können. Stendal war wie immer höflich, zurückhaltend, fokussiert. Er war ein Kollege, auf den sie sich hundertprozentig verlassen konnte, vor allem wenn’s mal hart auf hart kam.

Ihr Blick ruhte auf ihm, und es störte ihn kein bisschen, wie ein Versuchstier im Labor unter die Lupe genommen zu werden. Er hatte sich die Haare bis auf zwei Millimeter abrasiert. Linda wusste, dass er beim Militär gedient und Kampfeinsätze hinter sich gebracht hatte. Diese Erfahrungen haben dich zu einem anderen Menschen gemacht, kam es ihr in den Sinn. Das Schicksal stellte Weichen um, und danach war nichts mehr wie zuvor.

Nachdem sie fast eine Stunde schweigend im Auto gesessen hatten, sah Stendal sie an. »Darf ich dich etwas Persönliches fragen?«

»Schieß los.« Sie grinste.

»Wie hast du das alles verkraftet?«

Das Grinsen verschwand. Linda schluckte, lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte über ihre Situation nach. Dann fing sie an zu erzählen.

»Dass ein Kollege von uns, mit dem wir Seite an Seite gearbeitet hatten, ein Serienmörder gewesen ist und jahrelang unbemerkt seine Morde begehen konnte, hat mir echt zugesetzt.«

»Uns allen.«

»Nach wie vor ist für mich unvorstellbar, was er getan hat. So viele Opfer.« Sie stockte.

»Du wärst fast sein letztes geworden«, fügte Stendal hinzu.

Ihr wurde schlagartig kalt. »Kennst du das Gefühl, wenn dir das Blut in den Adern gefriert?«, fragte sie ihn.

»Nur zu gut.«

Die Erinnerung, wie sie in seinem Keller gelegen hatte, dem Mörder völlig ausgeliefert, brandete wieder in ihr auf. Ja, sie würde damit leben. Aber vergessen? Niemals.

»Ich wusste immer, dass wir damals noch nicht alle Gräber gefunden hatten, in denen er seine Opfer verscharrt hatte. Ich musste einfach weitermachen, ich konnte nicht auf halber Strecke aufhören. Deswegen musste ich ihn später auch im Gefängnis treffen, was auch immer es mich kosten würde.«

»Ich weiß nicht, ob ich dazu den Mut gefunden hätte«, gab Stendal offen zu.

»Hättest du«, sagte Linda. »Du hättest das Gleiche getan. Denn nur so hat er uns ja schließlich alles verraten. Der Fall ist endgültig aufgeklärt und für mich beendet.«

»Und er ist tot«, meinte Stendal. »Das ist gut so.«

»Ja.« Ein Arschloch weniger.

Es war das Beste, was der Menschheit passieren konnte, dass dieses Monster unter der Erde lag. Er hatte seinen Tod selbst herbeigeführt, als sich ihm die Gelegenheit dafür geboten hatte. Aber was sich in den letzten Augenblicken vor seinem Tod zwischen ihr und ihm abgespielt hatte, davon hatte sie nicht den Hauch einer Ahnung. Alles lag verborgen hinter einer dichten Nebelwand, die sie nicht durchdringen konnte, sosehr sie es auch versuchte. Diese Erinnerungslücke ließ sich nicht mehr schließen. Er hatte das Geheimnis mit ins Grab genommen. Denn es gab niemanden, der ihr verraten konnte, was zwischen ihm und ihr zuletzt vorgefallen war. Sie hatte unter Drogen gestanden, jemand hatte ihr Heroin gespritzt. Aber das war nicht er gewesen, sondern jemand, der wollte, dass dieser Serienmörder sie umbrachte.

Dieser Teil ihres Lebens war unwiederbringlich in einem dunklen Loch verschwunden, einfach ausgelöscht. Ein bedrückendes Gefühl. Vermutlich wollte ihr Gehirn sie vor den traumatischen Erinnerungen bewahren. Linda wusste nur, dass er ihr nichts angetan hatte, aber er hatte sie ein zweites Mal in seiner Gewalt gehabt – und er hatte in ihrem Beisein einen Menschen ermordet, wie sie später erfahren hatte.

Sie konnte diese Bilder nicht abrufen, sie schlummerten irgendwo in ihrem Gedächtnis und würden dort vermutlich für immer begraben bleiben. Es war beklemmend.

