Kapitel 40

Sie fuhr nicht auf direktem Weg nach Hause. Mit der Adresse aus dem Melderegister wusste sie, wo dieser Sebastian Kunz oder Maas, wie er früher einmal geheißen hatte, wohnte. Sie hatte sich auch die Adresse seiner geschiedenen Frau herausgesucht. Aber Melanie Kunz wohnte in Aachen, zu weit weg für einen Spontanbesuch. Auf der Fahrt zu Kunz’ Wohnung versuchte sie, die Frau telefonisch zu erreichen. Sie landete auf dem Anrufbeantworter und hinterließ eine Bitte um einen dringenden Anruf, zu jeder Tages- oder Nachtzeit.

Sebastian Kunz’ Wohnung lag in der Ehrwalderstraße. Linda parkte vor dem Mietshaus, stieg aus dem Wagen und ging zur Eingangstür. Sie drückte die Klingel mit dem Namensschild Kunz. Niemand reagierte. Sie betätigte die Klingel mehrfach, doch auch auf ihr Sturmgeläut kam keine Reaktion.

Spontan drückte sie eine andere Klingel, und der Türöffner summte. Sie betrat das Haus und traf auf eine Frau, die in der ersten Wohnung im Erdgeschoss den Kopf durch die geöffnete Tür steckte. Sie hatte feuerrotes Haar, das aber eindeutig gefärbt war. Dazu funkelten diverse Piercings in ihrem Gesicht. Unübersehbar waren auch die großflächigen Tattoos auf den nackten Armen.

Linda fischte ihren Ausweis aus der Tasche und zeigte ihn der Frau. »Ich möchte zu Sebastian Kunz. Aber er öffnet nicht.«

»Den habe ich schon länger nicht gesehen«, antwortete die Frau und musterte Linda misstrauisch. »Hat er was angestellt?«

Linda schüttelte den Kopf. Sie wunderte sich, wie die Frau mit dem Zungenpiercing so deutlich sprechen konnte. »Er ist nur ein Zeuge. Kennen Sie ihn näher?«

Die Frau entspannte sich sichtbar. »Nein, wir sind uns gelegentlich im Treppenhaus begegnet. Wir haben uns gegrüßt, mehr nicht. Er war nicht sonderlich gesprächig.«

»Können Sie ihn mir beschreiben? Wie sieht er aus?«

Die Frau sah Linda verständnislos an.

»Ich möchte nur klären, dass wir von derselben Person sprechen«, fügte Linda erklärend hinzu.

»Ich schätze, er ist 1,80 m groß. Sehr sportlich. Keine Haare. Alles abrasiert. Dafür trägt er einen Vollbart.«

Linda fischte ihr Handy heraus, öffnete den Ordner mit Fotos und hielt es der Frau unter die Nase. »Ist das Sebastian Kunz?«

Die Frau schreckte zurück. »O Gott, was ist das denn für ein furchtbares Foto? Ist er tot?« Sie griff sich an die Brust. »Ich weiß nicht. Wenn er das ist, sieht er irgendwie anders aus.«

»Sie können ihn nicht eindeutig identifizieren?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ja … nein … ich weiß auch nicht.«

»Vielen Dank«, sagte Linda. »Dann will ich Sie nicht länger stören.«

Sie wartete, bis die Frau die Wohnungstür zugezogen hatte, dann stieg sie die Treppe nach oben bis in den zweiten Stock, wo Sebastian Kunz wohnte. Sie sah sich die beiden Türschlösser an. Die Sache war aussichtslos, hier würde sie nicht unbemerkt einbrechen können. Dafür bräuchte sie eine Axt. Besser wäre jedoch ein Fachmann.

Linda machte auf dem Absatz kehrt. Dann würde sie, wie Lewandowski befohlen hatte, eben bis morgen warten müssen und jetzt nach Hause fahren.

Lukas lag bereits im Bett und schlief, als sie heimkam. Sie zog sich im Badezimmer aus und schlich leise ins Schlafzimmer, um ihn nicht zu wecken. Sie kroch unter die Bettdecke und lauschte seinem Atem. Es tat so gut, ihn an ihrer Seite zu wissen. Sie spürte seine Wärme, und ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, als er ihr seinen Heiratsantrag gemacht hatte. Damals hatte er sie völlig überrumpelt. Sie hatte schließlich Ja gesagt, obwohl sie gar nicht heiraten wollte. Irgendetwas in ihr hatte sich vor diesem endgültigen Schritt gesträubt. Aber dann hatte alles Fahrt aufgenommen und sich verselbstständigt. Lukas hatte geplant, dass sie auf Maui am Strand heiraten würden. Dann war alles ganz anders gekommen, und sie hatte die geplante Hochzeit wegen ihrer laufenden Ermittlungen abblasen müssen, weil sie einem Serienkiller auf die Spur gekommen war.

Das alles lag schon lange zurück, und sie waren immer noch ein Paar. Sie dachte daran, wie es sein würde, seine Frau zu sein, und der Gedanke gefiel ihr. Lukas war die Liebe ihres Lebens.

Damit versuchte sie einzuschlafen. Aber es gelang ihr nicht. Immer wieder musste sie an die Ermittlungen denken, und ihre Gedanken kreisten um den Fall und um das, was sie entdeckt hatte.

Was für ein Tag. Der Tauchgang. Lukas’ Rückkehr. Ihr Antrag. Die Verhaftung von Schwarz und Jähne. Ihre Entdeckung, die erste heiße Spur. Trotz ihrer tiefen Erschöpfung spürte sie eine innere Unruhe, die sie nicht einschlafen ließ. Aber sie brauchte dringend Schlaf. Im Präsidium wartete morgen viel Arbeit auf sie.

Lukas drehte sich um und sah sie an. »Da bist du ja endlich, meine Schöne. Kannst du wieder nicht schlafen?«

Linda seufzte. »In meinem Kopf ist die Hölle los. Ich kann nicht aufhören, an meine Ermittlungen zu denken. Du hattest ja so recht. Es gibt da eine neue Spur …«

»Pscht.« Lukas zog sie an sich. »Nicht hier, nicht jetzt. Lass mich mal versuchen, ob ich dich auf andere Gedanken bringen kann«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir haben so viel nachzuholen.«

Mit einem wohligen Seufzer überließ sie sich seinen Liebkosungen.