Als Rachel am Montagmorgen die Wohnung betrat, war Edgars Diele mit Kartons übersät. Außerdem war sie, wie sie erfuhr, nicht mehr Edgars Diele.
»Monsieur David zieht ein«, sagte Fulke.
Das ging ja schnell, dachte Rachel. Aber der Einzug würde ohnehin keinen außer Fulke behelligen, und der sah nicht im Geringsten behelligt aus. Sie hörte Geräusche aus den hinteren Zimmern und vermutete, dass das David war. Sollte sie dem neuen Eigentümer der Wohnung, in der sie arbeitete, guten Tag sagen? Sie konnte ihn schlecht ignorieren – auf einer Trauerfeier, wo er der Hauptleidtragende war und sie nur eine flüchtige Erscheinung, hatte sie sich davor drücken können, aber es war doch wohl ein elementares Gebot der Höflichkeit, dass man sich jemandem, in dessen Wohnung man arbeitete, vorstellen ließ. Sie korrigierte sich: sich wieder vorstellen ließ.
Auf ihre Bitte hin führte Fulke sie in den Salon, wo David über eine Kiste gebeugt stand. Unsicher, wie sie anfangen sollte, war Rachel dankbar, die heikle Navigation abgenommen zu bekommen, als Fulke mit leicht erhobener Stimme sagte: »Monsieur Bowen, Madame Levis ist hier.«
David hob den Kopf. Das Morgenlicht ließ seine fahle Haut bleich und seine Augenränder rot erscheinen, aber der verkniffene Ausdruck, den sie auf der Trauerfeier und bei der Verlesung des Testaments beobachtet hatte, war verschwunden. Jetzt zeigte David lediglich die normale Miene eines Mannes, der mitten im Umzug steckte: Verwirrung mit einem ordentlichen Schuss Frustration. Als er sie allerdings sah, leuchtete in seinem Gesicht ein überraschend herzliches Lächeln auf.
»Madame Levis? Nein, nicht Madame Levis. Rachel!« Er kam näher. »Hallo! Du kamst mir von irgendwoher bekannt vor, als wir uns alle mit Maître Bernard getroffen haben, aber ich kam erst darauf, nachdem du schon gegangen warst.« Er nahm ihre Hand. »Jetzt sehe ich, dass du dich überhaupt nicht verändert hast. Du siehst noch genauso aus, wie ich dich vage in Erinnerung hatte.« Bei diesem schwachen Witz lächelte er, dann küsste er sie auf beide Wangen. Als er sich wieder von ihr löste, schniefte er und sagte in entschuldigendem Ton: »Tut mir leid. Ich erhol mich gerade von einer fürchterlichen Erkältung. Einem richtigen Horror-Schnupfen.«
Rachel suchte in seinem Gesicht nach Überbleibseln des Kindes, das sie gekannt hatte, fand aber keine. Vielleicht zeigte sich eine Spur in den langen Wimpern oder der unbestimmten Weichheit, die um seine Kinnlade spielte, das war aber auch alles. Edgar erkannte sie allerdings in ihm wieder, in den nussbraunen Augen und in der Form des Mundes. Mathilde war ebenfalls leicht auszumachen: Er besaß ihre autokratische Nase mit ihren – momentan mit einem schmalen roten Rand abgesetzten – zarten Nüstern.
»Arbeitest du gerade in der Bibliothek?«, fragte David. Sie nickte. »Mein Vater war schon ein seltsamer Mensch, das von dir zu verlangen. Na ja, vielleicht komm ich dich mal besuchen. Obwohl ich weiß Gott genug zu tun habe.« Er sah sich trübselig um. »Ich dachte eigentlich immer, ich besäße nicht viel.«
»Das glauben alle, bis sie umziehen.« Sie lächelte. »Und wann immer du eine Pause einlegen und bei mir vorbeischauen möchtest, bist du herzlich willkommen.«
»Das wäre nett.« Er schniefte wieder. »Pardon. Warum nicht gleich heute? Wenn ich diesen Albtraum hinter mich gebracht habe, komme ich zur Belohnung vorbei, und wir können uns richtig unterhalten.«
»Wunderbar.« Rachel lächelte wieder. »Du weißt ja, wo du mich findest.« Sie hob eine Hand zum Abschied.
