Während er in den folgenden paar Tagen weiter auspackte, setzte David seine gelegentlichen Bibliotheksbesuche fort, und trotz seines hartnäckigen Schnupfens schien er immer zum Reden aufgelegt. Rachel fand es nachvollziehbar, dass er, mit einer Gestalt aus seiner Vergangenheit konfrontiert, den Wunsch verspürte, sich in Reminiszenzen zu ergehen, und über Erinnerungen zu sprechen, war zudem Teil seines Trauerprozesses. Was immer seine Gründe sein mochten, Rachel hörte mit Vergnügen zu.
Aus dem, was er sagte, ging klar hervor, dass Edgar ihn sehr geliebt hatte. Während David aufwuchs, verbrachten sie viel Zeit miteinander, und wenngleich diese Zeit viel Kluges und Erzieherisches beinhaltet hatte, war auch der Spaß keineswegs zu kurz gekommen: Schmöker-Nachmittage in den – bei französischen Jungen wie Männern so beliebten – Comic-Läden, Eiscreme bei Berthillon, Schlittschuhlaufen vor dem Hôtel de Ville und einmal ein Skiurlaub in der Schweiz. Wenn David von all dem sprach, glomm seine Stimme von Zärtlichkeit und vergangenem Glück.
Seine Beziehung zu Edgar als Erwachsener klang ebenso eng und herzlich. Während Mathilde ihn dazu überredet hatte, auf dem College etwas Prestigeträchtiges zu studieren – Architektur machte sich in einem Lebenslauf und in der Konversation gleichermaßen gut –, war es Edgar gewesen, der verstanden hatte, warum seine guten Noten ihm keine Jobs einbrachten. »Er las die Nachrichten; er arbeitete in der Finanzbranche«, erklärte David. »Er sagte zu mir. ›Ich weiß, dass du hervorragend abgeschnitten hast, aber ich weiß auch, dass es keine Stellen gibt.‹«
Ohne Frage hatte Davids Version von Edgar eine Schwäche für Geld und die Bewunderung, die es einbrachte, gehabt. David sagte das nicht explizit, aber es ging aus seinen Anekdoten über Edgars Verhandlungsgeschick und seinen exzellenten Geschmack klar hervor. Dennoch schien er auch zu Großzügigkeit fähig gewesen zu sein, zumindest seinem Sohn gegenüber. »Meine Mutter«, sagte David halb im Scherz: »Selbst bei Verwandtschaft, selbst bei mir, klammert sie sich an ihre Talerchen, als ob sie gelobt hätte, für jedes einzelne persönlich zu sorgen. Aber Dad hatte eine offene Hand, und er war immer bereit, mir zu helfen, wenn es mal eng wurde.«
»Erzählt er dir auch irgendetwas Nützliches, oder sind es alles nur so goldene Erinnerungen an papa?«, fragte Magda nach einem von Rachels täglichen Berichten. Mathildes Schwäche für Rosé war schon nach dem ersten Gespräch abgehakt gewesen.
»Du hattest doch gesagt, ich sollte bei den Leuten, die ich treffe, die Ohren aufhalten«, gab Rachel pikiert zurück. »Außerdem hängt’s ja wohl davon ab, was du unter ›nützlich‹ verstehst. Er erzählt mir viel darüber, was für ein Mensch Edgar war und wie das Zusammenleben mit ihm war, und dadurch gewinnt unser Bild von Edgar an Plastizität.«
In Wahrheit waren Davids Geschichten für Rachel eine Beruhigung. Sie hatte sich oft gefragt, ob Edgar sich weiterentwickelt hatte, ob er für den Teenager ein ebenso guter Vater gewesen war wie früher für das Kind – aber das waren keine Fragen, die man auf einer Cocktailparty zwischen betuchten Bankern und zwei Canapés abhandeln konnte. Die Gespräche mit David mochten ihr nicht viele Gelegenheiten bieten, knallharte Fragen zu stellen oder Details herauszukitzeln, aber was sie erfuhr, schenkte ihr ein ruhigeres Gefühl in Bezug auf die Menschen, die sie vor so vielen Jahren zurückgelassen hatte. Und sie verschafften ihr auch eine klarere Vorstellung dessen, was aus Edgar geworden war; das war keine Lüge.
