Die Party war in vollem Gange, als sie viel zu spät eintraf. Die Gäste tummelten sich in Browsers riesigem Appartement und seiner ebenso riesigen Dachterrasse.
Linda steuerte direkt auf einen großen Tisch zu, wo die Platten mit dem Essen standen. Ihr Magen knurrte bedenklich. Sie fühlte sich fahrig, brauchte dringend etwas zu essen. Aber ihre Chancen, noch etwas Essbares zu finden, standen schlecht. Was vermutlich einmal ein wunderbares Buffet gewesen war, bestand nur noch aus leeren Platten mit ein paar trostlosen Fleischresten. Auch die Schüsseln boten einen traurigen Anblick. Selbst im Brotkorb lagen nur noch Brösel. Die Partygäste hatten alles abgegrast, und sie hatte die Köstlichkeiten verpasst.
»Wer zu spät kommt, den bestraft der Gastgeber«, murmelte sie enttäuscht.
»Aber nein«, hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich. Ein Arm schlang sich um ihre Schultern. »Endlich bist du da.«
Selbst blind hätte sie erkannt, wer das war. Linda wirbelte herum und umarmte Browser. Sie reichte ihm gerade mal bis zur Brust. Wie bei einer Giraffe überragten sie sein langer Hals und sein Kopf.
»Herzlichen Glückwunsch, Browser«, gratulierte sie ihm. Sie drückte ihn, bis es ihm zu viel wurde und er sich aus ihrer Umarmung löste. »Und wo ist mein Geschenk?«
Linda gab ihm die Tüte. Ohne Rücksicht auf die hübsche Verpackung riss er das Papier auf.
»Cool. Das ist super.« Er riss sich sein T-Shirt vom Leib, entblößte ein makelloses Sixpack und schlüpfte in das neue Hemd. Es passte wie angegossen. Er bedankte sich mit einem breiten Grinsen.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
Linda nickte. »Aber …«
»Setz dich und lass mal locker«, unterbrach er sie sanft. »Ich hol dir den Teller, den ich für dich weggestellt habe.« Damit verschwand er.
Linda nahm sich ein unbenutztes Glas und griff nach einer Weinflasche, die in einem Kühler auf dem Tisch stand. Die Flasche war noch halb voll und sehr kalt. Zufrieden goss sie sich ein Glas ein. Ihr Magen knurrte gefährlich, sie verspürte einen Bärenhunger. Ein Mädchen tauchte mit einem Teller auf, dessen Inhalt unter Alufolie verborgen war, stellte ihn auf den Tisch und lüftete mit einem »Tata!« das Geheimnis. Linda lächelte sie dankbar an. Das Mädchen verschwand, und Browser tauchte mit einem zweiten Teller auf.
»Danke, Browser. Du hast mein Leben gerettet.« Nicht nur einmal.
»Lass es dir schmecken«, sagte er, setzte sich zu ihr und sah dabei zu, wie sich der Teller in Rekordtempo leerte. »Ich habe dir auch was vom Nachtisch aufgehoben.«
Ein warmes Gefühl der Geborgenheit durchströmte Linda. Sie war nicht allein, es gab Menschen, die sie liebten und die an sie dachten. Diesen Schatz muss ich hüten.
»Willst du mir erzählen, warum du dich verspätet hast?«
Sie tat nichts lieber als das und berichtete ihm haarklein, was sie inzwischen alles herausgefunden hatten, und vom Safe in Lohmanns Haus. »Wir stehen kurz vor dem Durchbruch, glaube ich. Jetzt muss Nostiz einsehen, dass er falschgelegen hat.«
»Und hilft dir das, was ich dir gemailt habe?«
»Die Steuerunterlagen? Klar.«
»Nein, ich meine die Infos zu dem Boot, die du haben wolltest.«
»Ich hab’s noch gar nicht gesehen«, sagte sie überrascht. Für einen Augenblick war sie versucht, sofort ihre E-Mails zu checken. Als sie Browsers Blick sah, besann sie sich eines Besseren. Die Ermittlungen konnten warten, alles andere nicht.
»Leyla hast du ja schon kennengelernt«, sagte Browser mit einem schelmischen Grinsen.
»Leyla?«, fragte Linda ratlos.
