Linda verzog sich in ihr Büro und schloss die Tür, um ungestört arbeiten zu können. Es gab etwas, was sie herausfinden wollte. Lohmanns Ruf war unterirdisch gewesen. Sie musste mehr über ihn, seine Kollegen und seinen Chef herausfinden, um all diese Behauptungen zu untermauern. Es gehörte zum Alltag, dass Kriminelle mit allen Mitteln versuchten, den Ruf eines Polizisten zu beschädigen. Aber bei Lohmann gab es einfach viel zu viele Ungereimtheiten.
Sie vertiefte sich erneut in seine letzten Fälle. Aber je mehr sie sich in Lohmanns Vergangenheit hineinarbeitete, umso mehr hatte sie das Gefühl, in eine Sackgasse zu laufen. Woher hatte er das Geld für seinen Lebensstil? Hier war etwas megafaul. Das Gleiche galt für seinen Boss Jähne. Wie konnte er sich dieses Luxusboot leisten?
Sie versuchte, die Geschichte von Jähnes Boot zu rekonstruieren, was sich als aussichtsloses Unterfangen entpuppte. Ihr blieb der Zugang zu den Unterlagen versperrt. Sie konnte weder die Steuerunterlagen noch die Besitz- und die Kaufurkunden einsehen. Normalerweise waren solche Unterlagen für sie im Rahmen von Ermittlungen problemlos zugänglich. Aber was war in diesem Fall schon normal? Ob Nostiz auch hier seine Hände im Spiel hatte und sie schützend über Lohmanns Ex-Chef hielt? Fluchend gab sie auf.
Lewandowski schlurfte, ohne anzuklopfen, herein. »Was machst du?«
»Ich versuche herauszufinden, von wem Jähne das Boot gekauft hat, aber ich komme nicht weiter.«
Lewandowski tippte auf seine Armbanduhr, eine Lagebesprechung stand an. Gemeinsam gingen sie zum Besprechungsraum, wo die anderen Kollegen bereits versammelt waren. Dann tauchte der Staatsanwalt neben Schlubach auf.
Die Unzufriedenheit über den Status quo war Nostiz ins Gesicht gemeißelt. Er riss das Wort an sich, geißelte den Misserfolg bei der Fahndung nach Steffen Weihrich und ließ ein Donnerwerter auf die Ermittler niedergehen. Linda glaubte, in den regungslosen Gesichtern ihrer Kollegen ablesen zu können, was alle dachten: Du arrogantes Arschloch.
Schlubach verfolgte Nostiz’ Auftritt mit gerunzelter Stirn. Er verfügte über Autorität und Charisma, etwas, wovon Nostiz nur träumen konnte. Er stellte sich vor seine Leute, Nostiz kannte nur sich. Während Schlubach in seiner Arbeit aufging, wollte Nostiz auf der Karriereleiter nach oben kommen und Generalstaatsanwalt werden. Und dafür war ihm vermutlich jedes Mittel recht. Linda schätzte Schlubach aus vielen Gründen. So wie Nostiz würde er nie auftreten. Selbst unter größtem Druck bewahrte er Fassung.
Aber Tatsache war, dass die Lohmanns seit fünf Tagen tot waren und Weihrich wie vom Erdboden verschluckt. Die Presse hatte begonnen, die Arbeit der Ermittler und der Staatsanwaltschaft zu kritisieren. Ohne Weihrichs Festnahme blieb dieser Fall eine offene Wunde, die als Kainsmal auf Nostiz’ Stirn brannte.
Der ungeklärte Fall warf einen dunklen Schatten auf seine Karriere, deren happy ending in weite Ferne rückte. Um Generalstaatsanwalt zu werden, brauchte er eine lückenlose und lupenreine Erfolgsgeschichte. Er stand unter Druck und gab diesen ungefiltert an sie weiter. Linda ließ das Schauspiel an sich vorbeiziehen. Es ging nicht um Nostiz oder seine Karriere, es ging darum, einen Fall aufzuklären und den oder die Mörder zu finden.
