Kapitel 18

Mangels Zugriff auf die Ermittlungsakten zum Geldüberfall waren sie die nächsten Stunden damit beschäftigt, alle öffentlich zugänglichen Informationen zu dem Überfall auf den Geldtransport vor drei Jahren zu beschaffen. Im Internet gab es Zeitungsartikel und TV-Beiträge zuhauf.

Linda schickte Lewandowski einen Link zu einem Artikel, der ihrer Ansicht nach die Sache auf den Punkt brachte.

Vier Tote bei Überfall auf Geldtransport

Das Verbrechen geschah in der Nacht zum Mittwoch gegen 02:30 Uhr. Der Geldtransport war von der Bayerischen Landesbank in München gestartet und unterwegs zur Bundesbank in Frankfurt. Die zuständige Sicherheitsfirma Guardline ist seit vielen Jahren damit beauftragt, alte Geldscheine bei Banken und Kreditunternehmen abzuholen, um sie zur Vernichtung nach Frankfurt zu bringen. Bislang war es nie zu Zwischenfällen gekommen. Die Fahrer werden über die Höhe der Summe nie informiert. Auch in der Tatnacht wussten sie nicht, dass sich bei diesem Transport acht Millionen Euro im Wagen befanden. Welche Route sie zu nehmen hatten, erfuhren sie wie immer erst kurz vor Abfahrt.

Es wird dennoch vermutet, dass der Fahrer des Transporters gemeinsame Sache mit den Gangstern gemacht haben muss. Denn er war es, der von der Autobahn abgefahren ist und eine Strecke nahm, wo ihn seine Komplizen bereits erwarteten.

Was dann geschah, konnten die Ermittler nur anhand der Spurenlage rekonstruieren. Filippo Bianchi, ein berüchtigter Drogen- und Waffenhändler und Kopf der Bande, wird für vier Tote verantwortlich gemacht. Er soll den Sicherheitsmann des Geldtransports, den Fahrer und die beiden Komplizen erschossen haben, um mit dem erbeuteten Geld zu fliehen.

Obwohl zwei Ermittler frühzeitig am Ort des Geschehens eintrafen, konnten sie den Flüchtigen nicht mehr fassen.

Dieser Überfall hatte sich lange auf den Titelseiten gehalten, weil es vier Tote gegeben hatte und Täter sowie Beute spurlos verschwunden waren. Ein Superganove und acht Millionen Euro hatten sich in Luft aufgelöst. Mutmaßungen und Verschwörungstheorien waren wie Unkraut aus dem Boden geschossen.

Trotz intensivster Ermittlungen war es den Ermittlern nicht gelungen, herauszufinden, was sich tatsächlich in dieser Nacht abgespielt hatte und wie es überhaupt dazu hatte kommen können. Ob der Fahrer der Kontakt gewesen war, der gemeinsame Sache mit den Verbrechern gemacht hatte, konnte nie geklärt werden. Der Verdächtige und die Komplizen waren tot, der Hauptverdächtige und sämtliche Waffen, die bei dem Überfall verwendet worden waren, verschwunden. Zurückgeblieben waren nur die Kugeln in den Körpern der vier Toten.

Im Lauf der Zeit war das Thema von den Titelseiten verschwunden und nach hinten gerutscht. Das Interesse an dem Fall war erloschen, andere Verbrechen und Nachrichten hatten ihn verdrängt.

Lewandowski kam zu ihr und setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs. »Gehen wir mal davon aus, dass ein Mitarbeiter dieser Transportfirma oder der Fahrer selbst Bianchi Termin und Route des Geldtransports gesteckt hat. Was bringt uns das im Mordfall Lohmann?«

»Nichts.«

»Du sagst es.«

Linda hatte den Ablauf des Überfalls immer wieder vor ihrem geistigen Auge wie einen Film ablaufen lassen, jede denkbare Version mit kleinen Veränderungen.