Browser deutete in Richtung Dachterrasse. »Sie hat dir den Teller gebracht.« Er drehte sich um und deutete mit dem Finger auf ein Mädchen. »Leyla ist die mit den langen blonden Haaren.«
Linda verstand. »Aha … was Ernstes?«
Browser nickte. »Du wirst sie bald besser kennenlernen.«
»Wie alt ist sie? Stammt sie von hier? Was macht sie?«
»Wird das ein Verhör?«
»Ich stelle hier die Fragen, Sie antworten.«
Beide lachten.
»Leyla arbeitet als Redakteurin bei der Süddeutschen, also was völlig Seriöses«, zog er sie auf.
»Aha, eine Journalistin. Und wie …«
»Ich stell sie dir vor«, sagte Browser. »Du gibst ja sonst eh keine Ruhe.« Er verschwand, um kurz darauf mit diesem Mädchen zurückzukommen.
Leyla beugte sich zu Linda und begrüßte sie mit dem typisch münchnerischen Gruß, mit einem hingehauchten Bussi links und rechts auf die Wangen.
»Isi hat mir schon viel von dir erzählt«, plauderte Leyla los. »Anfangs war ich fast ein wenig eifersüchtig auf eure Beziehung. Aber dann habe ich verstanden …«
»Isi?«, unterbrach Linda ihren Redeschwall.
Browser grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Istvan klingt so schräg«, meinte Leyla. »Ich nenne ihn lieber Isi. Das klingt soooo süß.« Sie warf Browser einen verliebten Blick zu.
»Soll ich dich auch so nennen? Isi? Oder Istvan?«, zog Linda ihn auf.
Er schüttelte heftig den Kopf. »Für dich bin und bleibe ich Browser, Isi darf mich nur Leyla nennen.«
Damit war Linda mehr als zufrieden, und wenn Browser sein Glück gefunden haben sollte, noch mehr. Leyla hatte sich gegen Browsers Spitznamen entschieden. Der gehörte nur Browser und Linda, aber dass Leyla ihm einen eigenen Kosenamen gegeben hatte, gefiel ihr sehr.
Lewandowski hatte es sich auf dem Daybed im Wohnzimmer bequem gemacht, den Fernseher eingeschaltet und eine Zigarette angezündet. Die Kollegen von der Spurensicherung, die hier mittlerweile zugange waren, um die Einbruchspuren zu sichern, hatten ihn dafür mit bösen Blicken gestraft. Es kümmerte ihn nicht, die Lohmanns hatten sicher nichts mehr dagegen.
Schlubach war über die neueste Entdeckung informiert, Bach wusste ebenfalls Bescheid, aber bis der mit seinem Equipment hier auftauchen würde, konnte es Stunden dauern. Es war ihm egal, er wusste schon, wie er sich die Zeit vertreiben würde. Was sprach dagegen, es sich hier gemütlich zu machen, während er auf Bach wartete?
Im Kühlschrank hatte er ein kaltes Weißbier gefunden, im Kühlfach eine Tiefkühlpizza. Da die Lohmanns dafür keine Verwendung mehr hatten, hatte er seine Skrupel über Bord geworfen und die Pizza kurzerhand in den Ofen gelegt. Er hatte lange gebraucht, bis er das hochmoderne Ding endlich zum Laufen gebracht hatte. Ein digitaler Albtraum, schimpfte er innerlich, ein paar einfache Schaltknöpfe taten es doch auch. Aber zehn Minuten später stieg ihm der köstliche Geruch in die Nase.
Vermutlich würde er nie mehr die Gelegenheit bekommen, in einer so luxuriösen Villa vor einem so riesengroßen Flachbildschirm einen so entspannten Abend zu verbringen. In seinem Bekanntenkreis gab es niemanden, der über ein derartiges Haus und das dazugehörige Kleingeld verfügte. Nicht, dass er davon träumte, er hatte alles, was er zum Leben brauchte, und war zufrieden damit.
Dass diese Villa ausgerechnet einem ehemaligen Kollegen gehört hatte, machte die Sache jedoch verdächtig. Hier passte nichts zusammen. Er war gespannt, welches Geheimnis der Safe offenbaren würde. Bis dahin würde er es sich bequem machen.
