Catherine Nadeau rief an. Rachel hatte fest damit gerechnet. Während des Eröffnungs-Smalltalks wurde ihr bewusst, wie wenig Lust sie hatte, sich wie lange auch immer die Konversation der letzten Eroberung ihres Exlovers anzuhören. Aber Catherine sollte keine neue Freundin werden, brachte sie sich in Erinnerung. Sie war eine Verdächtige. Also verabredete sie sich mit ihr für den folgenden Nachmittag auf einen Drink.
***
Paris besitzt viele Kaufhäuser, aber nur drei, die man als den Gipfel des Luxus bezeichnen könnte: die Galeries Lafayette, Printemps und Le Bon Marché. Gewöhnliche Sterbliche können sich in den Galeries Lafayette viele Dinge leisten, und sie können sich ein paar bei Printemps leisten. Wenn sie sehr knauserig leben, können sie sich im Bon Marché eine Tasse Kaffee leisten. Es ist das schickste Kaufhaus von Paris und das Shopping-Ziel der schicksten Einwohner von Paris. Es war außerdem der Ort, an dem Catherine sich mit Rachel treffen wollte.
Das glasüberdachte Atrium des Bon Marché ist ein Fest für die Sinne. Von einer Masse exklusiver Kosmetikfirmen besiedelt, deren Auslagen ein Pfauenrad von Lidschatten und Lippenstiften schlagen, funkelt es voll exotischer Verheißung. Jahrelang immer wieder abgegebene Spritzer von verschiedenerlei Parfüms haben ihm einen tiefsitzenden Duft nach Zucker und Moschus geschenkt – jeder Atemzug lässt einen gleichzeitig an warme Plätzchen und mächtige Frauen denken. Rachel atmete tief ein, während sie auf dem Weg zu den Jugendstil-Rolltreppen das Atrium durchquerte, und ihr wurde wehmütig ums Herz, als sie die Kosmetik-Verkaufstheken mit ihrem tröstlichen Glamour unter sich zurückweichen sah. Lebt wohl, Tabernakel der Schönheit!, dachte sie, während sie sich über den Kreis von glitzernden Theken erhob. Lebt wohl, ihr Visionen unerschwinglichen Frauseins! Ihr Gesichtsfeld stieg höher und höher, bis vor ihr, an einem Tisch in der Rose Bakery, Catherine erschien.
»Ich hab Ihnen einen Bellini bestellt«, sagte Catherine, nachdem sie Küsschen getauscht hatten. »An einem Freitagnachmittag kann man nichts anderes trinken.«
Rachel sagte nicht, dass sie sich aus Bellinis nichts machte oder sich weit lieber selbst ein Getränk ausgesucht hätte. Stattdessen lächelte sie strahlend. »Sie sind eine Hellseherin!«
Der Kellner brachte ihre Drinks. Rachel wartete, bis er wieder gegangen war, und ordnete dann ihre Gesichtszüge zu einer teilnahmsvollen Miene. »Und, wie geht es Ihnen?«
Catherine seufzte. »Ça va.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Das Geschäft hält mich auf Trab. Und ich versuche, mein Leben nach dieser großen Veränderung neu zu begreifen. Versuche mich zu erinnern, was es bedeutet, eine alleinstehende Frau, eine alleinstehende berufstätige Frau zu sein.« Sie blickte tragisch. »Wer bin ich jetzt?«
Rachel verdrehte innerlich die Augen. Catherine konnte sich wirklich nicht erinnern, wer sie vor zwei Jahren gewesen war?
Und tatsächlich, als würde ihr ihr eigenes Selbstmitleid bewusst, schwenkte Catherine ihre Aufmerksamkeit prompt auf Rachel. »Aber wie geht es Ihnen?«
»Mir?« Rachel war von der Frage überrascht. »Gut. Ich hab viel zu tun.«
»Noch immer mit Edgars Bibliothek beschäftigt?«
Sie nickte.
»Und wie läuft’s?«
»Ich komm voran. Langsam.«
»Aber Sie können sich bestimmt gut konzentrieren, so ganz allein in der Wohnung. Es gibt keine Ablenkungen.« Catherine nahm wieder einen Schluck. »Oder kommt der Butler zum Schwatzen vorbei?«
»Fulke? Nein.« Rachel schüttelte den Kopf. »David kommt allerdings gelegentlich zum Plaudern. Er ist schon eingezogen«, erklärte sie.
