Kapitel 19

Im Hauptarchiv, das sich im Keller des Präsidiums befand, wurden die Unterlagen zu jedem Fall gelagert, in dem während der vergangenen Jahrzehnte in Oberbayern ermittelt worden war. Aufbewahrt wurden Fotos von Tatorten, Listen von Beweisstücken, Auswertungen der Spuren, Aussagen von Zeugen, Protokolle von Vernehmungen und zum Funkverkehr, Überwachungsprotokolle von Verdächtigen, Prozessakten. Alles lagerte handlich verpackt in Kartons, die detailliert beschriftet und in riesigen Regalen chronologisch aufeinandergestapelt waren.

Ein Zerberus, der am Eingang des Archivs über diese Erinnerungen an dunkle Zeiten und böse Vergehen wachte, protokollierte jeden Besucher, überprüfte dessen Berechtigung und notierte akribisch das Anliegen. Im besten Falle erhielt der Besucher Zugriff.

In dieses Labyrinth stieg Schlubach hinab. Der Geruch, ein Gemisch aus abgestandener Luft, modrigem Schimmel und Desinfektionsmittel, stieg ihm in die Nase. Er kam nicht oft hierher, aber er kannte den Zerberus – ein Grund, warum er sich heute selbst herunterbemüht hatte.

Rainer May saß seit einer gefühlten Ewigkeit hier unten, und Schlubach wusste, dass er nichts anderes tun wollte, seit er bei einer missglückten Festnahme ein unbeteiligtes Kind erschossen hatte. Ein Querschläger hatte den Jungen tödlich getroffen. May war von jeder Schuld freigesprochen worden. Es war ein Unfall, eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen. Aber von diesem Moment an war May nicht mehr in der Lage gewesen, seinen normalen Dienst mit der Waffe zu versehen. Er hatte sich Schlubach anvertraut und um Versetzung gebeten. Schlubach hatte ihm zu diesem Archivjob verholfen.

Als Schlubach das Archiv betrat und May an seinem Schreibtisch in dem fensterlosen Raum entdeckte, erschrak er so sehr, dass er stehen bleiben und um Luft ringen musste.

Er hatte May seit Monaten nicht gesehen – der hatte sich stark verändert. Der große, stattliche Mann von einst war extrem abgemagert. Ein kahler Schädel glänzte wächsern im Neonlicht. Tief eingefallene Wangen und riesige, wimpernlose Augen erinnerten erschreckend an einen Totenkopf. May war ein Schatten seiner selbst, dem Tod näher als dem Leben.

Ein Lächeln huschte über diesen Totenschädel, als er den unerwarteten Besuch sah. »Herr Schlubach? Schön, Sie zu sehen.«

»Herr May. Wie lange bin ich nicht mehr bei Ihnen gewesen?« Schlubach streckte ihm die Hand entgegen.

Ein paar dürre Finger griffen nach seiner Hand. »Das dürfte bald ein Jahr her sein.«

Schlubach erwiderte den Händedruck sanft. Er hatte Angst, die dürren Knöchlein zu zerbrechen.

»Was ist mit Ihnen?« Für falsche Höflichkeiten und Floskeln war hier weder der Zeit noch der Ort.

»Krebs. Unheilbar. Endstadium. Chemo und Bestrahlungen haben mehr verwüstet als geholfen. Ich bin austherapiert. Die Ärzte geben mir noch ein paar Monate.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Schlubach betroffen.

»Muss es nicht. Es ist, wie es ist. Und sterben müssen wir alle.«

»Warum sind Sie nicht zu Hause?«

»Um dort auf den Tod zu warten und an Langeweile zu sterben?«

Darauf wusste Schlubach nichts zu erwidern und schwieg. May sagte ebenfalls kein Wort mehr.

»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte Schlubach nach einer Weile, als er seine Fassung und seine Stimme wiedergefunden hatte.

May lächelte mild. »Sie haben genug für mich getan.« Er breitete die Arme aus und ließ seinen Blick schweifen. »Ich bin glücklich hier unten. Aber was führt Sie zu mir?«

Mit wenigen Worten hatte Schlubach sein Anliegen formuliert. »Können wir darauf verzichten?«, fragte er mit Blick auf das Formular für das Archivmaterial, das er haben wollte.

May nickte. Er machte eine Notiz und reichte Schlubach den Zettel. »Hier finden Sie alles. Aber ohne das«, May zeigte auf das offizielle Formular, »können Sie nichts mitnehmen.«

»Klar.«

Schlubach lief los, vorbei an endlosen Regalreihen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Er zog den Karton heraus, in dem er die Unterlagen vermutete, nach denen er suchte, und hatte Glück. Sämtliche Anzeigen gegen Lohmann waren nicht in der Verschlusssache verschwunden; sie lagen für jedermann frei zugänglich im Regal. Er klappte die dünne Mappe auf und überflog die Seiten. Es hatte viele Anzeigen gegen Lohmann gegeben, aber wie er bei der Lektüre feststellen konnte, hatte keine einzige zu einem Verfahren oder einer Anklage geführt. Entweder hatte es keine hinreichenden Beweise gegen Lohmann gegeben, oder sie waren rechtzeitig beseitigt oder die Anzeige zurückgezogen worden. Bei einer Anzeige blieb er jedoch hängen. Sollte Lange am Ende doch recht haben mit ihrem Verdacht?

Da er keine Unterlagen mitnehmen durfte, fotografierte er sie mit der Kamera in seinem Smartphone, das ihm seine Frau und die beiden Söhne zum Sechzigsten geschenkt hatten. Eine gute Sache, wie er jetzt feststellte. Das Ding machte einwandfreie Fotos. Warum hatte er sich so lange gegen diese neumodischen Smartphones gewehrt? Altersstarrsinn, attestierte er sich selbst. Er war ein Auslaufmodell, maximal noch zwei Jahre, dann würde er seinen Job an den Nagel hängen. Das hatte er seiner Frau versprochen. Dann würden sie auf Reisen gehen. Sie hatten so wenig von der Welt gesehen. Sie waren noch nie in Asien gewesen. Grund genug, nach seiner Pensionierung endlich ausgiebig auf Reisen zu gehen.

So weit der Plan. Aber als er eben May gesehen hatte, hatte ihn schlagartig eine undefinierbare Angst gepackt. Was, wenn das Schicksal auch mit ihm etwas anderes vorhatte, ihm einen gnadenlosen Strich durch die Rechnung machte, so wie bei May? Gedanken an Krankheit, Alter und Tod hatte er bislang weit von sich geschoben. Aber das Zusammentreffen mit May hatte ihm klargemacht, dass das ewig währende gute Leben eine Illusion war. Das Schicksal machte vor niemandem halt, die Einschläge kamen näher.