Kapitel 30

Als sie die Stelle im Perlacher Forst erreichte, hing der Tote immer noch am Baum in luftiger Höhe, während die Höhenretter damit beschäftigt waren, ihn abzuseilen. Gemeinsam mit Dr. Lengsfeld sah sie den Männern dabei zu, wie sie die Leiche bargen.

Als der tote Körper endlich am Boden lag, betrachtete Linda das Gesicht des Toten. Er hatte seine Haare komplett abrasiert und trug stattdessen einen Vollbart – ein Aussehen, das heutzutage auf viele junge Männer passte. Sie machte ein paar Fotos mit ihrem Smartphone. Dann durchsuchte sie vorsichtig die Taschen des Toten nach einem Ausweis oder irgendeinem Hinweis auf seine Identität.

Währenddessen begutachtete Dr. Lengsfeld den Körper. »Eines kann ich schon mit Gewissheit sagen. Der Mann ist an einem Genickbruch gestorben. Der ist von da oben runtergesprungen, das Seil war lang genug.«

»Oder er wurde gestoßen«, murmelte Linda abwesend.

»Haben Sie seine Papiere gefunden? Wissen wir schon, um wen es sich handelt?«

Linda schüttelte den Kopf. »In seinen Taschen ist nichts, rein gar nichts.« Sie seufzte. Dass sie seine Identität nicht kannten, würde ihr die Arbeit nicht erleichtern. Aber das hatte Zeit bis morgen, entschied sie, die anderen Ermittlungen hatten Vorrang.

»Und wie lange hängt er hier schon?«

»Nicht lange«, meinte Dr. Lengsfeld, »ein paar Stunden. Ich werde ihn aber erst morgen obduzieren können. Kommen Sie dazu?«

Linda nickte.

»Schönen Abend noch«, verabschiedete sich Dr. Lengsfeld. Und auch Linda trat den Heimweg an.

Jessica Bianchi traf fast der Schlag, als sie die Nachricht auf ihrem Smartphone las. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder.

Jes. Komm zum See. Du weißt, wo. Jetzt! Allein! Sei vorsichtig, damit dich niemand sieht.

War das möglich, hatte ihr Herz sie all die Jahre getäuscht, und Filippo war am Leben, wie die Polizisten behauptet hatten? Wer sonst sollte ihr diese Nachricht schicken? Nur Filippo hatte sie so genannt, Jes, das war sein Kosename für sie gewesen. Niemand sonst kannte ihn. Ihr Herz raste, sie musste sich hinsetzen und Luft holen. Ihr Sohn hatte nichts davon mitbekommen. Er lag in seinem Krankenbett und sah sich einen Cartoon im Fernsehen an.

Wie lange würde sie brauchen, um dorthin zu kommen? Mit dem Auto sollte sie vom Krankenhaus in einer guten halben Stunde dort sein. Sie zögerte, sie hatte kein gutes Gefühl, und sie wollte ihren Sohn nicht allein lassen. Andererseits war er hier in den besten Händen.

Die SMS hatte bereits ihren Sog entfaltet. Sie musste dorthin, sie brauchte Gewissheit. Auch wenn ihr Verstand sagte, dass es unmöglich Filippo sein konnte, der ihr diese Nachricht geschickt hatte, schrie ihr Herz nach ihm.

Warum hatte er ihr diese Nachricht anonym geschickt, warum hatte er ihr nicht seine Telefonnummer gesimst? Aber so war er immer gewesen. Was seine Geheimniskrämerei betraf, hatte er im Lauf der Jahre eine regelrechte Paranoia entwickelt.

»Mama muss kurz mal weg. Kann ich dich eine Stunde allein lassen? Du darfst auch mit meinem Tablet spielen.«

Diese Information genügte, um den Jungen zu einem begeisterten Nicken zu veranlassen. Sie legte ihm ihr iPad auf den Schoß. »Wenn du etwas brauchst, klingelst du nach der Schwester. Und du kannst mich auf dem Handy anrufen. Okay?«

Wieder ein abwesendes Nicken, ohne den Blick vom Tablet abzuwenden. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr überhaupt zugehört hatte, so gebannt starrte er auf den kleinen Bildschirm. Warum übten diese Dinger nur so eine magische Kraft auf Kinder aus?

»Ich bin in zwei Stunden wieder zurück.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Scheitel.

Er war es gewohnt, allein zu sein, insofern musste sie sich keine Sorgen machen. Aber wohl war ihr nie dabei. Mit einem letzten zärtlichen Blick auf ihn verließ sie sein Krankenzimmer.

Am Westufer des Starnberger Sees angekommen, parkte sie ihren Wagen am Ende der kleinen Straße, stieg aus und ging langsam in Richtung See. Sie sah sich suchend um. Es war stockdunkel, und sie spürte, wie die Angst ihren Rücken hochkroch.

»Filippo? Bist du da?«, rief sie leise.

Stille. Sie hörte nur das Rauschen der Blätter im Wind. Die Dunkelheit lastete wie Blei auf ihr. Sie ging ein paar Schritte weiter, blieb stehen, drehte sich um ihre eigene Achse. Keine Menschenseele hielt sich um diese Zeit an diesem unheimlichen Ort auf. Nirgends war ein Haus zu sehen, nirgends brannte ein Licht. Warum hatte er sie hierhergelotst?

Dann hörte sie den Signalton, eine neue SMS hatte sie erreicht.

Geh zurück zum Auto und setz dich rein. Ich bin gleich bei dir.

Auch wenn diese Nachricht so seltsam anmutete wie das ganze Treffen hier, folgte sie den Anweisungen und ging zurück zu ihrem Wagen, setzte sich hinters Steuer und wartete.

Ein Geräusch ließ sie erstarren.

Eine Hand griff nach ihrem Haar und riss ihren Kopf nach hinten, eine andere Hand presste ihr ein feuchtes Tuch auf Nase und Mund. Sie schlug wild um sich, doch es gelang ihr nicht, sich zu befreien. Der Griff war unnachgiebig wie ein Schraubstock. Sie konnte nicht mehr atmen, die Luft blieb ihr weg. Sie verlor das Bewusstsein und versank in Dunkelheit …

… bis ein lautes Rauschen an ihre Ohren drang.

Sie fror entsetzlich, ihr Kopf dröhnte. Es war stockdunkel um sie herum und entsetzlich kalt. Eisiges Wasser umspülte ihren Körper. Schlagartig kam sie zu sich.

Wo war sie?

Was war geschehen?

Sie konnte nichts sehen, verstand aber, dass es Wasser war, das immer höher stieg. Es stand ihr bereits bis zur Brust, in der sich ihr Herz zusammenzog. In den Ohren verspürte sie einen stechenden Schmerz. Mit den Händen tastete sie hektisch alles ab, fühlte das Lenkrad vor sich, das Armaturenbrett, die Autotür zu ihrer Linken. Sie griff nach dem Türgriff und rüttelte daran. Nichts geschah.

Sie verstand: Ihr Leben war in Gefahr. Todesangst ergriff von ihr Besitz. Sie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, aber ihre Lage sah sie glasklar: Sie saß in ihrem Wagen, der mit Wasser volllief und unterging. Sie musste hier raus. Verzweifelt versuchte sie, die Autotür zu öffnen, hämmerte panisch mit den Fäusten gegen die Fensterscheiben.

Sie kämpfte weiter, selbst als das Wasser seinen Weg durch Nase und Mund in ihre Lungen fand.

Niemand hörte ihre stummen Schreie.