»Natürlich.« Catherine machte ein leicht gelangweiltes Gesicht.
»Natürlich?« Wieder war Rachel überrascht. »Warum natürlich?«
»Er hat ja sonst keine Bleibe.« Catherine sagte das so, als sei es allgemein bekannt.
»Wie bitte?« Jetzt war Rachel sogar noch überraschter, versuchte allerdings, es nicht zu zeigen. »Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es sage.« Catherine zuckte mit den Schultern. »Er musste seine Wohnung räumen. Edgar hat es mir erzählt. Ich weiß nicht, wie es dazu kam. Edgar sagte was von Mietrückständen, aber an die Details kann ich mich nicht erinnern. So viel weiß ich allerdings, dass er bei irgendwelchen Freunden untergekommen war; er schlief bei ihnen auf der Couch.« Sie betupfte sich die roten Lippen mit der Serviette, sichtlich nicht sonderlich interessiert. »Funktioniert der Haushalt trotzdem reibungslos, obwohl er eingezogen ist? Sie haben keine Klagen vonseiten des Personals gehört?«
Was für Personal? Wovon redete die Frau? Gab es etwa weitere Leute, von denen Rachel wissen, die sie befragen sollte?
»Na ja«, sagte sie, »natürlich ist es eine schwierige Situation. Alle sind traurig, aber sie scheinen sich insgesamt gut zu halten.« Sie ließ Catherine Gelegenheit, nach einzelnen Personen zu fragen und damit die Namen möglicherweise unbekannter Hausangestellten zu verraten, aber als Catherine lediglich einen weiteren Schluck von ihrem Bellini nahm, versuchte Rachel, ihre Aufmerksamkeit dorthin zurück zu lenken, wo sie sie haben wollte. »Und Sie? Wie geht es Ihnen? Schließlich haben Sie den Mann verloren, den Sie liebten. Und das«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu, »wiegt alles Geld der Welt nicht auf.«
»Stimmt.« Catherine sah eine Sekunde lang angemessen traurig aus. Dann: »Aber ich hatte ihn ja nicht so lang wie David oder Mathilde gekannt, oder auch nur so lang wie Fulke! Sie müssen doch alle, sogar der Diener, nervös und verunsichert sein.«
Was würde sich Fulke freuen, sich als »der Diener« tituliert zu hören! Und wenngleich Catherines Ton unbeschwert klang, war das, was sie sagte, zu pointiert, um beiläufig gesagt worden zu sein. Wer versuchte hier eigentlich wen auszuhorchen? Wieder parierte Rachel.
»David scheint es gutzugehen. Und für Fulke, glaube ich, ist es eine Frage der Professionalität, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Wie es Mathilde geht, weiß ich nicht.« Das entsprach soweit alles der Wahrheit. Interessant allerdings, dass sie nicht nach Elisabeth gefragt hatte.
»Und die Polizei hat den Todesfall zu den Akten gelegt?«
»Die Polizei?« Rachel war überrascht und verwirrt. »Ich wusste nicht, dass sie eingeschaltet worden war.« Bedeutete das, dass die Polizei allmählich kapierte, was passiert war? Sie fragte sich, wie Magda wohl auf diese Neuigkeit reagieren würde. Würde sie dafür sein, ihre bisherigen Erkenntnisse an die Gesetzeshüter weiterzugeben?
Aber Catherine schüttelte schon den Kopf. »Nein, nein, mein Fehler.« Sie stieß ihr glashelles Lachen aus. »Ich dachte, die Polizei würde bei jedem Todesfall benachrichtigt werden, aber jetzt erinnere ich mich, dass das bei Todesfällen zu Haus nicht erforderlich ist.« Sie lachte noch einmal, gleichsam über ihre eigene Dummheit, aber ihre Augen beobachteten Rachel aufmerksam, und eine Sekunde lang sah sie enttäuscht aus. Angriff abgewehrt, dachte Rachel. Sollte sie es ruhig noch mal probieren; vielleicht würde sie beim vierten Vorstoß mehr verraten, als sie herauszufinden versuchte.