»Übrigens bin ich, was die Mitarbeiter von Lohmann betrifft, einen Schritt weiter«, holte Stendal sie in die Gegenwart zurück. »Zwei der drei, die kein brauchbares Alibi haben, kann ich inzwischen ausschließen. Die Frau ist hochschwanger. Und der Mann leidet an einer Rückgratverkrümmung. Keiner von beiden hätte die Kraft gehabt, Lohmann zu überwältigen. Aber der Letzte, ein gewisser Sebastian Kunz, steht noch aus. Niemand weiß, wohin er in Urlaub gefahren ist. Aber er kommt vermutlich auch nicht infrage, wenn er nicht da war.«

»Trotzdem, bleib da dran«, meinte Linda. »Wir müssen auf Nummer sicher gehen.«

»Logisch.«

In Landshut angekommen, parkten sie auf dem Besucherparkplatz vor der Haftanstalt. Das riesige graue Gebäude war kaum zu sehen hinter der hohen Mauer. Davor gab es einen breiten Grünstreifen, der mit einem Stacheldrahtzaun umgeben war. Unübersehbar waren die beiden Wachtürme, von denen aus bis an die Zähne bewaffnete Wachmänner das Gelände 24 Stunden, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr im Auge behielten. Wächter, Mauern, Stacheldrahtzäune bildeten eine unüberwindliche Barriere für all diejenigen, die einen Ausbruchsversuch wagen wollten.

Linda und Stendal betraten das Hauptgebäude und machten sich bereit für den Empfangszirkus. Ausweis, Waffen, Handschellen abgeben, Formulare ausfüllen. Dann durften sie die Sicherheitsschleuse passieren und wurden zum Büro des Direktors eskortiert.

Daniel Kastner hatte einen mächtigen Bauch und kämmte sich die verbliebenen Haare quer über den Schädel, um die kahlen Stellen zu verdecken, was den Haarausfall noch deutlicher ins Blickfeld rückte. Nach einem schnellen Begrüßungs- und Vorstellungsritual bat Kastner sie um ihre Fragen. Vor ihm lag aufgeschlagen Mark Weihrichs Akte. Linda erkundigte sich nach Weihrichs Verhalten im Gefängnis, worauf sie von Kastner all das erfuhren, was er preisgeben wollte oder konnte.

»Anfangs hatte es einigen Ärger mit ihm gegeben, aber nach einer Eingewöhnungszeit, verbunden mit angemessenen Strafmaßnahmen, hat er sich in den alltäglichen Ablauf des Strafvollzugs eingefunden. Seitdem hat es keinerlei Probleme mehr mit ihm gegeben. Im Gegenteil, er verhält sich geradezu vorbildlich. Kaffee? Wasser?«

Linda und Stendal lehnten dankend ab.

»Als Lebenslanger genießt er einen gewissen Respekt. Jeder weiß, dass Weihrich nichts mehr zu verlieren hat. Er hat sich zum Meister im Zeittotschlagen entwickelt, eine Tugend, wenn man sein Leben an einem Ort wie diesem verbringen muss.«

»Er soll damit gedroht haben, sich an einem Polizisten zu rächen«, lenkte Linda das Gespräch auf das Thema, das sie am meisten interessierte.

Kastner lehnte sich zurück. »Fake News wurden an Orten wie diesem hier erfunden. Wenn ich jedem und allem Glauben schenken würde, würde ich verrückt werden.«

»Hat er mal gesagt, um welchen Polizisten konkret es dabei geht?«, fragte Linda weiter.

»Nein.«

»Da er einen möglichen Mord ja nicht selbst verüben kann, könnte er jemanden damit beauftragt haben.«

»Nein.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«

»Von einem Auftragsmord oder Auftragskiller habe ich nichts gehört. Hätte er etwas geplant, es wäre mir zu Ohren gekommen.«

»Er hat einen Bruder, der wieder auf freiem Fuß ist.«

Kastner nahm die Brille ab und setzte sie wieder auf.

Linda verstand den Wink. Sie waren am Ende ihrer Unterredung angekommen. »Dann sollten wir ihn jetzt selbst befragen.«

»Man wird Sie zu ihm bringen. Viel Erfolg.« Damit war Kastner Geschichte.

Mark Weihrich betrat in Handschellen den Vernehmungsraum und ließ sich schwer auf den ihm zugedachten Stuhl fallen. Er sah seinem jüngeren Bruder ähnlich, wenngleich ihn die jahrelange Haft gezeichnet hatte. Auch er litt an Haarausfall, hatte sich aber sein Resthaar raspelkurz abrasiert, was besser aussah als Kastners Vertuschungsmethode. Weihrich hatte die blasse Haut, die hier mangels Sonne alle Häftlinge bekamen. Eine Stunde Freigang pro Tag reichte nicht für Sonnenbäder. Außerdem musste man im Knast die Augen offen halten, am besten auch, während man schlief. Gefahr drohte von jeder Seite zu jeder Zeit. Dieser latente Dauerstress hatte seinen Preis.

