Lewandowski folgte Schwarz so unauffällig wie möglich. Sie fuhren auf der schmalen Straße am Starnberger See entlang, erreichten schließlich Tutzing und durchquerten den kleinen Ort am See. Am Ortsende bog Schwarz ab. Lewandowski drosselte sein Tempo, um ihm Vorsprung zu gewähren. Dann fuhr er langsam in dieselbe Straße und konnte aus sicherer Entfernung beobachten, wie Schwarz seinen Wagen abstellte, ausstieg und in einem Haus verschwand.
Hier wohnst du also, dachte Lewandowski und näherte sich im Schritttempo dem Haus. Er parkte auf der anderen Straßenseite, blieb eine Weile im Auto sitzen und beobachtete das Haus aus sicherer Entfernung. Es war ein großer Bungalow in bester Lage mit Seeblick. So etwas war inzwischen unbezahlbar geworden.
Alles blieb ruhig. Schließlich stieg Lewandowski aus und ging zu Schwarz’ Wagen, der nicht verschlossen war. Leise entriegelte und öffnete er die Haube und brauchte nur ein paar Sekunden, um die Verbindung zu den Zündkerzen zu unterbrechen. Dann schloss er genauso leise die Haube wieder, ging zur Haustür und klingelte.
Die Tür schwang auf. »Sie?« Schwarz starrte ihn an.
»Tut mir leid, Sie zu Hause zu stören. Kann ich Sie kurz sprechen?«
Schwarz dachte einen Augenblick darüber nach, dann trat er zur Seite und ließ ihn eintreten. Sie gingen durch den Flur in die Küche. Schwarz deutete auf einen Stuhl am Esstisch, und Lewandowski nahm Platz. Blitzschnell sah er sich um.
»Wieso haben Sie mich nicht im Dezernat aufgesucht?«
»Wollte ich, aber als ich eintraf, sind Sie gerade losgefahren. Ich habe gehupt, aber Sie haben nicht reagiert. Da bin ich Ihnen gefolgt.« Was für eine blöde Geschichte, dachte Lewandowski, die frisst der nie.
Schwarz musterte ihn misstrauisch. »Was wollen Sie?«
»Wir haben heute Morgen zwei Autos und zwei Leichen aus dem Starnberger See gefischt.«
»Wo?«
Manipulation hatte viele Gesichter. Lewandowski hatte zu viele Lügner getroffen, ihr Spiel beobachtet und durchschaut. So leicht hielt ihn niemand zum Narren, schon gar nicht Schwarz. Der wusste genau, wovon er hier sprach.
»Der eine Wagen gehört Jessika Bianchi. Sie saß tot hinter dem Steuer. Der andere Wagen ist ein roter Ferrari. Die Leiche im Kofferraum müsste Filippo Bianchi sein.«
»Nicht möglich. Dann ist der Dreckskerl tatsächlich tot.«
»So wie seine Frau. Was sagen Sie dazu?«
»Ich? Was habe ich mit der zu schaffen?«
»Das frage ich Sie.«
»Was spielt das für eine Rolle? Der Mord an meinem Ex-Partner ist aufgeklärt, und Nostiz hat die Ermittlungen eingestellt, oder?« Schwarz blieb cool.
Zeit, das Feuer anzufachen, entschied Lewandowski. »Wir haben kein Geständnis von Steffen Weihrich, und wenn Sie mich fragen, kommt er als Mörder auch nicht infrage. Seit heute Morgen wissen wir, dass es Bianchi auch nicht gewesen sein kann. Stellt sich also die Frage, wer Lohmann und dessen Familie tatsächlich auf dem Gewissen hat. Irgendeine Idee?«
»Sagen Sie’s mir.«
»Ich glaube, dass Bianchi nicht mehr für Lohmann den Spitzel spielen und aussteigen wollte. Der Überfall vor drei Jahren sollte sein letzter Deal sein. Das wissen wir von Jessika Bianchi. Und dann wurden Bianchi und die anderen abgeknallt, Bianchis Leiche im Starnberger See versenkt, und das Geld verschwand. Nur wer ist dafür verantwortlich?«
Schwarz sah ihn an wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung. Die Glut war zu neuem Leben erwacht.
