Der Job der Detekteuse erweist sich als äußerst frustrierend, dachte Rachel, während sie am Montagmorgen über den Pont Neuf ging. Wo blieb das Schnüffeln, Spurenlesen, wo das Kopfeinziehen und Um-die-Ecke-Spähen? Wo blieben die berühmten Durchbrüche? Schon waren seit Edgars Tod zwei Wochen vergangen, und sie hatten nichts als sich den Mund fusselig geredet und ein paar Theorien. Es war wirklich kein bisschen so wie in den Büchern und im Fernsehen versprochen.
Aber nach einer Stunde in der Bibliothek waren ihr seltsames Treffen mit Catherine und ihr frustrierendes Gespräch mit Magda vergessen. Das Sortieren der Bücher erforderte Konzentration, aber nicht viel Nachdenken, und im halbhypnotischen Zustand, den dies induzierte, leerte sich ihr Geist und wurden ihre Sinne wacher. Ohne Absicht begann sie, die Zeit nach Geräuschen zu bestimmen, von denen sie bislang nicht mal gewusst hatte, dass sie sie wahrnahm: dem Klimpern der Tasse und Untertasse, die auf ihrem Tablett hereingetragen wurden, dem leisen Zuschnappen einer Tür irgendwo um Punkt elf, dann noch einmal um Punkt elf Uhr dreißig. Sobald sie sich dieses Zuschnappens bewusst war, begriff sie, dass es von jemandem verursacht werden musste, der aus dem Haus ging und dann wiederkam. Da Elisabeth vor ihr kam und nach ihr ging, und da David, wenn er kam oder ging (was ohnehin nie vor Mittag geschah), immer laut mit der Tür knallte, gelangte sie mit Hilfe des Ausschlussverfahrens zu dem Ergebnis, dass die Schnappgeräusche zu Fulke gehören mussten, der täglich einkaufen ging und zurückkam. Sie würde es Magda niemals erzählen, aber die Tatsache, dass sie diese Dinge unbewusst bemerkt und dann blitzschnell in einen Zusammenhang gebracht hatte, sprach für sie dafür, dass sie die geborene Ermittlerin war. Da war sie doch ein bisschen stolz.
***
Am Freitagvormittag ihrer vierten Woche in der Bibliothek wurde die Stille durch zwei Stimmen unterbrochen. Als sie gekommen war, hatte Fulke ihr mitgeteilt, dass David seit dem Vorabend noch nicht wieder heimgekehrt sei, und die Tür war schon einmal zugeschnappt, also wusste sie, dass die Stimmen weder dem Butler noch dem Hausherrn gehören konnten. Und überhaupt waren das keine Männerstimmen. Sie spürte, dass ihr Herz schneller schlug; ihr angeborener Ermittlerinneninstinkt sagte ihr, dass sie lauschen sollte. Sie legte den Atlas aus dem 18. Jahrhundert, den sie ins Regal zu wuchten versucht hatte, wieder hin und schlich sich leise an die Tür. Mit angehaltenem Atem presste sie das Ohr an das Holz.
»Wie ich schon sagte, ich bin hier, um ein paar Dinge mitzunehmen«, kläffte eine Stimme, die sie augenblicklich als Mathildes erkannte.
Die einzige Erwiderung war ein unverständliches Gemurmel.
»Nippes!«, sagte Mathilde. »Dinge von lediglich ideellem Wert.«
Mehr Gemurmel.
»Ich wünsche nicht, dass Sie sie für mich holen. Ich will sie mir selbst holen. Sie haben eine persönliche Bedeutung.«
Rachel konnte die andere Stimme nach wie vor nicht verstehen, aber Mathildes Entgegnung ließ erschließen, was sie gesagt haben musste.
»Natürlich bin ich befugt! Ich bin seine Ehefrau!«
Nichts, dann weiteres Murmeln.
Mathilde rief aus: »Wie können Sie es wagen! Wie können Sie? Ich muss ins Arbeitszimmer!« Ihre Stimme klang empört, aber auch knallhart: Was auch immer sie wollte, sie würde keinen Widerspruch dulden.