»Aber wer war als Erster am Tatort?« Sie lieferte die Antwort gleich selbst. »Lohmann und Schwarz. Warum? Mark Weihrich hat erwähnt, dass Lohmann mit geradezu hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet war.«

»Ich glaube nicht ans Hellsehen.«

»Ich auch nicht. Dieser Geldtransport sollte so unbemerkt wie möglich ablaufen. Man hatte auf Begleitschutz verzichtet, das Geld in einen unauffälligen Transporter gepackt und mitten in der Nacht losgeschickt. Was, wenn Lohmann davon gewusst und bereits auf der Lauer gelegen hätte?«

»Dann hätte er den Überfall verhindern können.«

»Nur mal angenommen, rein hypothetisch – was, wenn Lohmann in diese Sache verwickelt gewesen wäre?«

»Als Mittäter?«

»Oder als Kopf der Bande.«

Seit es Räuber und Gendarm gab, hatte es zweifelhafte Beziehungen zwischen den »Guten« und den »Bösen« gegeben. Immer wieder erlagen die, die auf der richtigen Seite stehen sollten, der Faszination des schnellen Geldes und wechselten die Seiten. Ob das auch hier der Fall gewesen war? Manch einer machte mit, blieb darin kleben, flog auf, dann waren Karriere und Ruf im Eimer. Aber was war mit all denjenigen, die unter dem Radar geblieben und nie aufgeflogen waren?

»Warum nicht einmal das Undenkbare denken, wenn alles andere keinen Sinn ergibt? Wir wurden und wir werden bewusst in die Irre geführt. Und Nostiz hängt da irgendwie mit drin. Lohmann und Bianchi steckten entweder unter einer Decke, oder Lohmann wusste, was Bianchi vorhatte.«

»Wir müssen mehr über Bianchi rausfinden«, schlug Lewandowski vor.

»Wir brauchen die Ermittlungsakten von damals.«

Er rollte mit den Augen. »Hör endlich auf, gegen Windmühlen zu kämpfen.« Damit ließ er sie sitzen und verzog sich an seinen Schreibtisch.

Ihnen standen nur die öffentlich zugänglichen Quellen wie Presseartikel, TV-Beiträge und das Internet zur Verfügung, während unten im Archiv eine Akte mit wichtigen Informationen schlummerte, die ihnen bewusst vorenthalten wurde. Der Gedanke ließ ihren Ärger erneut auflodern. Ob Browser ihr helfen konnte? Nein, sie musste sauber ermitteln, alles andere würde sie nicht weiterbringen.

Sie holte sich einen Kaffee, lief ruhelos umher, bis der Ärger verflogen war. Dann vertiefte sie sich in die Internetsuche nach Bianchi. Zu ihrer Überraschung war mehr zu finden als erwartet. In Zeiten des Internets ließ sich wenig unter Verschluss halten. Mit jedem Puzzleteil, das sie fand, entstand allmählich ein Bild von Bianchi.

Filippo Bianchi war der kalabrischen ’Ndrangheta zugerechnet worden. Die mächtigste aller italienischen Verbrechensorganisationen hatte sich schon vor Jahrzehnten neben der sizilianischen Cosa Nostra, der Camorra aus Kampanien und der Sacra Unita aus Apulien in Deutschland ausgebreitet. In Bayern war vor allem das Allgäu zu einem Stützpunkt geworden. Mittlerweile verfügte die Mafia hier über fest verwurzelte Strukturen. Das alles spielte aber weder in der deutschen Politik noch in der Öffentlichkeit eine große Rolle – außer, es gab eine spektakuläre Razzia oder ein Blutbad wie 2007 mit sechs Toten vor einer Pizzeria in Duisburg. Auslöser dafür war damals ein Streit zwischen zwei Mafia-Clans gewesen. Danach war in Deutschland verbal zum Kampf gegen die Mafia geblasen worden, aber es war bei der Ankündigung geblieben. Dass angeblich viele Pizzerien in Deutschland von der Mafia kontrolliert wurden, das löste keinen großen Schrecken aus.

