Applaus brandete auf, als Linda am nächsten Morgen den Besprechungsraum als Letzte betrat. Dieses Lob durch die Kollegen beschämte sie. Sie hatte doch nur wie alle anderen ihren Job gemacht. Sie setzte sich auf den einzigen freien Stuhl und hoffte, dass dieser Applaus schnell abebben würde. Alle Kollegen, die an den Ermittlungen zu dem Dreifachmord beteiligt gewesen waren, nahmen an dieser morgendlichen Lagebesprechung teil. So viel war geschehen. Nach tagelangen zermürbenden Untersuchungen, die keinen Fortschritt gebracht hatten, war ihnen nun der Durchbruch gelungen.
»Ihre gestrige Aktion war zwar wieder einmal mehr als riskant und gefährlich«, hob Schlubach an. »Aber letztlich hat uns das einen großen Schritt weitergebracht.«
Die Kollegen klopften mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Schlubach wartete, bis Ruhe eingekehrt war, dann berichtete er von den neuesten Erkenntnissen. Die Festplatte, die sie in Lohmanns Safe gefunden hatten, war endlich geknackt worden. Darauf waren zahlreiche Filme und Daten gespeichert, die unter anderem eine Geldübergabe zeigten, mit der sie Jähne und Schwarz festnageln konnten.
Auch das Ergebnis zur ballistischen Untersuchung der Kugel, die Dr. Lengsfeld im Schädel des Toten aus dem Ferrari gefunden hatte, stellte eine Überraschung dar. Die Kugel stammte eindeutig aus Lohmanns Dienstwaffe. Der DNA-Abgleich fehlte zwar noch, aber niemand zweifelte daran, dass es sich bei dem Toten aus dem Kofferraum um Filippo Bianchi handeln musste. Der gesuchte Verbrecherkönig war gefunden worden, nach drei Jahren. Auch wenn sie trotz dieser Erkenntnisse nichts in der Hand hatten, um damit zweifelsfrei aufklären zu können, dass Lohmann tatsächlich Bianchi erschossen und im Kofferraum des Ferrari im See versenkt hatte, waren sich doch alle sicher, dass es sich genau so abgespielt hatte. Lohmann war ein Mörder gewesen. Aber welche Rolle hatten dabei Schwarz und Jähne gespielt? Und wer hatte Bianchis Frau auf dem Gewissen?
»Wir haben jetzt genug Fakten, um Schwarz und Jähne zu einem Geständnis zu bringen«, endete Schlubach. »Bringen Sie die beiden dazu, dass sie auch den Mord an den Lohmanns gestehen, damit wir auf diesen Fall ein für alle Mal den Deckel draufmachen können.«
»Ich glaube nicht, dass die beiden etwas mit diesem Mord zu tun haben«, sagte Linda und stand damit augenblicklich im Mittelpunkt des Interesses.
Schlubach sah sie genauso verdutzt an wie alle anderen Kollegen.
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Nostiz irritiert.
»Leon, du hast doch alle Mitarbeiter aus Lohmanns Firma überprüft«, wandte sie sich an Stendal.
Er nickte.
»Und was hast du dabei herausgefunden?«
»Bis auf einen konnte ich die Alibis aller überprüfen und bestätigen«, berichtete er.
»Was ist mit diesem einen?«, hakte Linda nach.
»Ich konnte ihn nicht auftreiben. Laut den Informationen seiner Kollegen soll er zu einem Bergtrip aufgebrochen sein. Damit hat er vermutlich auch ein Alibi. Ich konnte es aber noch nicht überprüfen.«
»Was hat das mit unserem Fall zu tun, Frau Lange?«, fragte Nostiz ungeduldig.
Linda ließ sich nicht hetzen. »Ich habe in Ihrer Verschlussakte etwas entdeckt …«
»Was haben Sie?«, fiel ihr der Staatsanwalt heftig ins Wort.
»Ich habe diese Akten besorgt«, mischte sich Schlubach augenblicklich ein.