»Es hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen!«, rief er ihr nach. Noch immer ein reizender Junge, dachte Rachel, und so charmant! Dann versetzte es ihr einen wehmütigen Stich, alt genug zu sein, um einen erwachsenen Mann als Jungen zu sehen. Was soll’s, dachte sie, alt werden wir alle. Beziehungsweise die meisten von uns, korrigierte sie sich. Edgar war nicht alt geworden, oder höchstens ansatzweise. Was war mit seinem Tod bloß los, dass er ihr keine Ruhe ließ?
»Genug«, sagte sie laut. Sie musste aufhören zu grübeln; sie würde sich auf die Bücher konzentrieren. Sie schloss die Tür der Bibliothek, setzte sich entschlossen auf den Polsterhocker und griff sich Stift und Notizblock. Während der nächsten paar Stunden blieb sie, außer dass Fulke sie diskret mit Tee versorgte, vollkommen ungestört. Als ein Klopfen sie aus ihrer Konzentration riss, stellte sie überrascht fest, dass es fast ein Uhr Mittag war.
»Herein!«, rief sie.
Die Tür ging auf und gab den Blick auf David frei. Er sah sich im Zimmer um und lächelte. »Das Allerheiligste also! Darf ich hereinkommen?«
»Natürlich! Du bist hier zu Haus.«
Er durchquerte den Raum und setzte sich. Fast augenblicklich begann eines seiner Knie auf und ab zu wippen. Rachel fand dieses Anzeichen von Nervosität ebenso rührend wie die zögernde Stimme, mit der er zu sprechen begann. »Weißt du«, sagte er und schluckte, »seit der Testamentsverlesung meine ich, mich zu erinnern … Könnte es sein, dass du mir einmal die Schuhe zugebunden hast?«
Rachel lachte. »Einmal? Zu der Zeit, als wir beide uns kannten, war das meine Hauptbeschäftigung.«
»Ach!« Er hob die Brauen, und das Mienenspiel war, obwohl frei von Hochmut, das seiner Mutter. »Das muss der Grund sein, warum es das Erste war, was ich mit dir in Verbindung gebracht habe. Und ich glaube, mich zu erinnern, dass wir manchmal in den Park gingen.«
Sie nickte. »In den Jardin des Plantes. Dein Vater war am Wochenende gern dort, und du durftest immer herumrennen, während wir gemütlich schlenderten. Nur«, sie lächelte bei der Erinnerung und rief, Edgars Stimme von damals nachahmend: »›Nicht zu weit weg!‹ Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich dich wieder einfangen musste.«
»Ja, stimmt.« Zwischen ihnen wurde plötzlich eine Befangenheit spürbar, und eine Pause dehnte sich zu einem Schweigen. Endlich sagte er aus dem Nichts: »Die Bibliothek also.« Wieder schluckte er, schniefte. »Dad vermittelte immer den Eindruck, als sei die Bibliothek voll von Kostbarkeiten.«
»Oh, das ist sie auch!« Rachel stellte entsetzt fest, dass er den Inhalt des Zimmers gar nicht kannte. Für sie war solch ein Mangel an Bibliophilie inakzeptabel. Er ahnte gar nicht, welche Freuden er vor sich hatte! »Sieh mal.« Sie erhob sich von dem Hocker und ging an ein Regal. »Das hier ist ein vollständiger Dickens, die erste Gesamtausgabe, die in England erschienen ist. Hast du was von Dickens gelesen?«
David nickte. »Große Erwartungen, glaube ich.« Er sprang auf seinen langen federnden Beinen aus seinem Sessel auf und stellte sich neben sie.
