Kapitel 31

Eiskalte Finger streiften ihren Nacken und griffen nach ihrem Hals. Die Angst rollte in Schockwellen über Linda hinweg, die Furcht saß wie ein Dämon auf ihrer Brust. Sie wollte schreien, konnte jedoch nur ein Krächzen aus ihrer Kehle herauspressen. Ihr Atem ging stoßweise und pfeifend. Etwas folgte ihr, sie konnte das Rascheln im Dickicht, das Knacken im Unterholz hören. Sie drehte sich blitzartig um und wagte einen Blick auf den Verfolger, doch nichts und niemand war zu sehen. Hatte ihre Fantasie ihr nur einen bösen Streich gespielt?

Nein, sie wusste mit absoluter Gewissheit, dass ihr eine böse Kreatur auf den Fersen war, sie beobachtete und nur auf eine Gelegenheit lauerte, aus der Deckung zu springen und über sie herzufallen. Die Angst trieb sie weiter bis ans Ufer des dunklen Sees. Sie spürte diese bösartige Präsenz im Rücken. Es gab kein Zurück mehr. Wenn sie sich retten wollte, musste sie ins Wasser springen, in dieses dunkle, kalte Loch.

Ein Geräusch hinter ihr verriet, dass der Verfolger nur noch wenige Schritte entfernt war. Sie hörte, wie dieses schattenhafte Untier zum Sprung ansetzte. Sie hatte keine Wahl. Sie stieß sich vom Ufer ab und tauchte kopfüber ein in das schwarze Nichts.

Schweißgebadet und zitternd lag sie in ihrem Bett. Sie begriff, dass ein furchtbarer Albtraum sie heimgesucht hatte.

Aber ihre Angst war wirklich. Sie blieb regungslos liegen, versuchte, die Erinnerung an diesen schrecklichen Traum zu löschen. Er war so wirklich gewesen, voller Details und Klarheit. Woher kamen Träume wie diese, was hatten sie zu bedeuten? Wollte sie jemand von ihrem Vorhaben abbringen, sie warnen? Oder hatte eine unerklärliche Angst vor dem, was ihr bevorstand, diesen Horrorfilm heraufbeschworen?

Abrupt setzte sie sich auf. Egal, was es damit auf sich hatte, sie würde ihren Plan durchziehen. Nichts und niemand würde sie davon abhalten, die Wahrheit ans Licht zu holen. Am allerwenigsten ein Traum oder ihre Angst.

Zum Glück war Lukas nicht da. Sie hatte gestern Abend lange mit ihm telefoniert, aber nichts von ihrem geplanten Tauchtrip erzählt. Sie hatte zuvor lange überlegt, ob sie ihm alles beichten sollte oder nicht. Früher hätte sie keine Sekunde gezögert. Aber inzwischen wusste sie, dass Lukas sich sehr große Sorgen um sie machte. Bei den letzten beiden Mordermittlungen wäre sie fast selbst ums Leben gekommen. Sie spürte, dass Lukas damit nicht zurechtkam. Wenn sie ihm von ihrem nächsten riskanten Manöver erzählt hätte, hätte er garantiert versucht, sie davon abzuhalten. Aber sie brauchte Gewissheit.

Tiefe Dunkelheit lag über dem See, als sie kurz nach fünf Uhr ihren Wagen am Starnberger See parkte. Der Sonnenaufgang war für 06:24 Uhr angekündigt. Bis dahin hatte sie Zeit, das Equipment ans Ufer zu bringen und sich auf diesen Tauchgang vorzubereiten. Ihr Plan sah vor, pünktlich zum Sonnenaufgang zu starten. Sie hatte alles x-mal im Kopf durchgespielt.

Nun stand sie wie gelähmt am Ufer und starrte auf zwei Reifenspuren, die geradewegs ins Wasser führten. Die Spuren waren frisch, die hatte es bei ihrem letzten Besuch hier noch nicht gegeben; sie wären Lewandowski und ihr aufgefallen. Sie schnappte sich die Taschenlampe und hielt sie direkt darauf. Kein Zweifel, hier handelte es sich um die Reifenspuren eines Mittelklassewagens.

Was in aller Welt war hier gestern geschehen? Sie schauderte, ihr Vorhaben wurde immer unheimlicher. Der bevorstehende Tauchgang würde ihr allen Mut abverlangen, und diese unerklärlichen Reifenspuren trugen nicht dazu bei, ihr aufgewühltes Inneres zu beruhigen.

Linda machte ein paar Fotos von den Spuren, dann holte sie ihren Wagen und parkte ihn direkt am Ufer mit dem Heck in Richtung Wasser, unweit von der Stelle, an der sie vorhatte, hineinzugehen, aber weit genug von den Reifenabdrücken entfernt, um die Spuren nicht zu zerstören.