Catherine probierte es allerdings nicht wieder. Vielleicht war ihr klargeworden, dass sie ihr Ziel, wo auch immer es liegen mochte, so nicht erreichen würde, oder vielleicht hatte sie auch nur die Lust verloren, es weiter zu versuchen; jedenfalls warf sie einen Blick auf ihr Silberscheibchen von Uhr und sagte: »Jetzt muss ich aber. Ich treffe mich mit einem Lieferanten wegen ein paar neuer Produkte.«
»Ach.« Rachel hielt Ausschau nach dem Kellner. »Sollen wir die Rechnung verlangen?«
Abermals lächelte Catherine ihr rotes Lächeln. »Ach, lassen Sie mich bezahlen.«
»Sicher?« Rachel hatte ihre Hand schon am Portemonnaie.
»Absolut. Gar kein Problem. Ist mir ein Vergnügen.«
***
»Du kannst Bellinis nicht ausstehen.« Der Handylautsprecher ließ Magdas Stimme verschwimmen.
»Stimmt.« Rachel war kurz angebunden. »Das meinte Alan auch, als ich ihm davon erzählt habe. Danke, dass ihr mich beide daran erinnert.«
»Du hast Alan erzählt, dass du dich mit Edgars Freundin auf einen Drink getroffen hast?«
»Erzählt habe ich ihm, dass ich von einer der anderen Begünstigten zwecks Austauschs von Erinnerungen zu einem Drink eingeladen worden war. Worüber wir gesprochen haben, habe ich ihm nicht erzählt. Irgendwelche Einwände?« Dann riss sie sich zusammen. Sie brauchte ihren frustrierenden Nachmittag nicht an Magda auszulassen. »Tut mir leid.« Sie öffnete den Kühlschrank und holte den Rest der crème caramel vom Vorabend heraus.
»Schon okay.« Rachel hörte, dass Magda einen Schluck irgendwas trank. »Und wie war sie, alles in allem?«
Rachel schnitt sich eine wackelige Scheibe Eiercreme ab. »Ich glaube, wir sollten sie in der Liste der Verdächtigen weiter nach oben setzen.«
»Was? Wieso?« Magda hatte eine Fehlanzeige erwartet.
»Weil sie ihrerseits darauf aus war, mich auszuhorchen. Sie hat alle möglichen Suggestivfragen gestellt. Es schien sie sehr zu beschäftigen, ob Edgars Tod irgendwelche Turbulenzen in der Wohnung verursacht hatte. Sie sehr zu beschäftigen. Sie fragte mich, ob die Polizei gekommen sei.«
»Was?«
Rachel nickte, erinnerte sich dann, dass Magda sie nicht sehen konnte. »Ja. Sie hat dann versucht, das wieder auszubügeln, aber es hat nicht funktioniert. Ich halte sie für keine Meisterin der subtilen Gesprächsführung.«
Als Magda einatmete, rauschte es in der Leitung. »Wiederhol mir, was ihr beide jeweils genau gesagt habt.«
Rachel referierte das Gespräch. Eingedenk Magdas Anfangsverdachts gegen David verschwieg sie ihr, was sie über seine Unfähigkeit, seine Miete zu bezahlen, erfahren hatte. Sie wusste, dass Magda behaupten würde, sein Geldmangel sei Beweis dafür, dass er Drogen nahm, und verlangen, dass sie auch ihn ganz nach oben auf die Verdächtigenliste setzten – und da sie nicht gehört hatte, wie der erwachsene David über Edgar sprach, würde sie nicht begreifen, wie lächerlich die Vorstellung war, er könnte seinen Vater ermordet haben. Besser, sie sparte sich die ermüdende Diskussion und Erklärung und stellte die wirklich relevanten Informationen, die sie von Catherine erhalten hatte, in den Mittelpunkt. Sie beendete ihr Referat mit Catherines offensichtlich unwahrer Behauptung, sie habe noch eine andere Verabredung.
»Gott!«, sagte Magda, als Rachel fertig war. »Subtilität ist wirklich nicht ihr Ding. Es sei denn … es sei denn, sie kann nicht subtil sein, weil sie verzweifelt ist. Angst hat, jemand könnte wissen, was sie getan hat.«
»Aber was hat sie getan?«, fragte Rachel gereizt.
»Das ist die Frage.« Magda klang nachdenklich, und irgendwie wusste Rachel im Voraus, was sie gleich sagen würde. »Wir werden sie eben im Auge behalten müssen.«