Während sie ins Präsidium fuhr, ließ sie die vergangenen Ereignisse und bisherigen Ermittlungen Revue passieren. Konzentrier dich auf die Fakten, schärfte sie sich selbst ein. Lukas’ Worte klangen ihr immer noch in den Ohren wie ein warnender Ruf. Sie musste alle Ergebnisse mit einem unvoreingenommenen Blick hinterfragen und die Spur hinter der Spur suchen.
Ausgangspunkt war der Dreifachmord. Lohmann war auf grausame Art langsam getötet worden, seine Frau und sein Kind schnell und präzise. Sie versuchte, diese Morde wie einen Film vor ihrem geistigen Auge abzuspielen. Wenn der Täter die beiden hinterrücks überrascht hatte, hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, die Situation zu begreifen. Ihr Tod kam zu schnell.
Der Täter verstand es zu töten, das stand außer Frage. Es war nicht leicht, einem Kind in den Kopf zu schießen. Er musste Übung im Töten haben. Entweder hatte er eine kriminelle Natur und bereits zuvor Menschen umgebracht, oder er hatte es gelernt, zum Beispiel bei der Polizei oder beim Militär. Aber das erklärte noch nicht, warum die beiden sterben mussten. Waren sie unerwartet aufgetaucht und mussten als Zeugen aus dem Weg geräumt werden, oder sollte Lohmann dabei zusehen, wie die beiden starben? Dieser Gedanke war verstörend, aber er ließ Linda nicht mehr los. Konnten Jähne und Schwarz derart gepolt sein? Irgendetwas in ihr sträubte sich gegen diese Vorstellung. Wozu diese Grausamkeit? Nur jemand, der auf Rache aus war, konnte derartige Gefühle entwickeln.
Wenn sie Lukas’ Gedankenspiel weiterspann, dass dieser Dreifachmord einen ganz anderen Hintergrund hatte als bislang vermutet, dann hatte sie bisher nicht den geringsten Hinweis auf diesen Mörder gefunden. Hatte sie wirklich etwas übersehen, weil sie diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen hatte? Hatte sie möglicherweise den gleichen Fehler begangen wie Nostiz und sich frühzeitig festgelegt?
Was, wenn Lukas recht hatte und sie in eine völlig falsche Richtung rannte? Ob es schon zu spät für eine Vollbremsung und Kehrtwende war? Ich muss die Ermittlungen neu aufrollen, sofort. Mit diesem Gedanken kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück.
Während der nächsten Stunden brütete sie über den Ermittlungsakten zum Fall Lohmann und suchte nach anderen Spuren. Es fiel ihr nicht leicht, alles unvoreingenommen zu betrachten, sie bemühte sich jedoch, so neutral wie möglich zu bleiben, gerade so, als würde sie all das zum ersten Mal lesen.
Doch sie entdeckte nichts Neues. Die einzig offene Frage, die sich ihr stellte, war, wo sich dieser eine Mitarbeiter aus Lohmanns Firma aufhielt. Stendal hatte ihn immer noch nicht aufgestöbert. Sie würde sich selbst darum kümmern, beschloss sie.
Ihre Euphorie nach dem Fund, den sie bei ihrem riskanten Tauchgang gemacht hatte, war längst verflogen und einer großen Erschöpfung gewichen. Auch Lewandowskis Anruf, in dem er sie über die neuesten Entwicklungen informierte, verbesserte ihre trübe Stimmung nicht. Die zwei Leichen waren geborgen und befanden sich auf dem Weg in die Rechtsmedizin, die beiden Wagen waren für die weitere Untersuchung der Spurensicherung abtransportiert worden. Bis konkrete Ergebnisse vorlagen, könnte es Tage, wenn nicht Wochen dauern.
Missmutig schob sie die Unterlagen beiseite. Hier kam sie nicht weiter. Vielleicht würde diese vermaledeite Verschlussakte etwas Neues zutage fördern. Sie ging in Lewandowskis Büro und fand dort vier Kartons, die noch ungeöffnet auf dem Fußboden standen. Sie hob die Deckel ab und schaute hinein. Alle vier waren randvoll mit Ermittlungsakten. Der Grad ihrer Erschöpfung erreichte einen neuen Höhepunkt. Die Menge des Materials, das sie sichten musste, erschlug sie förmlich. Hier gab es Unmengen von Tatortfotos, Vernehmungsprotokolle in Hülle und Fülle, dazu unzählige Berichte der Spurensicherung, der Ballistik, der KTU, natürlich alle Obduktionsberichte sowie Aufzeichnungen zu Befragungen von Zeugen und möglichen Verdächtigen. Sämtliche Zeitungsartikel und Pressemeldungen lagen ebenfalls bei. Denn das gesammelte Material umfasste nicht nur die Ermittlungsunterlagen zu dem Überfall vor drei Jahren, es reichte viel weiter zurück.
Sie schleppte die vier Kartons hinüber in ihr Büro, drei landeten auf dem Fußboden, einer auf dem Schreibtisch. Sie hatte nach dem Zufallsprinzip eine Kiste ausgewählt, mit der sie anfangen würde. Sie holte das Material aus dem Karton und breitete die verschiedenen Mappen fächerförmig auf dem Schreibtisch aus. Wie sollte sie vorgehen? Das war uferlos. Und die Schlüsselfrage war: Wozu das alles? Würde sie das weiterbringen? Was hatte sie tatsächlich herausgefunden? Nichts.