Nostiz fuhr herum. »Wie kommen Sie dazu? Das wird für Sie alle Konsequenzen haben.«
Schlubach ließ diese Drohung an sich abperlen. »Wir werden sehen, für wen das Konsequenzen haben wird. Frau Lange, fahren Sie fort.«
Nostiz schnappte nach Luft. Er wirkte auf einmal deutlich älter. Zum allerersten Mal in all den Jahren sah Linda ihn sprachlos. Sie nutzte diese Gelegenheit.
»Vor zwölf Jahren hat es einen tödlichen Unfall mit einer Fahrerflucht gegeben, bei dem eine Frau und deren kleine Tochter ums Leben kamen. Der Name der Frau war Elisabeth Maas. Der einzige Zeuge, der Sohn dieser Frau, hat den Unfall beobachtet und sich das Kennzeichen gemerkt. Der Wagen konnte Lohmann zugeordnet werden.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Alle Augen waren auf Linda gerichtet.
»Jetzt, wo Sie es erwähnen, erinnere ich mich daran«, sagte Schlubach. »Aber Lohmann wurde doch von allen Vorwürfen freigesprochen.«
»Ja. Er konnte auch hier seinen Hals aus der Schlinge ziehen. Diese Fahrerflucht wurde nie aufgeklärt.«
»Aber was hat das mit unseren aktuellen Ermittlungen zu tun?«, wollte Schlubach wissen.
»Dieser Junge hieß Sebastian Maas. Er war damals 11 Jahre alt, ein Kind. Er ist heute 23. Er hat vor einigen Jahren geheiratet und den Namen seiner Frau angenommen. Auch wenn er inzwischen wieder geschieden ist, heißt er immer noch so. Sebastian Kunz.«
»Was?« Stendal war wie vom Donner gerührt. »Das ist dieser Mitarbeiter aus Lohmanns Firma, nach dem ich seit über einer Woche suche.«
»Was hast du über ihn herausgefunden?«, fragte Linda.
»Kunz hat erst seit drei Monaten für Lohmann gearbeitet. Er war als Personenschützer eingestellt worden.«
»Ein seltsamer Zufall, oder?«, meinte Linda. »Mit dem, was er als Junge erlebt hat, hätte er ein sehr starkes Motiv.«
Keiner sagte ein Wort. Diese Nachricht musste erst einmal sacken.
Stendal seufzte. »Scheiße, warum hab ich das nicht gecheckt?«
»Warum solltest du?«, nahm Linda ihn in Schutz. »Es ging um Sebastian Kunz, an dem warst du dran, nicht um Sebastian Maas. Keiner von uns wusste etwas von dieser Fahrerflucht. Diese Ermittlung war Teil der Verschlussakte, die Sie, Herr Dr. Nostiz, uns vorenthalten haben.«
Nostiz sagte kein Wort. Er steckte richtig in der Klemme. Aber dieser brodelnde Zorn, der sich in seinen Augen spiegelte, ließ Lindas Blut in den Adern gefrieren. Sie schüttelte sich, als könne sie so das Blut wieder zum Zirkulieren bringen.
»Wir müssen diesen Kunz finden«, fuhr sie fort. »Hast du ein aktuelles Foto von ihm?«
Stendal schüttelte den Kopf. »In Lohmanns Büro war nichts über ihn zu finden. Was ich über ihn weiß, haben mir die anderen Kollegen erzählt. Ich hatte sie auch nach einem Foto gefragt. Fehlanzeige. Jetzt, wo ich diese Hintergründe kenne, vermute ich, dass er penibel darauf geachtet hat, dass niemand ein Foto von ihm macht. Vielleicht hat er sogar seine Personalakte verschwinden lassen. Die ist auch unauffindbar.«
»Ich war gestern Abend in dem Haus, in dem Kunz wohnt«, fuhr Linda fort. »Er war nicht zu Hause. Aber ich habe eine Nachbarin gefragt, wie er aussieht. Sie sagte, dass er eine rasierte Glatze und einen Vollbart hat. Ich habe den Verdacht, es könnte sich bei ihm um den Selbstmörder aus dem Perlacher Forst handeln.«
Keiner der Kollegen sagte ein Wort. Wieder hatte sich durch Lindas Spürnase das Blatt gewendet.