Im Fernsehen wurde das Master-Golfturnier in Augusta aus den USA übertragen, das er sich, mit Bier und Pizza ausgestattet, in aller Ruhe anschauen wollte. Ungefähr so hätte sein heutiger Feierabend zu Hause auch ausgesehen. Er war sehr gespannt auf Tiger Woods’ Comeback. Vor einem Jahr hatte er selbst mit Golf angefangen und überraschenderweise Spaß daran gefunden. Eigentlich hatte er kein Faible für sportliche Aktivitäten. Aber bei Golf hatte es Klick gemacht, und sein Golfhandicap verbesserte sich stetig. Zuletzt hatte er eine 18 gespielt; das ließ hoffen. Als Einzelspieler fand er immer einen Flight, dem er sich anschließen konnte. So hatte er einige nette Leute kennengelernt, einige Idioten auch. Gelegentlich spielte er auch mit Stendal, der jedoch so gut war, dass Lewandowski sich bei jeder Runde total unsicher fühlte, auch wenn Stendal stets versicherte, dass es für ihn völlig in Ordnung sei.
Nun sah er zu, wie die Pros und Tiger Woods, sein Lieblingsgolfer, den Ball fast 300 Meter weit abschlugen, und versuchte, seinen Schwung zu entschlüsseln. Stendal konnte das auch. Wie machen die das?, rätselte er, während er fasziniert zusah. Einmal so einen Longhit hinzulegen, das war ein Traum, den er heimlich hegte. Aber dazu müsste er vermutlich das Rauchen aufgeben und mehr trainieren. In einem anderen Leben, entschied er und schob sich das letzte Stück Pizza in den Mund.
Dann klingelte es an der Tür, das musste Bach sein. Lewandowski sprang von der Couch, lief in den Flur und sah in Bachs rundes Gesicht.
»Hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt?«, fragte Bach, ohne jedoch den Eindruck zu vermitteln, dass er über die späte Störung verärgert war.
»Wenn du den Safe geöffnet hast, werden wir das wissen.« Bach zog einen Trolley hinter sich her, in dem die Ausrüstung verpackt war, die er brauchen würde, um den geheimen Code zu knacken. »Wo steht er?«
Lewandowski führte ihn ins Gäste-WC, und Bach pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Na, da haben wir aber ein Schätzchen, das Neueste vom Neuesten, absolut Hightech.« Bach rieb sich zufrieden die Hände und strahlte übers ganze Gesicht. Dieser Tresor hatte seinen Jagdinstinkt geweckt.
»Kriegst du den denn auf?«
»Wenn nicht ich, wer dann?«
»Dann lass ich dich mal.«
Lewandowski überließ Bach seinem Schicksal und machte sich daran, seine Spuren zu beseitigen. Er warf den leeren Pizzakarton und die Bierflasche in den Mülleimer und nahm den Müllbeutel heraus, um ihn später mitzunehmen und wegzuwerfen. Dann spülte und trocknete er seinen Teller ab und stellte ihn zurück in den Schrank.
Zurück im Wohnzimmer, schaltete er den Fernseher aus, strich die Polster auf dem Daybed glatt, schüttelte die Kissen auf, auf denen er gelegen hatte, und brachte sie wieder in ihre ursprüngliche Position. Mira wäre entzückt, schoss es ihm durch den Kopf. Dann ging er zur Gästetoilette.
Bach kauerte vor dem Tresor auf dem Boden mit einem Laptop auf dem Schoß. Auf dem Bildschirm liefen in rasend schnellem Tempo Zahlen- und Buchstabenreihen herunter. Was genau er da machte, verstand Lewandowski nicht im Entferntesten. Es sah kompliziert aus. Die ganze Welt der Computer war ihm ein Rätsel, und noch weniger konnte er sich erklären, was Leute wie Bach taten.
»Und? Wie kommst du voran?«
»Hab’s gleich.«
Nach einigen Minuten klappte Bach den Laptop zu, stellte ihn auf den Fußboden und sprang auf die Füße. Dann tippte er eine Zahlenkombination in das Display auf der Tresortür ein, die mit einem leisen Klicken aufsprang.
»Bitte schön.« Zum zweiten Mal in dieser Nacht entdeckte Lewandowski eine unübersehbare Regung in Bachs ansonsten ausdruckslosem Gesicht. Das war eindeutig ein Lächeln.
Lewandowski zog die schwere Tür des Tresors auf.
»Ach du große Scheiße«, sagte er, als er den Inhalt erblickte. Wenn das mal nicht ein Knaller war.
Er machte ein paar Fotos und simste sie Linda kommentarlos. Er erwartete eine prompte Reaktion, aber die kam nicht. Vermutlich war sie mit Besserem beschäftigt.