»Jetzt kannst du alles von ihm lesen«, sagte sie. »Und im Original! Und hier ist ein vollständiger Henry James. Hast du von ihm schon was gelesen?« Er schüttelte den Kopf. Sie ging weiter, klopfte auf die Rücken der Samuel-Beckett-Bände. »Beckett ist viel französischer, er könnte dir also besser gefallen. Und diese Erstausgaben steigen immer weiter im Wert.« Sie hob die Hand an ein höheres Regalbrett. »Und das«, sie zog das Gutenberg-Faksimile in seiner wie angegossen sitzenden Kassette herunter, »ist eine Reproduktion des ersten abendländischen Buches überhaupt, das mit beweglichen Lettern gedruckt wurde. Schau«, sagte sie, indem sie den ersten Band herausgleiten ließ und zufällig beim Hohen Lied Salomos aufschlug, mit seinen leuchtend bunten Randillustrationen. »Ist es nicht schön? Das ist das Faksimile eines der lediglich rund vierzig erhaltenen Exemplare der Gutenberg-Bibel. Im Internet habe ich gelesen, dass es für sich schon Tausende wert ist.«
David streckte einen Finger aus und fuhr die blauen und roten Ranken auf der Buchseite entlang. »Wunderschön.« Dann zuckte er leicht zusammen. In seinem Gesicht erkannte Rachel die ersten Anzeichen einer Erfahrung, die sie selbst gut kannte. Es war wie beim ersten Mal, als sie den Eiffelturm von Nahem gesehen hatte: Ein Objekt, das vertraut, überschaubar geschienen hatte, erwies sich mit einem Mal als ungeheuer komplex, weitaus komplexer, als sie es sich je vorgestellt hatte. Als David den Band selbst in die Hand nahm und darauf starrte, sah sie in seinem Gesicht die heraufdämmernde Erkenntnis einer Möglichkeit.
In diesem Moment klopfte es leise an der Tür, und Fulke trat mit frischem Tee und Keksen ein. Er tauschte das alte Tablett gegen das neue aus und zog sich zurück. David schob den Gutenberg-Band vorsichtig in die Kassette zurück und setzte sich wieder, um den Tee einzuschenken. Sofort fing sein Knie wieder an, auf und ab zu wippen. »Tja«, sagte er. »So.«
Der Zauber war gebrochen, erkannte Rachel. Sie hatte sich in ihrem Glauben, das Ganze würde eine Wiederannäherung werden, getäuscht. Sie waren Fremde, und außer diesen lange zurückliegenden Schnürsenkeln und dem Jardin des Plantes hatten sie keinerlei Berührungspunkte. Was hatten sie sich schon zu sagen, abgesehen von Bemerkungen über die Bücher oder die Vergangenheit? Dann dachte sie: Na ja, ein Gesprächsthema haben wir schon noch. Sie räusperte sich.
»Wie ist es dir so ergangen?«
Sie sah, dass er begriff. »Ach, na ja.« Sein Achselzucken besagte, dass er irgendwie zurechtkam. Das Knie blieb in Bewegung.
Sie versuchte es noch einmal. »Es ist bestimmt nicht leicht, hier zu sein.«
»Es geht.« Diesmal war es ein französisches Achselzucken – nicht der Rede wert, gab es zu verstehen. »Das hier ist ja nicht das Haus meiner Kindheit; es ist eher ein Ort, an dem ich Dad besucht habe. Und außerdem ziehe ich nur in einen kleinen Teil davon ein. Elisabeth hat noch immer im bureau zu tun, und das Esszimmer ist für mich allein zu groß, deswegen benutze ich nur Salon und Schlafzimmer. Hier einziehen ist also eher so, als zöge man in eine Wohnung, die zwar schon länger der Familie gehört, aber in der man nicht eigentlich zu Hause ist.«
»Oh.« Was konnte man darauf schon entgegnen? »Aber bestimmt«, sie hielt feinfühlig inne, empfing aber nichts, was ihr davon abgeraten hätte fortzufahren, »vermisst du hier deinen Vater. Ich meine«, ruderte sie leicht zurück, »du spürst bestimmt seine Abwesenheit.«
»Oh ja.« Er hob die Hand und kniff sich, während er einatmete, die Nasenflügel zusammen. Das lief auch nicht gerade gut. Vielleicht hätte sie besser nicht fragen sollen. Aber er fuhr fort: »Wir standen uns nah. Sehr nah.«
»Ja, das stimmt, ich erinnere mich.« Sie lächelte versonnen.