Den gleichen Fehler hatte die Politik dann bei den kriminellen Familienclans aus dem arabischen Raum gemacht, als diese sich in Deutschland allmählich etablierten. Heute stand man vor dem unlösbaren Problem, dieser kriminellen Parallelgesellschaft wieder Herr zu werden. Viel zu lax waren die Clans verfolgt worden. Inzwischen hatten sich auch die arabischen Familienclans in Deutschland erfolgreich festgesetzt und höhlten seit Jahren derart unverfroren den Rechtsstaat aus, dass es an eine Farce grenzte.

Gegen Clan-Kriminalität war viel zu lange nichts getan worden. Die Verantwortlichen hatten sich davor gedrückt, sich mit der Einwanderung und deren Konsequenzen zu beschäftigen, und stattdessen von Multikulti geträumt. Die Politiker hatten sich in ihrem Wolkenkuckucksheim verschanzt, das Entstehen von Parallelgesellschaften ignoriert und die Bevölkerung, die damit konfrontiert wurde, im Stich gelassen. Aber all diese Versäumnisse waren als Bumerang zurückgekommen. Mittlerweile hatten sich neue Formen von Kriminalität, und das schon in vierter Generation, so festgesetzt, dass ihr mit herkömmlichen polizeilichen Mitteln nicht mehr beizukommen war. Wie naiv musste man sein, dass es so weit hatte kommen können?

Erst kürzlich hatte Linda einen Bericht im Fernsehen gesehen, in dem es um die Probleme in der Stadt Essen ging. Dort hatten sich libanesische Großfamilien breitgemacht, zu denen 15.000 Mitglieder gerechnet wurden. Diese arabischen Clans terrorisierten die Stadt, und die Polizei war mehr oder weniger hilflos angesichts der Übermacht, Aggressivität und Unverfrorenheit.

Im Gegensatz zu diesen arabischen Familienclans hatte die italienische Mafia mittlerweile ihre Strategie verändert. Die ’Ndrangheta legte nun ihre Milliarden aus Waffen- und Drogenhandel und Erpressungen möglichst unauffällig in Deutschland an. Aber die Angst vor Entdeckung war immer noch gering, da damals wie heute das Problem ignoriert wurde.

Killer oder andere Verbrecher, die von der italienischen Polizei gesucht wurden, tauchten nach wie vor bei Landsleuten hier unter, denn Deutschland war ein perfekter Ruhe- und Aktionsraum. Hier wurden auch Verbrechen geplant oder begangen. Ähnlich wie in Italien hatte die Mafia versucht, auch in Deutschland ins legale Wirtschaftsleben vorzudringen. Mit Erfolg. Die Mafia war im Bauwesen, im Lebensmittelgroßhandel und in der Gastronomie aktiv.

Filippo Bianchi war einer der Großen gewesen und war in Verbrecherkreisen ehrfürchtig Baron genannt worden. Manche Journalisten hatten Vergleiche zu Al Capone gezogen. Wie leicht wurde ein Mythos geboren, der in sich zusammenfiel, sobald man hinter die Fassade blickte. Dann entpuppte sich ein legendärer Superganove als mieser Verbrecher, der weder Moral noch Gewissen kannte. Das waren keine Übermenschen, sondern Psychopathen, die andere geschickt manipulieren konnten.

Warum sollte es bei Bianchi anders gewesen sein? Er war ein gewissenloser und geldgieriger Halunke und alles andere als ein Mythos gewesen, hatte keinerlei Bewunderung verdient. In Lindas Augen gab es keine Verbrecher, denen Respekt gebührte. Schon gar nicht dieser Filippo Bianchi, der für seine Brutalität bekannt gewesen war. Er hatte Schädel mit bloßen Fäusten zertrümmert, Kehlen zerquetscht, Eisenstangen auf Schienbeine geschlagen, Knochen mit Bohrern durchlöchert. Das alles war ihm nie schwergefallen. Härte gehörte zum Business, Grausamkeit hatte Bianchis Ruf zementiert und Gnadenlosigkeit ihn an die Spitze gebracht. Er hatte in Deutschland ein Spinnennetz geknüpft und ein Vermögen mit Drogen, Prostitution, Erpressung, Geldwäsche und Waffenhandel gemacht. Nur war ihm nie etwas nachzuweisen gewesen. Vermutlich hatte er die richtigen Hände geschüttelt, die entscheidenden Rädchen geölt, die wichtigen Insider geschmiert und willige Helfershelfer gekauft, die die Drecksarbeit für ihn erledigten.