»Haben Sie fifty-fifty gemacht, oder hat Lohmann den Löwenanteil behalten?«
Schwarz lachte hämisch auf. »Fantasie haben Sie.« Dann verwandelte sich sein Grinsen in eine Grimasse.
»Wir haben auf Lohmanns Laptop eindeutige Beweise gefunden«, warf Lewandowski ihm vor die Füße. Das war zwar frei erfunden, aber Bluffen gehörte zum Geschäft. »Und deshalb begleiten Sie mich jetzt aufs Präsidium.«
Er hatte nicht mit der Schnelligkeit gerechnet, mit der Schwarz ihm eine verpasste. Die Faust traf ihn genau am Kinn. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Knock-out dauerte nur ein paar Sekunden, aber lange genug für Schwarz, um abzuhauen. Bis Lewandowski wieder bei Sinnen war, hatte sich Schwarz in Luft aufgelöst. Was für ein Anfängerfehler, schimpfte er sich selbst. Ich werde alt. Seine Waffe war auch weg. Taumelnd rannte er nach draußen und sah, wie Schwarz vergeblich versuchte, seinen Wagen zu starten.
Lewandowski flitzte zu seinem eigenen Wagen, holte sein Gewehr aus dem Kofferraum, postierte sich hinter dem Auto, legte das Gewehr auf die Kühlerhaube und zielte damit direkt auf Schwarz. Er spürte das kalte Metall an der Wange und wie seine Halsschlagader dagegen hämmerte. Durch das Zielfernrohr konnte er Schwarz’ Hinterkopf deutlich sehen. Ein Schuss würde genügen, und dieser Kopf würde wie eine Melone zerplatzen.
Lewandowski wartete gespannt, welchen Schritt Schwarz, der vermutlich gerade über seine Optionen nachdachte, als Nächstes tun würde. Zeit verstrich, ohne dass irgendetwas geschah.
»Geben Sie auf, Schwarz! Sie haben keine Chance!«, rief Lewandowski ihm zu.
Durch das Zielfernrohr visierte er weiter Schwarz’ Hinterkopf an. »Wir haben Jähne!«, bluffte er. »Der wird gerade vernommen und singt wie ein Vöglein.«
Schwarz rührte sich nicht von der Stelle.
»Sie sind überführt! Es ist zu Ende! Kommen Sie raus! Mit erhobenen Händen! Lassen Sie die Waffen im Wagen!«
Minuten verstrichen.
Dann wurde die Fahrertür langsam geöffnet, und zwei Hände kamen zum Vorschein. »Nicht schießen! Ich komme jetzt raus.«
Schwarz tauchte auf und streckte die Hände in die Höhe.
»Bewegen Sie sich ganz langsam!« Lewandowski hatte das Gefühl, als wäre sein Herz eine Etage nach oben gerutscht und säße nun genau unter seinem Kinn. Der Puls raste, das Blut rauschte in seinen Ohren. »Legen Sie Ihre Hände auf das Autodach!«
Schwarz tat, wie Lewandowski ihm befohlen hatte. Langsam drehte er sich um und stützte sich am Auto ab. Er musste einem Bullen nicht erzählen, wie eine Festnahme abzulaufen hatte.
Lewandowski sah durch das Zielfernrohr. Schwarz schien keine Waffe am Körper zu tragen. Trotzdem blieb er auf der Hut. Der Mann war zu allem fähig. Dann ging er wie in Zeitlupe auf ihn zu.
»Auf den Boden!«
Schwarz warf ihm einen bitterbösen Blick zu, doch er folgte der Aufforderung, legte sich bäuchlings auf den Boden und nahm die Hände auf den Rücken. Blitzschnell war Lewandowski über ihm, drückte ihm ein Knie in den Rücken. Dann klickten die Handschellen. Erst als er sich vergewissert hatte, dass sie wirklich eingerastet waren, atmete er tief ein und aus.
»Damit kommst du nicht durch.«
»Wir haben dich an den Eiern.«
»Gar nichts habt ihr.«
Lewandowski spürte, dass Schwarz das ernst meinte. Wenn er nicht reden wollte, würde es Jähne tun. Lewandowski wusste, dass sie verdammt nah dran waren an der Wahrheit, und die wollte immer ans Licht.