»Gleich von Anfang an, nach der Scheidung …« Er verstummte, setzte dann neu an: »Mit ihm ging es entspannt zu. Meine Mutter …« Er brach ab.
Oh bitte, mach, dass es nicht so wie bei Elisabeth läuft, dachte Rachel. Bitte mach, dass er weiterredet. Sie holte tief Luft. »Deine Mutter …?«
Er stand abrupt auf, ging ans Fenster und blieb dort, auch als er weitersprach, von ihr abgewandt stehen, während er mit den Fingern auf die Fensterbank trommelte. Endlich sagte er: »Meine Mutter hat sehr viel Sinn für das, was ihr wichtig ist. Vielleicht für kaum etwas anderes.« Sein Ton machte deutlich, dass er selbst auf Mathildes Liste wichtiger Dinge nicht allzu hoch rangierte.
Da sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte, sagte Rachel nichts. David kam zurück und nahm wieder in seinem Sessel Platz. »Ich meine damit nicht, dass sie nicht für mich da gewesen wäre. Ganz und gar nicht.« Wieder das Knie. »Und ich habe ja nicht nur bei ihr gewohnt. Sie war sehr oft in Dads Wohnung, wenn ich auch da war.«
»Ja.« Rachels einer Mundwinkel zuckte. »Ich erinnere mich.«
»Auch nach der Scheidung verbrachte sie viel Zeit mit Dad. Vermutlich wollte sie, dass ich ein Gefühl von Familienleben hätte.« David zuckte die Achseln. »Obwohl – vielleicht waren sie ja wirklich Freunde, denn ich glaube, sie hat es bis zuletzt so beibehalten. Gestern habe ich im Weinkeller Rosé gefunden, und Dad hasste Rosé. Also muss er ihn ihretwegen dagehabt haben.«
»Wie bitte?« Rachel wurde erst schlagartig heiß, dann kalt. »Deine Mutter trinkt Rosé?«
»Sie liebt ihn.« David schürzte die Lippen. »Déclassé, nicht?«
»Du –« Ihre Stimme kippte. Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Du trinkst keinen?«
Er schüttelte den Kopf. »›Der Wein für den ungebildeten Gaumen‹, sagte Dad dazu immer. Tja, die Leute sind eben kompliziert – sogar meine Mutter. Und Dad …« Er setzte zu einem Lächeln an, aber dann erschlaffte sein Gesicht. »Er konnte einfach nicht nein sagen. Ich erinnere mich, als ich dreizehn war, stellte sich heraus, dass ich … les bagues, eine Zahnspange brauchen würde. Ah, meine Zähne waren eine Katastrophe!« Bei der Erinnerung verzog er das Gesicht. »Und der Zahnarzt sagte, um sie zu richten, müsste ich mein – wie heißt das auf Englisch? – mein Außengestell den ganzen Tag tragen.«
»Headgear«, steuerte Rachel bei.
»Ja, richtig, Headgear. Er sagte, ich sollte meinen Headgear rund um die Uhr tragen. Er sagte, ich könnte ihn als ein modisches Statement betrachten.« Er verdrehte die Augen. »Das zu einem dreizehnjährigen Jungen! Natürlich war ich verzweifelt. Ich würde wie ein Monster aussehen! Kein Mädchen würde mich jemals küssen! Und da hat mein Vater«, sein Knie wippte schneller, während sein Sprechtempo zunahm, »er hat die Kosten übernommen, damit ich eine dieser Spangen bekam, die innen, hinter den Zähnen getragen werden, sodass niemand etwas davon sehen würde. Die waren damals etwas ganz Neues und nicht billig. Aber mir zuliebe …« Er lächelte wieder, schüttelte den Kopf. »Also klar, dass er ihr den Wein kaufte, den sie mochte!« Seine Augen waren noch röter als zuvor.