Schlubach fand als Erster die Fassung wieder. »Dann werden wir die Teams neu aufteilen. Sie, Frau Lange und Herr Stendal, werden sich ausschließlich um Sebastian Kunz kümmern. Herr Lewandowski wird zusammen mit Herrn Jenner zuerst Jähne, danach Schwarz vernehmen. Jähne ist vermutlich der einfachere Kandidat, ihn werden sie am ehesten zu einem Geständnis bewegen. Schwarz darf weiter in der Zelle schmoren. Eine Nacht im Gefängnis hat schon manchen weichgekocht.« Dann wandte er sich direkt an Linda und sah sie nachdenklich an. »Gute Arbeit, Frau Lange. Endlich haben wir eine brauchbare Spur in unserem aktuellen Fall. Brauchen Sie noch etwas für die endgültige Klärung?«
»Ja. Die Akten vom Jugendamt und alles, was wir von der Bundeswehr bekommen können.«
Nostiz wollte etwas sagen, aber Schlubach hob abwehrend die Hand. »Ich kümmere mich darum.«
Als Jähnes Anwalt endlich eingetroffen war, konnten sie mit der Vernehmung beginnen. Lewandowski ließ Jenner den Vortritt.
»Herr Jähne, ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht«, begann Jenner und bedachte ihn mit einem hämischen Grinsen.
Jähne schwieg.
Der Anwalt zog eine Augenbraue hoch. »Kommen Sie bitte zur Sache. Könnten wir erfahren, was Sie meinem Mandanten zur Last legen?«
Jenner nickte gemächlich. »Raten Sie mal, was wir auf diesem Laptop aus Lohmanns Haus gefunden haben.« Jenner tippte auf den Laptop, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Den haben Sie ja nicht gefunden bei Ihrem Einbruch in Lohmanns Haus.«
»Ich bin nicht bei ihm eingebrochen«, widersprach Jähne heftig. In seinen Augen spiegelte sich blanke Angst.
»Unterlassen Sie diese Unterstellungen«, zischte der Anwalt.
»Das sind keine Unterstellungen«, fuhr Jenner ungerührt fort. »Wir haben diverse Dokumente, Fotos und vor allem Filme gefunden, auf denen Sie in Großaufnahme zu sehen sind. Möchten Sie einen Blick darauf werfen?« Jenner musterte Jähne, der keinerlei Reaktion zeigte.
Jenner klappte den Laptop auf, drückte den Startknopf und drehte ihn in Jähnes Richtung Die erste Szene spielte in Lohmanns Büro. Lohmann war nicht zu sehen, die Kamera war auf Jähne und Schwarz gerichtet, die vor einem Schreibtisch saßen.
»Hier habt ihr euren Anteil«, sagte die Stimme des unsichtbaren Dritten, der die Szene offensichtlich heimlich filmte. Eine Hand kam ins Bild und reichte den beiden je ein Päckchen über den Tisch.
»Achten Sie auf die Hand«, sagte Jenner. »Dieses fehlende Fingerglied verrät uns, dass es sich um Lohmann handelt.«
Dann war zu sehen, wie Jähne sein Päckchen öffnete, ein dickes Bündel Geldscheine herauszog und mit dem Zählen begann. Schwarz tat es ihm gleich und überprüfte ebenfalls seinen Anteil. Damit endete diese Sequenz.
»Wir haben noch mehr davon«, meinte Jenner.
Jähne nickte stumm. Er war leichenblass geworden.
Die Verwandlung, die Lewandowski in diesem Augenblick erlebte, würde er nie vergessen. Binnen Sekunden war Jähne ein gebrochener Mann. Das Entsetzen über das, was er gerade gesehen hatte, war ihm ins Gesicht gemeißelt.
»Wollen Sie etwas dazu sagen?« Jenner stellte die Aufnahmefunktion seines Handys an.