»Sie dürfen dort nicht hinein, Madame!« Plötzlich sprach die zweite Stimme sehr laut, wie oft bei schüchternen Menschen zu beobachten, wenn sie sich erst einmal dazu aufgerafft haben, mutig zu sein. Wie Rachel schon vermutet hatte, gehörte dieses bibbernde, fast schreiende Organ Elisabeth. Als sie weitersprach, klang sie ruhiger. »Wie ich Ihnen gerade erklärt habe, lauteten Monsieur Bowens Anordnungen, dass niemand das bureau betreten darf, bis ich damit fertig bin und Monsieur Bowens Papiere geordnet habe. Anschließend dürfen andere sie einsehen.«
»Andere.« Mathilde brachte es fertig, das Wort wie die schlimmste rassistische Verunglimpfung klingen zu lassen. »Ich bin nicht ›andere‹. Ich bin ein Familienmitglied.«
»Es tut mir leid, Madame.« Elisabeths Stimme zitterte. »Ich kann Monsieur Bowens Anweisungen nicht zuwiderhandeln. Sie standen in seinem Testament. Ihnen Zutritt zum Arbeitszimmer zu gewähren, wäre ein Gesetzesverstoß.«
Elisabeth klang entschlossen, aber auch ängstlich. Alles in allem wirkte der Wortwechsel tatsächlich nicht wie ein Kampf unter Ebenbürtigen. Rachel wusste aus Erfahrung, dass mit Entschlossenheit jedem Misstrauen beizukommen war, wie standhaft der oder die Misstrauische nun auch zu sein sich vornehmen mochte. Ebenso wusste sie, dass sie außerhalb der Bibliothek mehr erfahren konnte als in ihr. Und sie wusste außerdem, dass sie es nicht viel länger schaffen würde, so regungslos dazustehen. Sie stieß die Tür so energisch auf, dass sie mit Sicherheit mit einem Knall gegen die Wand schlagen und ihre Anwesenheit ankündigen würde.
Mathilde und Elisabeth standen im Eingangsbereich, ungefähr zehn Meter von Rachel entfernt. Elisabeth hielt die Arme vor der Brust verschränkt, wie um deutlich zu machen, dass sie nicht wanken und nicht weichen würde. Mathilde, die ihren Kamelhaarmantel noch anhatte, stand mit dem Rücken zu Rachel, aber auch so beherrschte sie mit ihrer starren Haltung die Szene.
»Dachte ich mir doch, dass ich Stimmen gehört hatte!« Ihre eigene füllte Rachel mit harmloser Munterkeit. »Mathilde, was für eine Freude, Sie hier zu sehen! Wir waren uns seit Jahren nicht begegnet, und jetzt gleich zweimal binnen weniger Wochen. Was für ein glücklicher Zufall! Sie müssen unbedingt in die Bibliothek kommen und eine Tasse Tee trinken.« Sie trat einen Schritt beiseite, damit das Chaos im Zimmer sichtbar wurde. »Oder wollten Sie gerade gehen?«
Mathilde lächelte eisig. »Bonjour, Rachel.« Sie sprach mit ruhiger Stimme, aber Rachel sah Anspannung in ihren Augenwinkeln. Ihr Blick registrierte den Zustand der Bibliothek, und sie wandte den Kopf mit einem angewiderten Schauder ab, der gerade klein genug war, um instinktiv zu erscheinen, aber auch sichtbar genug, um absichtlich zu sein. »Ich wollte eigentlich ein paar bibelots einpacken, aber wie es aussieht, sind sie nicht da, wo ich sie vermutete. Ich werde ein anderes Mal wiederkommen.« Sie zog den Gürtel ihres Mantels straffer, machte auf dem Absatz kehrt – das erste Mal, dass Rachel diese Aktion tatsächlich real ausgeführt sah – und verschwand.
Sobald sich die Tür hinter Mathilde geschlossen hatte, ließ Elisabeth die Arme fallen. »Danke.«
»Nicht der Rede wert.« Rachel lächelte dem Mädchen zu. »Sie ist eine schwierige Frau. Ich weiß.«
Elisabeths Unterlippe fing an zu zittern, und sie bekam nasse Augen. Da es taktvoll oder zumindest klug erschien, zog sich Rachel in die Bibliothek zurück und hob den Atlas wieder auf. Erst später wurde ihr bewusst, dass Elisabeths Zustand eine perfekte Gelegenheit geboten hätte, ein paar weitere Informationen zutage zu fördern. Ihre detektivischen Instinkte mochten angeboren sein, überlegte sie, aber ihnen fehlte der Schliff. Noch.
***
»Oje«, sagte Magda. Sie hatten in der Buchhandlung Gibert Joseph Zeitschriften nach Ideen durchgeblättert, was Rachel zum bevorstehenden Bal Rouge tragen könnte, aber jetzt schlug sie ihre Vogue zu und konzentrierte sich ganz auf Rachel. »Oje«, wiederholte sie.
»Ich weiß, okay?«
Ein Mann, der sich im nächsten Gang Skimagazine ansah, drehte sich um.