Im Gegensatz zu den anderen hoffte sie insgeheim, dass Weihrich den Fahndern nicht so bald ins Netz gehen würde, damit sie ihre Ermittlungen fortsetzen konnte. Die würde Nostiz garantiert sofort beenden, sobald sie Weihrich gefasst hatten. Ihm kam es nicht darauf an, die Wahrheit herauszufinden, sondern einen Fall abzuschließen. Ein Unschuldiger mehr oder weniger im Gefängnis hatte keinerlei Bedeutung.
Gut gebrüllt, Löwe, dachte Linda, als Nostiz endlich fertig war. Nun konnte die eigentliche Lagebesprechung beginnen.
»Ich mach’s kurz«, sagte Schlubach. »Ich möchte, dass sich jeder von Ihnen intensiv mit Weihrichs Kontakten und möglichen Schlupflöchern beschäftigt. Wo könnte er untergetaucht sein? Bei wem könnte er sich verstecken? Wir gehen nicht davon aus, dass er Bayern oder gar Deutschland verlassen hat. Alle Schlupflöcher werden lückenlos kontrolliert.« Sein Blick wanderte zu Linda. »Was hat Ihre Befragung von Mark Weihrich ergeben?«
Linda lieferte einen kurzen Bericht über die Vernehmung. »Ich möchte auf etwas hinweisen, was Weihrich erwähnt hat«, fügte sie am Ende hinzu. »Nach jeder Hausdurchsuchung, die Lohmann gemacht hat, seien immer eine große Geldsumme und auch ein Teil der Drogen verschwunden gewesen und nie wieder aufgetaucht.«
Ein abfälliges Raunen ging durch die Menge. Die Kollegen kannten derartige Vorwürfe durch Kriminelle.
Linda ließ sich nicht beirren. »Weihrich behauptet auch, dass Lohmann diese Unterschlagungen mit System betrieben hat. Außerdem soll er über geradezu hellseherische Kräfte verfügt haben, weil er immer genau dann aufgetaucht sei, wenn ein Verbrechen geschehen war.«
»Das spricht wohl eher dafür, dass Lohmann ein guter Ermittler war«, bellte Nostiz. »Warum erzählen Sie uns das?«
»Zusammen mit der Feststellung, dass Lohmann bei seinen Ermittlungen Grenzen überschritten und zu unsauberen Methoden geneigt haben könnte, wie uns sein Vorgesetzter Jähne bestätigt hat, stellt sich die Frage, was für ein Ermittler Lohmann tatsächlich war. Außerdem könnte es auch erklären, woher sein Vermögen stammt. Seine Firma war ja alles andere als erfolgreich.«
Linda wusste, dass sie auf extrem dünnem Eis balancierte. Einen Kollegen mit derartigen Vorwürfen in Verbindung zu bringen, vor allem einen toten, der sich nicht mehr wehren konnte, war unterste Schublade. Korpsgeist stand hoch im Kurs, entsprechend abschätzig waren die Blicke, mit denen sie von den anderen bedacht wurde. Auch Schlubach musterte sie nachdenklich, und Lewandowski sah sie an, als hätte er einen Geist gesehen.
»Wenn an diesen Vorwürfen etwas dran ist, gäbe es eine Menge anderer Verdächtiger, die ein Motiv haben könnten, sich an Lohmann zu rächen. Vor diesem Hintergrund sollten wir unsere Ermittlungen in diese Richt–«
»Es reicht«, fiel ihr Nostiz ins Wort. »Schweigen Sie.« Seine Stimme hatte einen metallischen Klang angenommen.
»Aber …«
Nostiz hob die Hand und gebot ihr, den Mund zu halten. Er wandte sich Lewandowski zu. »Was genau hat Jähne über Lohmann gesagt? Wort für Wort, bitte.«
»Jähne erwähnte, dass es Konflikte wegen Lohmanns Methoden gab. Manchmal sei Lohmann bei seinen Ermittlungen zu weit gegangen«, gab Lewandowski wortgetreu wieder. »Und als sein Chef war Jähne, wie er selbst gesagt hat, am Ende nicht unglücklich darüber, dass Lohmann selbst gekündigt hatte. Sonst wäre er wohl gezwungen gewesen, die Innere zu informieren.«
Schweigen.
Linda bedachte Lewandowski mit einem dankbaren Blick. Sie sah zu Nostiz, der sie demonstrativ ignorierte. Außer dem knackenden Geräusch seiner Fingerknöchel war nichts zu hören.