Mark war jedoch deutlich muskulöser als sein jüngerer Bruder Steffen. Im Knast hatte er Zeit genug, um Eisen zu fressen und seine Muskeln aufzupumpen. Seine nackten Arme waren mit Tattoos übersät, die bis zum Hals reichten, wo sie aus seinem T-Shirt wie Spinnenbeine herauskrochen.

Linda stellte sich und Stendal vor, dann begann sie die Befragung. »Sie und Ihr Bruder Steffen haben in Bayern Drogen verkauft. Ihre Geschäfte florierten, bis Sie einen Konkurrenten erschlagen und dafür lebenslänglich bekommen haben.«

»Wollen Sie meine Memoiren schreiben?« Er musterte sie abschätzig.

»Sven Lohmann, damals noch Ermittler bei der Drogenfahndung, hat Sie geschnappt. Später wurde Ihr Bruder wegen Drogendelikten von ihm festgenommen und wanderte ebenfalls für einige Jahre hinter Gitter. Letzte Woche wurde er entlassen. Und nun ist Lohmann tot.«

»Dann hat der Wichser bekommen, was er verdient hat.« Weihrich studierte hingebungsvoll seine Fingernägel.

Drecksack, Hurensohn, Wichser, bislang hatte sie nur Negatives im Zusammenhang mit Lohmann zu hören bekommen. Gab es denn niemanden, der ihm eine Träne nachweinte? Sicher nicht an diesem Ort.

»Sie finden es richtig, dass Lohmann, dessen Frau und kleine Tochter umgebracht wurden?«, fragte Linda weiter.

»Karma.«

Linda legte den Kopf schief und sah Weihrich direkt in die Augen. Er hielt ihrem Blick locker stand. Einem, der nichts mehr zu verlieren hatte, machte keiner etwas vor. Linda wusste das und versuchte nicht, ihn mit Tricks oder Drohungen aus der Reserve zu locken. Entweder wollte er mit ihr reden oder nicht. Darüber hatte nicht sie zu entscheiden.

»Uns wurde erzählt, Sie hätten mehrfach im Gefängnis damit gedroht, dass ein Polizist für Ihre Verhaftung bezahlen würde.« Ihre Stimme klang dabei so gleichmütig, als würde sie aus einem Telefonbuch vorlesen. »So sollen Sie gedroht haben, auf dieses ›Bullenschwein‹ warte eine Kugel.«

»Ach, wirklich?«

»Haben Sie Ihren Bruder damit beauftragt?«

»Steffen hat nichts damit zu tun«, bellte er zurück. »Lassen Sie meinen Bruder in Ruhe!«

Hier ist dein wunder Punkt.

»Das können wir nicht, wenn Sie uns nicht weiterhelfen. Er ist unser Hauptverdächtiger. Steffen hat kein Alibi, und dass er abgetaucht ist, macht die Sache nicht besser für ihn.«

Weihrich kaute an den Innenseiten seiner Wangen. Vermutlich wusste er längst, was sich draußen vor den Mauern abgespielt hatte, dass sein Bruder auf der Flucht war und gejagt wurde. Informationen ließen sich von Stahlbeton und Stacheldraht nicht aufhalten.

»Ich hatte ziemlich viel am Laufen, die Geschäfte gingen gut.« Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Außerdem hatte ich ein Leben, ein schönes Haus, meine Freundin war schwanger. Dann kam es zu diesem Scheißcrash mit einem Dealer. Der war bis zur Halskrause mit Crystal zugedröhnt und völlig paranoid. Er griff mich an. Ich hatte keine Wahl, es war Notwehr. Aber kaum lag der Typ am Boden, stand Lohmann auf der Matte. Als hätte er draußen auf der Lauer gelegen, als ob er ein Hellseher gewesen wäre. Das war eine Falle. Er hat das inszeniert. Und nun sitze ich seinetwegen hier in diesem Loch.«

»Nein. Sie sind hier, weil Sie einen Mann erschlagen haben.«

»Das war Notwehr. Er hatte ein Messer.« Weihrich hob sein T-Shirt und zeigte ihnen die Narbe einer Stichverletzung an seinem Bauch. »Das war er.«