Irgendetwas in ihrem Innern hatte angeschlagen, ihr war, als hätte sich gerade eine neue Tür geöffnet, durch die sie nur hindurchgehen musste, um auf der anderen Seite die Wahrheit zu finden. Welche Wahrheit?
Der Rest von Nostiz’ Verschlussakte hatte seine Sogwirkung verloren. Wie sehr hatte sie sich darauf versteift, an diese Unterlagen zu kommen. Und nun standen sie vor ihr, und sie hatte keine Augen mehr dafür. Jetzt gab es eine Spur, der sie folgen musste, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Sackgasse handelte, mehr als hoch war.
Ihre Recherchen zur fahrlässigen Tötung in Verbindung mit einer Fahrerflucht förderten keine weiteren Erkenntnisse zutage. In einem Zeitungsartikel fand Linda jedoch ein Foto des Jungen. Sie musste mehr über diesen Sebastian Maas erfahren. Eine Personenabfrage lieferte ein paar dürftige Fakten aus dessen Leben. Der Vater des Jungen, der die Frau nach der Geburt des zweiten Kindes verlassen hatte, lebte damals irgendwo in Thailand und war nicht auffindbar gewesen. So hatte man den Jungen in ein Heim gebracht. Danach hatte er mehrere Pflegefamilien durchlaufen. Das deutete auf eine schwierige Kindheit und Jugend hin. »Verschiedene Pflegeeltern« bedeutete meist, dass es Schwierigkeiten mit dem Kind oder umgekehrt gegeben hatte. Es gab einfach zu viele Paare, die vom Jugendamt als Pflegeeltern eingesetzt wurden, aber dieser Aufgabe nicht gewachsen waren. Erst verlierst du den Vater, der euch im Stich lässt. Dann sterben vor deinen Augen deine Mutter und Schwester, und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen, dachte Linda traurig. Das Schicksal war nicht auf seiner Seite gewesen. Das Leben konnte so verdammt ungerecht sein.
Linda versuchte, mehr über die Jugend des Jungen ausfindig zu machen, aber sämtliche Akten waren unter Verschluss. Das machte durchaus Sinn. Damit sollte der Junge geschützt werden. Um diese Akten einsehen zu wollen, brauchte sie einen richterlichen Beschluss. Und um den zu bekommen, brauchte sie triftige Gründe. Die hatte sie nicht. Noch nicht.
Zumindest konnte sie in Erfahrung bringen, dass Maas die Realschule abgeschlossen und sich dann direkt bei der Bundeswehr verpflichtet hatte. Du wolltest nur weg.
Auch über diese Zeit fand Linda keine tiefergehenden Informationen im Computer. Aber sie ahnte, dass er Kriegserfahrung haben musste, denn in diesen Jahren hatte sich die Bundeswehr sowohl in Afghanistan als auch im Irak engagiert.
Bei ihrer weiteren Recherche machte sie dann eine interessante Entdeckung. Maas hatte jung geheiratet. Das war nichts von Bedeutung, aber dass er damit seinen Namen geändert hatte, sehr wohl. Du hast den Nachnamen deiner Frau angenommen, du wolltest die Vergangenheit abstreifen wie eine alte Haut. Seitdem hieß er Kunz. »Sebastian Kunz«, rief Linda aus.
Sie musste sich nicht lange das Hirn zermartern, woher sie diesen Namen kannte. Sie griff sich die Liste mit Lohmanns Mitarbeitern, deren Alibis Stendal überprüft hatte. Nur einer war übrig geblieben. Ihn hatte der Kollege partout nicht ausfindig machen können: Sebastian Kunz. Die Namensgleichheit konnte kein Zufall sein.
Linda studierte Stendals Ermittlungsprotokoll, in dem er alle Informationen über diesen Mann und sämtliche Versuche der Kontaktaufnahme notiert hatte. Sebastian Kunz, inzwischen 23 Jahre alt, war erst seit drei Monaten bei Lohmann als Personenschützer angestellt gewesen. Sie fand ein Ausweisfoto. Der Mann auf dem Foto trug militärisch kurz geschnittene Haare. Ansonsten gab es keine besonderen Kennzeichen, es war ein Allerweltsgesicht. Und trotzdem hatte sie es schon einmal gesehen …