Die nahende Morgendämmerung schickte ein milchiges Licht voraus. Die Gedanken an das, was sie da unten in der Tiefe erwarten könnte, flatterten wie Vögel durch ihren Kopf, die verzweifelt versuchten, aus einem viel zu kleinen Käfig zu entfliehen. Sie spürte einen Knoten im Hals. Es gab kein Zurück mehr.

Linda schlüpfte aus Hose, Sweater und Unterwäsche, zog ihren Badeanzug an und zwängte sich in den hautengen Neoprenanzug, der sie vor der Kälte schützen sollte, genauso wie die Tauchschuhe. Als Nächstes legte sie die Tarierweste an, schloss die Schnappverschlüsse und zog die Schlaufen fest.

Sie gönnte sich eine kurze Verschnaufpause und ließ den Blick über den See schweifen. Die ganze Aktion war unverantwortlich. Kein vernünftiger Mensch ging allein zum Tauchen, schon gar nicht in so einem unbekannten, gefährlichen Revier. Die Verbotsschilder, die hier am Ufer standen, warnten eindringlich davor. Sie wusste selbst am besten, dass sie gegen eine elementare Grundregel verstieß. Aber es ließ sich nicht ändern, sie wollte niemanden mit hineinziehen. Es war ihre Idee, kein anderer sollte dafür Kopf und Kragen oder die eigene Karriere riskieren.

Sie schnappte sich das aufgerollte Nylonseil, das auf der Ladefläche ihres Pick-ups lag, und befestigte das eine Ende mit einem festen Knoten an der Abschleppöse des Wagens. Das andere Ende legte sie um ihren Bauch und zurrte es mit einem Knoten fest. Diese Nabelschnur sollte sie gegen mögliche Strömungen und Untiefen sichern. Ein letzter prüfender Ruck am Seil zeigte ihr, dass der Knoten hielt. Nun brachte sie den Tauchcomputer an ihrem linken Handgelenk an und schaltete ihn ein. Er funktionierte einwandfrei.

Inzwischen war es 05:45 Uhr, der Sonnenaufgang rückte näher und mit ihm das Tageslicht, das ihr jedoch da unten im See nicht weiterhelfen würde.

Sie steckte das große Jagdmesser in die dafür vorgesehene Lasche am rechten Bein des Neoprenanzugs und schloss den Klettverschluss. Sie schraubte das Ventil an der Sauerstoffflasche auf, befestigte das Atemgerät daran, drehte den Druckmesser in Richtung Boden und öffnete langsam das Ventil. Dann drehte sie den Druckmesser um, checkte das Display und prüfte den Inhalt. Die Flasche war voll und würde ihr ausreichend Luft für einen längeren Tauchgang liefern. Sie hatte zu Hause alles genau berechnet, wie lange sie wie tief gehen konnte und wann sie spätestens wieder auftauchen müsste, zwei Sicherheitsstopps inklusive.

Sie spuckte in die Tauchermaske, verrieb den Speichel, wusch ihn mit Seewasser wieder weg und setzte die Taucherbrille auf den Kopf. Dann legte sie Handschuhe, Lampe, Kamera und Flossen griffbereit ans Wasser und band den Bleigürtel um ihre Hüften.

Es folgte der letzte Akt, der sie endgültig in einen unbeweglichen Koloss an Land verwandeln sollte. Sie hievte die Tauchflasche auf den Rücken und schloss den Klettverschluss um ihre Taille. Mühsam ging sie zu Boden, setzte sich ans Ufer, schlüpfte in die Flossen, zog die Handschuhe über, befestigte Kamera und Lampe mit den Schlaufen an ihrem Handgelenk.

Sie war bereit.

Sie nahm das Mundstück des Atemgeräts in den Mund und holte tief Luft. Alles funktionierte tadellos, dem Tauchgang stand nichts mehr im Wege. Sie stülpte die Maske über Augen und Nase und robbte schwerfällig ins Wasser.

»Lieber Gott, steh mir bei«, murmelte sie. Ob ihr Stoßgebet erhört wurde?

Dann stieß sie sich vom Ufer ab und tauchte ein. Das Wasser war noch kälter als erwartet. Es würde eine Weile dauern, bis sich der Wasserfilm zwischen ihrer Haut und dem Neoprenanzug erwärmt hatte. Zitternd zog sie an dem Seil, das sie mit ihrem Wagen verband. Es rollte sich problemlos auf und würde ihr maximal 40 Meter Tiefe erlauben. Tiefer würde sie nicht gehen. Dieses Risiko würde sie nicht eingehen. Auch wenn dieses Unternehmen gefährlich war und sie damit erneut ihre extreme Risikofreude unter Beweis stellte, lebensmüde war sie nicht. Sie ließ die Luft aus der Tarierweste entweichen, schaltete die Taschenlampe ein und tauchte endgültig ein in die undurchdringliche Dunkelheit des Sees.