Das tiefe Mitgefühl mit seinem Kummer rang mit der Aufregung über seine Offenbarungen, und Rachel fiel keine passende Entgegnung ein. Aber bevor sie auch nur versuchen konnte, eine zu formulieren, sprang er wieder auf. »Würdest du mich einen Augenblick entschuldigen?«
»Natürlich.« Sie nickte und blieb sitzen, nachdem er gegangen war, und versuchte, sich zu sammeln. Als er zurückkam, hatte er zwar einen Bausch Papiertaschentücher in der Hand, sah aber viel munterer aus. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie dieses Gespräch angefangen hatte. Schließlich war er ein trauernder Sohn, kein Therapiepatient oder Zeuge: Was für sie Informationen waren, waren für ihn Familiendinge. Sie versuchte, sich ein unverfänglicheres Thema auszudenken.
Aber sie bekam keine Gelegenheit für einen Neuanfang. »Es tut mir leid«, sagte David. »Ich bin zum Lunch verabredet. Ich hatte es ganz vergessen. Ich treffe mich mit einem Freund.« Er schniefte wieder, wischte sich die Nase mit den Tüchern. Sie stand auf und wollte auf ihn zugehen, aber er hob eine abwehrende Hand. »Ich werde dich nicht küssen – ich möchte nicht, dass du meine Bazillen abbekommst.« Er lächelte auf seine reizende Weise.
Sie hätte ihn gern umarmt, zugleich um ihn zu trösten, und als eine Art Entschuldigung dafür, dass sie ihm Kummer bereitet hatte, aber er war zu schnell weg. Sie seufzte und starrte jetzt selbst einen Moment lang aus dem Fenster, folgte mit dem Blick den kleinen Wellen, die die graue Oberfläche der Seine kabbelig machten. Dann lächelte sie und begann, ihre Sachen zusammenzupacken. Mathilde eine Rosétrinkerin! Die Geschichte wurde allmählich kompliziert.
***
»Die Geschichte wird allmählich kompliziert«, sagte Magda. Auf dem Weg zu Catherine Nadeaus Geschäft hatte sie sich Rachels Bericht über die Entdeckungen des Tages angehört.
»Natürlich«, sagte Rachel, die das Gefühl hatte, darauf hinweisen zu müssen, »hat Elisabeth eindeutig gezeigt, dass sie etwas zu verbergen hat, wodurch sie weiterhin ganz oben auf unserer Liste steht.«
Magda zog den Kragen enger um ihren Hals, um die Kälte draußen zu halten. »Es sei denn, David hat noch etwas anderes von Bedeutung gesagt. Hat er?«
»Offenbar kam Mathilde auch später, als er schon erwachsen war, noch häufig zu Edgar.«
Magda drehte sich nach ihr um. »War sie auch am besagten Abend da?«
»Also, dass er das nicht wissen kann, ist ja wohl klar.«
Magda fiel leicht in sich zusammen, fing sich aber sofort wieder. »Ist ja gut, werd nicht gleich grantig. Und apropos David, er ist dort eingezogen, sagst du? Steckt da irgendwas dahinter, was meinst du? Kommt mir schnell vor.«
»Fand ich auch. Aber weder er noch Fulke schienen es auch nur erklärungswürdig zu finden.« Rachel zuckte die Achseln.
Etwaige weitere Bemerkungen seitens Magdas blieben unausgesprochen, denn sie hatten ihr Ziel erreicht. »GROSSE WIEDERERÖFFNUNG!!!« verkündete ein schrilles Banner über die ganze Breite des Schaufensters hinweg. Darunter war ein etwas gelasseneres gelbes Smiley-Gesicht, über dem »Endlich zurück« geschrieben stand. Rachel drückte die Tür auf, und ein Glöckchen bimmelte.