Dann ging ein Ruck durch den Staatsanwalt. »Trotz theoretischer Unsauberkeiten ist Lohmann Opfer und nicht Täter. Nicht er steht unter Verdacht, sondern Weihrich. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche, und finden Sie ihn, das kann ja nicht so schwer sein.«
»Wir sollten auch Bianchi nicht aus den Augen verlieren«, erinnerte Schlubach. »Falls er hier ist, müssen wir ihn finden.«
Damit war Lindas Kampfgeist neu geweckt. »Wenn wir die Ermittlungen zu Bianchi aufnehmen sollen, brauchen wir Einblick in die Ermittlungsakte.«
Nostiz schien die Luft wegzubleiben. Er räusperte sich. »Dazu habe ich bereits alles gesagt. Hören Sie mir eigentlich zu?«
»Sie waren damals der Ermittlungsleiter, jetzt ist Bianchi interessant für uns«, nörgelte Linda unverfroren weiter. »Aber wir bekommen keine Akteneinsicht.«
Nostiz fixierte sie wie ein Raubtier sein Opfer. »Müssen wir uns Sorgen um Sie machen?«
Wer ist wir? Dieser Plural hatte etwas Manipulatives und Bedrohliches. Linda wich seinem Blick jedoch nicht aus.
»Ich glaube, dieser Fall überfordert Sie, was naheliegend ist nach all den furchtbaren Erfahrungen, die Sie im Rahmen Ihrer letzten Ermittlung erlebt haben. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie es sich anfühlen muss, um ein Haar selbst zum Opfer eines Mörders zu werden, weil ich einen entscheidenden Fehler bei meinen Ermittlungen gemacht habe«, trat Nostiz nach. »Vielleicht sollte ich Sie von diesen Ermittlungen abziehen. Es war sicher traumatisierend, ein zweites Mal in die Gewalt eines Serienmörders zu geraten und dabei fast das Leben zu verlieren. Ich behalte Sie im Auge. Und noch einmal zum Mitschreiben: Die. Akte. Bleibt. Unter. Verschluss!«
Niemand sagte etwas. Eine bedrückende Stimmung breitete sich aus.
»Sie wissen, was Sie zu tun haben«, unterbrach Schlubach die Stille. »Finden Sie Weihrich. Und Bianchi.«
Das ließen sich die Kollegen nicht zweimal sagen und machten sich schleunigst aus dem Staub. Linda blieb wie angewurzelt sitzen.
Schlubach wartete, bis er mit ihr allein war. »Sie laufen ihm ins offene Messer.«
»Er wartet anscheinend nur darauf.«
»Vergessen Sie Nostiz. Denken Sie an sich und an Ihre Ermittlungen.«
Sie war wie gelähmt.
»Wenn Sie so weitermachen, wird Nostiz Sie über kurz oder lang kaltstellen. Wenn er das will, findet er etwas gegen Sie. Und dann kann ich Sie nicht länger schützen.«
»Weiß ich.« Allmählich kam sie wieder zur Besinnung.
Sie atmete tief durch. Schlubach hatte recht. Sie hatte ihn herausgefordert, ihm ihre offene Flanke präsentiert, und er hatte erbarmungslos zugestoßen und noch mal zugetreten, als sie schon blutend am Boden lag.
»Ich verstehe nur nicht, warum er unsere Arbeit sabotiert.«
»Keine Ahnung, warum diese Ermittlungsakte unter Verschluss ist. Aber es wird wohl triftige Gründe dafür geben, und Sie müssen das respektieren.«
Ich muss nur sterben.
»Was hat Nostiz zu verbergen?«
Schlubach runzelte die Stirn. »Ich kann Ihnen nur raten, Gedanken wie diesen für sich zu behalten.« Damit ließ er sie sitzen und verschwand.
»Herzlichen Glückwunsch«, meinte Lewandowski zynisch, der unvermittelt aufgetaucht war. »Du hast es nicht nur geschafft, den Staatsanwalt gegen dich aufzubringen. Auch die Kollegen halten dich für eine Verräterin.«
»Und wo stehst du?« Linda schaute ihn bitterböse an.
»Neben dir. Wie du selbst.«
»Ihr könnt mich alle mal.«
Damit stürmte sie davon. Sie musste hier raus, an die frische Luft. Sofort.