Lukas’ Worte klangen schmerzhaft in ihren Ohren. Sie hatte den gleichen Fehler wie Nostiz begangen, sie war keinen Deut besser als er. Und in ihrem Übereifer hatte sie einen verhängnisvollen Fehler begangen und verraten, was Jessika Bianchi ihr anvertraut hatte. Nun war die Frau tot.
Aber ich werde herausfinden, wer dich auf dem Gewissen hat.
Jessikas Mörder würde nicht ungeschoren davonkommen. Das war sie ihr schuldig. Und was geschah mit ihrem Sohn? Er war jetzt Vollwaise. Diese Frage musste sie sofort klären. Linda tätigte ein paar Telefonate, bis sie herausgefunden hatte, dass Jessika eine Schwester hatte, die sich um den Jungen kümmern würde. Wenigstens hatte er noch eine Restfamilie, dachte sie erleichtert.
Ihr Blick ruhte auf dem Berg von Informationen, der sich auf ihrem Schreibtisch häufte. Ihr Körper fühlte sich an wie in Blei gegossen. Sie legte den Kopf auf die Schreibtischplatte und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
So fand Lewandowski sie vor, als er am frühen Nachmittag ins Präsidium zurückkam. Er weckte sie nicht, sondern zog leise ihre Bürotür zu. Die Ermittlungen hatten jetzt Pause, sie brauchte diesen Schlaf, der Tauchgang hatte vermutlich all ihre Energiereserven aufgebraucht.
Er ging zum Chef, um ihm von den neuesten Entdeckungen zu berichten. Schlubach lauschte stumm, bis er fertig war. »Ich hole Nostiz.« Nach einem kurzen Telefonat sagte er: »Er kommt. Wir warten auf ihn.«
In der Zwischenzeit erzählte Lewandowski alles, was Linda bislang umgetrieben und was sie herausgefunden hatte.
»Solche Alleingänge werden sie irgendwann das Leben kosten«, meinte Schlubach.
Lewandowski nickte zustimmend. »Ich kann sie nicht die ganze Zeit vor sich selbst beschützen. Ist eigentlich der Laptop schon geknackt?«
Schlubach schüttelte den Kopf.
Dann tauchte Nostiz auf, nickte beiden zu, setzte sich auf den freien Stuhl und lauschte stumm, was Lewandowski nun auch ihm zu berichten hatte. Binnen Sekunden vollzog sich bei Nostiz eine Verwandlung. Er hatte die neue Lage augenblicklich überrissen und passte sein Verhalten blitzschnell an. Er reagierte überraschend professionell und emotionslos, als wäre diese Entwicklung, die letztlich Linda in Gang gesetzt hatte, das Normalste auf der Welt.
»Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse«, sagte Nostiz, der seine Optionen in Windeseile neu ausgelotet hatte, »werden wir den Fall neu aufrollen. Wir wissen zwar trotz allem nicht, ob das etwas mit dem Mord an Lohmann zu tun hat, deswegen bleibt Weihrich unser Hauptverdächtiger und in U-Haft. Aber Sie ermitteln in alle Richtungen weiter.«
»Wir müssen Jähne und Schwarz vernehmen.«
»Das werde ich selbst übernehmen«, bestimmte Nostiz.
Lewandowski biss sich auf die Zunge. Er konnte nicht fassen, dass Nostiz immer noch das Offensichtliche ignorierte. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Wahrheit ans Licht kam. Sollte es Nostiz nicht gelingen, sie würden es auf jeden Fall aus Jähne oder Schwarz herausbekommen, und dafür würden sie sehr weit gehen.
»Dann lasse ich die beiden Kollegen mal hierherschaffen«, sagte Lewandowski.
Der Staatsanwalt nickte stumm. Lewandowski stand auf und verzog sich.
Nostiz, der ebenfalls gehen wollte, wurde von Schlubach aufgehalten. »Auf ein Wort.«
Widerwillig blieb Nostiz stehen. »Machen Sie es kurz.«
»Hätten Sie uns von Anfang an Einblick in die Ermittlungsakten zu dem Überfall gewährt, wäre das alles völlig anders verlaufen«, ging Schlubach ihn frontal an.
»Ich sehe keinen direkten Zusammenhang zu unseren aktuellen Ermittlungen«, entgegnete Nostiz.
»Ihre damaligen Ermittlungen waren falsch. Vermutlich war Bianchi nicht der alleinige Täter. Möglicherweise waren auch Lohmann und Schwarz an dem Überfall irgendwie beteiligt, vielleicht haben sie auch etwas mit Bianchis Verschwinden zu tun.«
»Reine Spekulation.«
Schlubach stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Welche Rolle Lohmann, Schwarz und Jähne dabei gespielt haben, werden wir klären. Aber hätten Sie diesen Überfall auf den Geldtransport damals tatsächlich aufgeklärt, wäre möglicherweise herausgekommen, dass es korrupte Polizisten gegeben hat. Stattdessen haben Sie alles unter den Teppich gekehrt und sogar die aktuellen Ermittlungen behindert.«
Nostiz’ Gesichtszüge entgleisten, aber er hatte sich blitzschnell wieder unter Kontrolle. »Sie gehen entschieden zu weit«, wehrte er sich empört. »Der Fall schien damals klar zu sein. Und mit dem aktuellen Mord muss dies alles überhaupt nichts zu tun haben.«
Schlubach musste sich gewaltig zusammenreißen, denn diese Ignoranz trieb ihn fast in den Wahnsinn. »Das wird Konsequenzen für Sie haben.«
»Ich warne Sie. Sie überschreiten Ihre Kompetenzen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ Schlubach stehen.
Wir sind noch nicht fertig, dachte Schlubach. Damit würde er Nostiz nicht davonkommen lassen. Diesmal nicht.