Sie sah sich um. Nicht gerade die Umgebung, in der man sich Edgar hätte vorstellen können. Die Ladenregale waren vollgestopft mit skurrilen Deko-Objekten. Die Ananas war überproportional vertreten: als Lampe, als Bonbonbehälter, als die Sorte Kerzen, die intensiv duftet, wenn man die Nase daranhält, aber nach ganz und gar nichts riecht, wenn man sie anzündet. Es gab kompliziert aus Schmiedeeisen geflochtene Herzen und gigantische Vogelkäfige, die nie einen echten Vogel beherbergen würden – Statement-Vogelkäfige, dachte Rachel bei sich. Raffiniert arrangierte Tische boten verschiedenerlei Haushaltsutensilien dar, die sichtlich all jene ansprechen sollten, die ihren Geschmack als »unkonventionell« zu bezeichnen pflegen: Schubladengriffe in Gestalt von Dackeln, eine Lampe in UV-Pink, die wie ein Nilpferd geformt war. Paris war übersät mit Boutiquen wie dieser; die meisten waren einen Monat lang da und im nächsten verschwunden.
Catherine Nadeau trat aus dem Hinterzimmer hervor. Wenn ihr Outfit auf der Testamentseröffnung elegant-leger gewesen war, war es heute Business pur, ganz in schwarz. Der rote Lippenstift war allerdings geblieben und zierte einen lächelnden Mund.
»Bonjour!«, sagte sie, während sie näherkam. »Bonjour et bienvenue!«
»Bonjour!«, erwiderte Rachel. Dann wechselte ihre Miene ins Überraschte (sie hatte gestern Abend vor dem Spiegel geübt). »Nein, so was! Ich glaube, ich kenne Sie!«
Madame Nadeau sah sie genauer an und nickte dann. »Mais bien sûr!« Ein weiteres Willkommenslächeln. »Sie sind die Frau, die zur Verlesung des Testaments meines Edgars zu spät gekommen ist.«
Rachel kam der Verdacht, dass Madame Nadeau ihr nicht besonders ans Herz wachsen würde. Trotzdem, erst kam die Arbeit und dann das Vergnügen, und so erwiderte sie das Lächeln. »So ist es.« Sie legte sich die Hand an die Brust. »Rachel Levis. Und das ist meine Freundin, Magda Stevens.« Magda nickte.
»Catherine Nadeau.« Es folgte ein Gestöber von Wangenküsschen.
»Was für ein Zufall!« Rachel schaffte es, freudig verblüfft zu klingen. »Magda hatte mich gerade von meiner Arbeit in Edgars Bibliothek abgeholt, und uns ist das Geschäft aufgefallen, und da dachten wir, schauen wir mal rein. Ihr Sortiment ist entzückend.«
»So süß!«, fügte Magda hinzu.
»Ah!« Catherine sah erfreut aus. »Genau den Effekt hatte ich angestrebt.«
»Es ist Ihnen geglückt.« Wieder lächelte Rachel. »Und Sie haben gerade renoviert?« Sie deutete hinter sich, in Richtung des Banners.
»Reno-?« Dann verstand Catherine. »Ach so, nein, nein. Wir mussten für kurze Zeit schließen. Sie wissen ja«, sie winkte sorglos ab, »die Wirtschaftslage. Schwierig für den Einzelhandel. Aber jetzt …« Sie warf Rachel einen bedeutungsvollen Blick zu. »Na ja, ich kann wiedereröffnen. Eine große Erleichterung. Obwohl natürlich«, fügte sie eilig hinzu, »auch furchtbar traurig. Ich hatte geglaubt, Edgar würde uns noch viele Jahre erhalten bleiben.«
»Ja, tja …« In Anbetracht ihrer Vermutungen zu Edgars Tod hielt es Rachel für besser, dieses Thema zu meiden. »Er hoffte bestimmt, dass das Geld Ihnen von Nutzen sein würde. Und das ist es ja gewesen.«
»Ja.« Catherines Stimme gewann an Wärme, wie aus einer heimlichen Freude heraus. »Ich erwarte keine weiteren Probleme. Also bitte«, sie breitete die Arme überschwänglich aus, »erkunden Sie mein Geschäft. Ich möchte, dass Sie sich wie zu Hause fühlen!«
Rachel tat so, als stöberte sie. Die Produkte waren weder billig gemacht noch durch die Bank abscheulich. Es war nur so, dass sie derart entschlossen schienen, einen eigenen Charakter vorzuweisen, dass sie am Ende gar keinen mehr hatten.
»Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu Edgar?«
Als sie Catherines Stimme so dicht an ihrem Ohr vernahm, machte sie einen Satz.
»Genau wie Ihres, komischerweise. Ich war vor vielen Jahren seine Freundin.«
»Ah ja. Er scheint ja jede Menge davon gehabt zu haben! Allerdings«, sagte Catherine mit einem verschwörerischen Lächeln, »müssen Sie und ich etwas Besonderes gewesen sein; wir sind die einzigen, die er in seinem Testament bedacht hat.« Plötzlich legte sie die Hände zusammen. »Oh, ich weiß was! Da wir Schicksalsschwestern sind, müssen Sie und Ihre Freundin mit mir auf meinen kleinen Neustart anstoßen.«
»Oh nein, nein, das geht nicht«, protestierte Rachel.
»Ich bestehe darauf. Sie sind meine ersten Kundinnen, seit ich wiedereröffnet habe, und ich habe einen wunderbaren Rosé hinten im frigo.«
Rachel sagte: »Einen Rosé?« Instinktiv suchte sie Magdas Blick.
»Ja, einen kleinen Mas de Cadenet. Ich bin ganz verrückt nach Rosé. Er passt zu jeder Gelegenheit.«
Sie zog sich in die Tiefen des Ladens zurück, und als Rachel sich umdrehte, stand Magda direkt hinter ihr. »Sie ist ganz verrückt nach Rosé!«
»Habe ich mitbekommen.« Sie starrten sich gegenseitig an.
Catherine tauchte mit drei vollen Weingläsern auf einem Tablett wieder auf und sie nahmen sich jede eins.
Magda sagte fröhlich: »Auf Le Cindy!«
»Auf Le Cindy«, echote Rachel. Catherine machte ein erfreutes Gesicht, und sie fühlte sich ein bisschen mies.
Sie plauderten, während sie am Wein nippten. Rachel erfuhr, dass Catherine Edgar zwei Jahre zuvor auf einer Galerieeröffnung kennengelernt hatte und sie seitdem zusammen gewesen waren.
»Ihm gefiel die Idee mit dem Laden auf Anhieb«, sagte sie vertraulich. »Ich glaube, er bewunderte meinen Geschäftsplan. Wissen Sie, Boutiquen wie diese sind äußerst beliebt: Man sieht sie überall.«
»Ein todsicheres Projekt.« Magdas Stimme und Miene waren gleichermaßen ernst.
»Und wie!« Sie lachte glockenhell. »Ich glaube, das hat er direkt erkannt. Er hat hier sogar mehrmals kleinere Beträge investiert.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie sagte: »Wahrscheinlich könnte ich die Erbschaft als seine letzte Investition ansehen.« Wieder wurde sie unvermittelt seriös. »Nicht, dass ich das tun würde, wohlgemerkt.«
»Natürlich nicht.« Magda nippte an ihrem Wein und mied dabei sorgsam Rachels Blick.
»Dann hat Edgar also das Geschäft finanziell unterstützt?« Rachel bemühte sich, nicht zu viel Interesse zu zeigen.