Irgendwann musste jedoch selbst Bianchi begriffen haben, dass er sein Glück nicht weiter strapazieren sollte. Er hatte damit begonnen, sein Geld vorsichtig in legale Firmen zu investieren, wie in einem Artikel in einem Wirtschaftsblatt zu lesen war. »Vorsichtig« bedeutete, dass er unter dem Radar der Finanzbehörden geblieben war. Ein Journalist, dieser Rauner, hatte das Vorgehen in einem Artikel sehr detailliert und kenntnisreich beschrieben, wie Linda fand. Vielleicht sollte sie mal mit ihm reden, vielleicht hatte er Insiderwissen, das ihr helfen könnte. Einen Versuch wäre es wert.

Linda las weiter und erfuhr, dass Bianchi überschaubare Summen investiert hatte, hier ein paar Anteile, da ein paar Prozente, aber in der Summe hatte es ein Millionenvermögen ergeben, von dem er und seine Familie bis ans Lebensende sorgenfrei hätten leben können. Vermutlich war er an den Starnberger See gekommen, weil der weit genug entfernt von seinem Wirkungskreis gelegen hatte, er hier als Verbrecher ein unbeschriebenes Blatt gewesen war und es sich hier gut leben ließ, vor allem mit dem nötigen Kleingeld.

Seit dem Überfall vor drei Jahren war Bianchi aber nun spurlos verschwunden, und mit ihm die Beute. Seiner Frau war nur die Villa am See geblieben. Bianchi hatte sie auf ihren Namen gekauft, und da ihr die Ermittler keinerlei Beteiligung oder Mitwisserschaft an seinen kriminellen Unternehmungen hatten nachweisen können, hatte sie die Villa behalten dürfen. Sie hatte das Anwesen verkauft und lebte nun vermutlich von dem Erlös und von dem, was ihr Coffeeshop abwarf. Da sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, hatte man sie in Ruhe gelassen. Bis jetzt.

Bianchis Vermögen war damals im Rahmen der Ermittlungen konfisziert und alle seine Konten gesperrt worden. Er sollte keine Gelegenheit haben, während seiner Flucht an dieses Geld zu kommen. Es gehörte dem Staat.

Aber warum sollte ein Gangster ein zweistelliges Millionenvermögen und seine Familie für läppische acht Millionen sausen lassen und sich lebenslang auf die Flucht begeben? Das ergab keinen Sinn. Und wie lange konnte man mit acht Millionen untertauchen? Ein Vermögen war doppelt so schnell aufgebraucht, wenn man sich auf der Flucht befand. Bianchi war seit drei Jahren ein Geist. Entweder lebte er im Untergrund, oder er war längst tot, was viele vermuteten, auch seine Frau.

Fotos gab es so gut wie keine von diesem Phantom. Linda entdeckte lediglich drei Aufnahmen im Internet. Auf einem Bild war er im Taucheroutfit zu sehen, das zweite Foto zeigte ihn am Steuer einer Jacht, auf dem dritten Schnappschuss lehnte er mit stolzgeschwellter Brust an einem roten Ferrari. Linda vergrößerte das Foto mit der Jacht und studierte es mithilfe einer Lupe. Von dem Boot war leider kaum etwas zu erkennen, es war unmöglich, herauszufinden, um welchen Bootstyp es sich handeln könnte. Auch das Autokennzeichen des Ferrari war nicht auf dem Foto zu sehen.

Linda würde Bianchis Frau danach fragen, und auch, was es mit diesem Ferrari auf sich hatte. Hatte ihm der Wagen gehört? Und wenn ja, wo war er geblieben?