»Brüll nicht so!« Magda wartete, bis er seine ungeteilte Aufmerksamkeit wieder dem Skieur zugewandt hatte. »Offensichtlich gibt es etwas in dieser Wohnung, was Mathilde haben will.«
»Und zwar ganz schön haben will«, fügte Rachel hinzu.
»Belastendes Material!« Magdas Stimme war voller Freude.
»Ja.«
»Persönliche Dinge? Fotos? Dokumente?«
»Vermutlich irgendwas davon.«
»Und Edgar wollte, dass dieses Etwas geschützt oder versteckt wird«, sagte Magda. »Aber was davon? Und vor wem?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und Elisabeth soll es verschwinden lassen? Es mitnehmen, aber aufbewahren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und warum will Mathilde es haben?«
Rachel seufzte. »Ich weiß es nicht. Wir können es gar nicht wissen. Wir können nicht einmal wissen, was es ungefähr sein könnte, weil wir nicht einmal ungefähr wissen, was ihr wichtig ist – was sie verstecken oder mitnehmen wollen könnte.« Ihr Flüstern wurde zu einem Zischen. »Weil wir sie nicht kennen.«
»Wir lernen sie allmählich kennen. Wir sind dabei, uns ein Bild zu machen.«
»Ich weiß. Es ist nur …« Rachel sackte leicht in sich zusammen. »Mir ist nicht klar, wie wir damit je zurande kommen sollen. Wir sind nicht die Polizei; wir sind keine ausgebildeten Ermittlerinnen. Wie sollten wir mehr Informationen über Verdächtige sammeln können? Wir wissen doch gar nicht, wie man das macht. Wie machen das die Leute? Wie sollen wir bitteschön irgendwas erreichen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir irgendwas erreichen.«
»Das ist eine äußerst negative Betrachtungsweise.« Magda klang so, als habe man sie persönlich angegriffen. »Das ist eine Chance. Eine Chance, unsere investigativen Fähigkeiten zu vervollkommnen.«
»Immer angenommen, wir haben überhaupt welche.«
»Sei nicht albern!« Sie legte die Zeitschrift ins Regal zurück und sah Rachel an. »Ich spüre, dass wir auf etwas gestoßen sind. Du bist kreativ; dir wird schon was einfallen.« Sie raffte ihren Mantel enger um sich.
»Du gehst?« Rachel war empört.
»Ich hab meiner Mutter versprochen, sie anzurufen, und in Jamaika ist es jetzt neun. Du weißt doch, wie jamaikanische Mütter sind.«
Rachel wusste zwar nicht, wie jamaikanische Mütter waren, aber sie wusste, wie Magdas jamaikanische Mutter war. Wenn man ihr sagte, man würde an dem und dem Tag anrufen, erwartete Mrs Stevens vom Telefon, dass es zum frühestmöglichen zivilisierten Zeitpunkt klingelte.
Nachdem Magda gegangen war, blätterte Rachel noch ein paar Minuten lang in der Elle, ohne richtig hinzusehen. Im Fernsehen sagten die Polizisten ständig: »Ich werd mit meinen Informanten reden«, und jeder literarische Schnüffler schien über ein Netzwerk von sorgsam gepflegten Kontakten oder Dorfklatschbasen zu verfügen, die ihm im Bedarfsfall weiterhalfen. Das Problem für eine reale Amateurdetektivin war ihr völliger Mangel an solchen Insiderinformationen. Kein Wunder, dass keines ihrer fiktionalen Vorbilder beruflich noch ganz am Anfang stand: Ohne Kontakte war man aufgeschmissen.
Plötzlich klatschte sie sich innerlich gegen die Stirn. Wie konnte sie es bloß vergessen haben? Sie hatte doch eine Kontaktperson! Kiki Villeneuve. Kiki kannte jeden, den man in Paris kennen sollte, und wenn sie ihn nicht kannte, dann wusste sie über ihn Bescheid. Sie und Rachel waren mehr als zehn Jahre lang Freundinnen gewesen, aber als Kikis Mann zwei Jahre zuvor gestorben war, war sie von der Bildfläche verschwunden, hatte sich vor allen versteckt. Es war offensichtlich, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte, und Rachel, die nicht aufdringlich sein wollte, hatte sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Jetzt aber würde sie sie kontaktieren. Kiki war keine Dorfklatschbase – sie klatschte nie, wie sie zu sagen pflegte. Aber sie hamsterte Informationen und manchmal brachte sie diese Informationen unter die Leute. Rachel würde sich feinfühlig vortasten, und wenn Kiki noch immer trauerte, würde sie sich wieder zurückziehen. Aber sie brauchte eine Kontaktperson – einen Spitzel, eine V-Frau –, und Kiki war ihre einzige Bekannte, die der Stellenbeschreibung entsprach.