»Er hat ein bisschen geholfen.« Catherine nippte an ihrem Rosé. »Dank meiner Scheidungsabfindung hatte ich ein hohes Anfangskapital.« Wieder stieß sie ihr schrilles Lachen aus. »Ja, ich bin ein leibhaftiges Klischee! Die Pariser divorcée, die, nachdem ihr Mann sie verlassen hat, einen kleinen Laden eröffnet.« Sie winkte ab. »Nicht, dass ich klagen würde. Ohne meinen Mann geht’s mir zweifellos besser, und bei der Abfindung hat er sich großzügig gezeigt.«
»Und«, sagte Rachel mit einer raumgreifenden Geste, »Sie haben das Geld gut eingesetzt.«
Catherine quittierte das Kompliment mit einem knappen Nicken. Dann verzog sie das Gesicht. »Aber es gibt so viel zu beachten, so viel zu bedenken!« Sie schnalzte mit der Zunge. »Sie können mir glauben, der Spruch ist wirklich wahr: Willst du einen Laden eröffnen, verdopple dein Budget!« Sie trank ein weiteres Schlückchen. »Was auch der Grund ist, warum Edgars kleine Zuschüsse so hilfreich waren.«
»Und wie es aussieht, hat Ihnen sein abschließendes Vertrauensvotum ebenfalls gutgetan«, sagte Magda vergnügt. »Jetzt sind Sie wieder im Rennen!« Dann riskierte sie eine Frage: »Und Sie rechnen nicht mit weiteren Schlaglöchern auf der Strecke?«
Wieder winkte Catherine ab. »Oh, ich habe einen guten Zukunftsplan.«
Rachel sah ihre Chance und sagte schnell: »Dann müssen Sie uns aber erlauben, bevor wir gehen, zu Ihren Umsätzen beizutragen.« Sie pflückte sich eine Ananaskerze vom nächsten Regal. »Mit der liebäugle ich schon, seit wir hereingekommen sind. Sie ist unglaublich witzig. Und«, sie presste die Nase daran, »hmmm!«
Catherine packte die Kerze ein und steckte sie in eine Tüte. Als sie Rachel ihr Wechselgeld gab, sagte sie: »Sie sollten mir Ihre Nummer geben. Wir könnten uns zu einem apéro treffen.«
Rachel zögerte, doch dann erinnerte sie sich, dass sie im Dienst war: Diese Frau konnte nützliche Informationen liefern. Sie tauschten Nummern aus.
»In den Laden«, schnaubte Rachel, sobald sie und Magda ein Stück die Straße entlanggegangen waren. »Edgar hat in den Laden Geld gesteckt!«
»Vielleicht war es Liebe.« Magdas Stimme klang ebenso verblüfft. »Vielleicht macht Liebe sogar blind für Kitsch.«
Rachel stöckelte weiter, während ihr bewusst wurde, dass sie gerade fünfzehn Euro für ebensolchen Kitsch ausgegeben hatte. Als läse sie ihre Gedanken, sagte Magda: »Aber das war eine sinnvolle Investition. Sieh doch nur, was wir alles herausgefunden haben.«
Rachel versuchte, ihre Gedanken von ihrem Portemonnaie abzulenken. Was hatten sie herausgefunden? »Sie hatte Edgars Geld wirklich nötig. Wahrscheinlich hing sogar das Überleben ihres Ladens davon ab. Ich gebe dieser Boutique schon so keine drei Monate, ohne Edgars letzte Finanzspritze wäre sie bereits tot.«
»Und sie trinkt Rosé!« Magda tat einen kleinen Hüpfer. »Das ist toll! Sie hatte einen Grund, es zu tun, es wäre für sie ein Leichtes gewesen, es zu tun, und es gibt überzeugende Indizien, die sie mit der Tat in Verbindung bringen.«
»Ja, aber Elisabeth und Mathilde trinken ebenfalls Rosé«, wandte Rachel ein. »Und wir wissen auch von Catherine nicht, ob sie zur fraglichen Zeit in Edgars Wohnung war. Es ist also nicht so, als ob wir den Fall schon gelöst hätten.«
»Nein, aber wir sind schon ein ganzes Stück weiter.« Es widerstrebte Magda, jetzt wo sie eine richtige, hieb- und stichfeste Verdächtige hatten, ihr Hochgefühl aufzugeben. »Wir sammeln Indizien, bringen unsere sämtlichen Schäfchen ins Trockene.«
Rachel hatte das Gefühl, dass das Bild nicht so ganz passte, aber sie ließ es durchgehen.
Magda redete unterdessen weiter. »Wir konnten ja doch wohl kaum erwarten, dass uns die Auflösung nach gerade mal einer Woche in den Schoß fallen würde. So läuft das nie. Und besser viele Verdächtige als überhaupt keinen.«
»Oje.« Rachel fand beide Aussichten gleichermaßen entmutigend.
»Kopf hoch.« Magda beschleunigte ihren Schritt. »Schließlich fällt für dich ein Drink mit Madame Nadeau ab.«