»Wir sind dabei, uns ein Bild zu machen, schon vergessen?«, sagte sie. Magda schien nicht allzu erfreut über diese Erinnerung.
Tatsächlich hatte sich Rachel, entgegen Magdas Bemerkung, durchaus auch auf andere Aspekte des Lebens in der Wohnung konzentriert. Jetzt sagte sie: »Mathilde lässt sich da nie blicken. Was für mich dafür spricht, dass, wenn sie wirklich fortfuhr, Edgar zu besuchen, auch als David erwachsen war, sie das aus anderen Gründen tat als aus Sorge um Davids seelische Gesundheit.«
»Wie zum Beispiel aus Eifersucht.«
»Ja, beispielsweise. Ich habe dein Lieblings-Erklärungsmodell nicht vergessen. Aber ich dachte darüber hinaus auch, dass sie vielleicht hoffte, Edgar würde ihr weiterhin gewogen bleiben und ihr Geld hinterlassen, oder vielleicht versuchte sie auch, ihm schon zu Lebzeiten Geld zu entlocken.«
»Beides plausibel«, räumte Magda ein. »Also, ich würde sagen, dass ihr Ausbleiben etwas zu bedeuten scheint, aber ich würde auch sagen, dass wir noch nicht sagen können, inwiefern es das tut.«
»Messerscharf geschlossen«, sagte Rachel, womit sie ihr die Bemerkung über Nützlichkeit heimzahlte.
Magda sah sie aufmerksam an, aber Rachel wahrte eine harmlose Miene. So konnte Magda nur bockig zurückgeben: »Und was ist mit Elisabeth? Weißt du noch, Elisabeth? Unsere Hauptverdächtige?«
»Ah!« Rachel nickte. »Dazu habe ich was Interessantes. Zu sehen bekomme ich sie dort eigentlich nie, aber ich höre sie und sie scheint jeden Tag da zu sein. Edgars Arbeitszimmer muss das reinste Messie-Paradies sein, denn sie ist immer vor mir da und geht nach mir, und wir sind beide seit zwei Wochen dort. Ich glaube, sie tut da mehr als bloß Papiere ordnen.«
»Du brauchst doch deinerseits mehr als zwei Wochen, um die Bibliothek zu ordnen«, hielt Magda dagegen.
»Ja, aber die war auch in einem chaotischen Zustand, als ich ins Spiel gekommen bin! Dieses Mädchen war ein Jahr lang Edgars aide de bureau, und wie man vermuten darf, hielt sie seine Papiere schon die ganze Zeit in Ordnung. Ich glaube –« Sie holte tief Luft.
»Was glaubst du?« Magda wartete, aber, plötzlich verunsichert, blieb Rachel stumm. »Ich weiß«, sagte Magda und beugte sich vor. »Du glaubst, sie treibt da etwas, das mit dem was auch immer im Zusammenhang steht, was sie gerade über Edgar erzählen wollte und dann nicht erzählt hat.«
Rachel nickte.
»Was glaubst du, was es ist?«
Rachel nagte an ihrer Oberlippe. »Ich weiß es nicht.«
Magda schloss entnervt die Augen, öffnete sie dann aber wieder. »Nein, ist schon okay. Wir sind noch dabei, uns ein Bild zu machen. Und ich meine«, sagte sie und legte den Kopf etwas schief, »wir stellen uns schon gar nicht so schlecht dabei an. Mathildes mangelnde Anwesenheit ist verdächtig; Elisabeths ständige Anwesenheit ist verdächtig. Zwei Verdächtige.«
»Und nicht zu vergessen, Catherine«, fügte Rachel hinzu. »Auch wenn die Indizien gegen Elisabeth und Mathilde mittlerweile über Rosé und Gesichtsausdrücke hinausgehen, dürfen wir ihre sehr praktische Erbschaft nicht vergessen.«
»Nein, wirklich.« Magdas Augen begannen, Funken zu sprühen. Sie lächelte Rachel zu. »Tut mir leid, dass ich schnippisch war. Selbst ohne David, würde ich sagen, kommen wir sehr gut voran.«