Der Anwalt legte seine Hand auf Jähnes Arm. »Sie sagen nichts. Hören Sie? Gar nichts.«
Jähne schob die Hand beiseite.
Lewandowski spürte, dass er reden würde. Er suchte Erlösung. Es war befreiend für einen Beschuldigten, endlich das Versteckspiel und die Lügen aufgeben und sich alles von der Seele reden zu können. Nicht anders erging es Jähne gerade. Es war, als hätte er damit einen Startknopf gedrückt, es platzte förmlich aus ihm heraus.
»Ja, er hat uns damit seit einiger Zeit erpresst. Er wollte immer mehr Geld von uns.« Jähne atmete flach und schnell. Seine Stimme hatte einen schrillen Klang angenommen. Er starrte auf die Tischplatte.
»Schweigen Sie«, sagte der Anwalt.
Doch Jähne ignorierte ihn. Der Anwalt gab auf.
»Wann hat diese Erpressung angefangen?«, fragte Jenner.
»Im letzten Sommer. Sven saß eines Tages im Casanovas. Er kam sofort zur Sache, seine Firma liefe schlecht. Er verlangte Geld von uns.«
»Nur einmal?«
»Nein, von da an fast jeden Monat, und er wollte immer mehr. Er bekam einfach den Hals nicht voll.«
»Wie viel wollte er?«
Jähne holte tief Luft und atmete hörbar aus. »Das erste Mal musste jeder von uns 20.000 zahlen.«
»Und?«
»Einen Monat später kam die nächste Forderung. Wieder 20.000.«
»Sie haben bezahlt?«
»Ja. Aber die Forderungen hörten nicht auf.« Jähne schüttelte den Kopf. »Und sie wurden immer höher. Wir haben gezahlt, aber irgendwann hatten wir genug und haben ihm gesagt, dass er nicht noch mehr bekommt.«
»Hat’s gewirkt?«
»Sven kam wieder ins Casanovas und forderte noch mehr Geld. Er wollte eine Million, von jedem. Als wir darauf nicht reagierten, hat er uns ein Ultimatum gesetzt und damit gedroht, das ganze Material an die Presse weiterzuleiten. Wir haben um ein Gespräch gebeten.«
»Wann war das?«
»Im Februar.«
»Bei diesem Treffen sollte es um eine Lösung gehen?«
»Ja«, sagte Jähne. »Wir wollten versuchen, an das Material zu kommen, das er angeblich gegen uns in der Hand hatte.«
»Und was ist an diesem Samstagvormittag in Lohmanns Villa passiert?«, schubste Jenner ihn an.
»Als der Mord geschah? Ich weiß es nicht«, sagte Jähne leise. »Da waren wir nicht bei ihm, wir hatten uns viel früher schon getroffen. Ich habe mit diesen Morden nichts zu tun.«
»Schwarz soll das allein getan haben?«, fragte Jenner ungläubig.
Jähne schüttelte den Kopf.
»Wer dann?«
Jähne zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich schwöre!«
Lewandowski nickte Jenner zu. Sie hatten genug Informationen, um Schwarz und Jähne dranzukriegen. Dafür würden beide lange hinter Gittern landen.
Aber eines wollte Lewandowski noch wissen. »Was hat es mit dem Überfall auf diesen Geldtransporter vor drei Jahren auf sich?«
Jähne hob müde den Kopf. »Damit habe ich nichts zu tun.«
»Bei diesem Überfall sind fünf Menschen ums Leben gekommen. Haben Sie auch etwas von der Beute abbekommen?«
Jähne senkte den Blick.
»Wie viel?«
Er schwieg.
»Wie viel?«, wiederholte Lewandowski laut.
»Eine Million«, flüsterte Jähne.
»Eine Million?«, wiederholte Lewandowski.
Jähne nickte fast unmerklich.
»Für nichts?«, fragte Lewandowski. Er ballte die Fäuste so fest, dass seine Fingernägel in die Handballen schnitten.