»Wurde das nicht bei Ihrem Verfahren berücksichtigt?«

Weihrich lachte verächtlich auf. »Das Messer wurde nie gefunden. Lohmann hatte es verschwinden lassen. Dieses Bullenschwein hat mein Leben kaputt gemacht. Ich werde nie miterleben, wie mein Sohn aufwächst. Ihr Bullen seid pain in the ass, und Lohmann war der Allerschlimmste.«

»Jetzt ist er tot.«

»Das Beste, was der Menschheit passieren konnte. Rest in hell. Aber ich habe nichts damit zu tun.«

»Und Ihr Bruder?«

»Steffen? Nein. Der kann niemanden kaltmachen.«

»Dann helfen Sie uns, Ihren Bruder zu finden.«

»Warum sollte ich?«

»Weil ich Ihnen glaube.«

Stendal und Mark Weihrich starrten sie perplex an. Linda wusste, dass es ihr gelungen war, Weihrichs Panzer zu knacken. Sie nutzte dieses Überraschungsmoment, um ihren Testballon weiter aufsteigen zu lassen.

»Es kursieren Gerüchte, Lohmann hätte bei seinen Ermittlungen Grenzen überschritten und mit unsauberen Methoden gearbeitet.«

»Das sind keine Gerüchte. Lohmann war ein Schwein, ein ganz mieses Bullenschwein.«

Sie hatte den richtigen Druck auf eine überreife Tomate ausgeübt, nun war die Schale aufgeplatzt, und der Saft spritzte heraus.

»Wenn Lohmann eine Hausdurchsuchung gemacht hat, war jedes Mal etwas von dem Geld und den Drogen verschwunden. Natürlich hat uns niemand geglaubt. Für die Bullen war die Sache eindeutig. Ihr seid die Guten, wir die Bösen. Der hat das mit System betrieben.«

»Gab es noch andere wie Lohmann?«

Er schwieg.

Linda kramte ein Foto heraus und legte es vor Weihrich auf den Tisch. »Kennen Sie diesen Mann?«

»Wer kennt den nicht? Das ist Bianchi.«

»Er ist auch ein Verdächtiger im Mordfall Lohmann, den wir suchen. Haben Sie eine Ahnung, wo Bianchi stecken könnte? Das könnte Ihrem Bruder helfen.«

Weihrich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde Ihnen nicht helfen, Steffen oder Bianchi zu finden.«

»Aber das könnte Ihren Bruder entlasten.«

Er beugte sich zu ihr. »Ich weiß nicht, wo die beiden stecken.« Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich weiß nur, dass mein Bruder genauso wenig ein Mörder ist wie ich. Steffen hat Lohmann nicht umgebracht. Aber verdient hat er’s. Richten Sie dem Killer meinen Dank aus, wenn Sie ihn finden.« Weihrich machte Anstalten, auf den Boden zu spucken, besann sich dann aber und schluckte die Spucke mit einem ekelhaften Geräusch hinunter.

»Vielen Dank für Ihre Kooperation.« Linda erhob sich.

Stendal folgte verdattert ihrem Beispiel.

»Ich habe lange darüber nachgedacht«, rief Weihrich ihnen hinterher, »was mit Bianchi passiert sein könnte.«

Die beiden blieben stehen und drehten sich um.

»Alle haben geglaubt, dass er tot ist. Ich auch. Bis heute. Aber jetzt, da Sie herkommen, mir sein Foto zeigen und Fragen stellen, glaube ich das nicht mehr.«

»Dann helfen Sie uns, ihn zu finden.«

»Keiner schafft es, nach so einem Ding, wie Bianchi es durchgezogen hat, allein unterzutauchen. Da muss ihm jemand geholfen haben. Den sollten Sie suchen. Dann finden Sie auch Bianchi.«

»Warum hat er gedacht, dass Bianchi tot ist?«, fragte Linda, als sie das Gefängnis verlassen hatten und zu ihrem Wagen zurückgingen.

»Keine Ahnung. Aber ist das wahr? Du glaubst, was er über Lohmann gesagt hat?«

»Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Und ich habe das Gefühl, dass die alten Glutnester gerade wieder aufgeflammt sind.«

Mit Lohmann war etwas faul, die ganze Sache von damals stank zum Himmel, und aus unerfindlichen Gründen hielt Nostiz die Hand darüber. Sie hatte nicht vor, wegzusehen, sie würde der Sache auf den Grund gehen. Wie – darüber würde sie auf der Rückfahrt nachdenken.